Nachholbedarf in der Prävention
Vier von zehn Todesfällen sind auf Rauchen, ungesunde Ernährung, Alkoholkonsum und Bewegungsmangel zurückzuführen. Der Public Health Index des AOK-Bundesverbandes und des Deutschen Krebsforschungszentrums zeigt, wie sich das ändern ließe. Er vergleicht die Präventionspolitik im 18 europäischen Ländern.
Epidemiologische Studien lösen selten große gesundheitspolitische Debatten aus. Eine Ausnahme ist die Publikation „Germanys underwhelming life expectancy“ von Forschenden des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung aus dem Jahr 2023. Sie machte einer breiten Öffentlichkeit bewusst, dass sich die Rekordausgaben für Gesundheit in Deutschland nicht in der Lebenserwartung widerspiegeln. Bezogen auf das Jahr 2019 belegte Deutschland bei der Lebenserwartung bei Geburt unter 15 betrachteten europäischen Staaten bei Männern den 14. Platz und bei Frauen den 13. Platz. Menschen in Spanien leben demnach zwei Jahre (Männer) beziehungsweise drei Jahre (Frauen) länger als der Durchschnitt der Bevölkerung in Deutschland – bei deutlich niedrigeren Gesundheitsausgaben. Noch dramatischer sind die Ergebnisse für Männer ab 65 Jahren: In dieser Gruppe schnitten sogar die USA besser ab als Deutschland.
Chronische Krankheiten sind weit verbreitet
Der wesentliche Grund ist die überdurchschnittlich hohe Krankheitslast. Jeder zweite Erwachsene ab 65 Jahren leidet hierzulande an mindestens zwei chronischen Krankheiten. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Adipositas und Typ-2-Diabetes sind die wichtigsten Ursachen für vorzeitige Todesfälle und millionenfaches Leid. Diese nichtübertragbaren Krankheiten machen laut der Weltgesundheitsorganisation etwa 80 Prozent der Todesfälle in Europa aus.
Auch der Ausblick ist besorgniserregend, wie ein Forschungsprojekt der Medizinischen Hochschule Hannover zeigt. Nach dem Jahr 1975 Geborene weisen demnach höhere gesundheitliche Beeinträchtigungen auf als die Generation davor. Dieser Trend ist in Deutschland besonders ausgeprägt. Vereinfacht gesagt: Die jungen Erwachsenen sind früher und häufiger chronisch krank als ihre Eltern-Generation. Das liegt hauptsächlich daran, dass Adipositas und Typ-2-Diabetes immer früher im Lebensverlauf auftreten. In Verbindung mit dem demografischen Wandel stellt diese Entwicklung die langfristige Stabilität unseres Solidarsystems vor enorme Herausforderungen. Anfang der 2000er-Jahre galt Deutschland wegen des schwachen Wirtschaftswachstums im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten als der „kranke Mann Europas“. Heute sind wir es im wahrsten Sinne des Wortes.
Der Blick auf die Diagnosen ist allerdings nicht hinreichend, um wirksame Gegenmaßnahmen zu identifizieren. Wir müssen die zugrunde liegenden Ursachen und Risiken betrachten. Die „Global Burden of Disease-Studie“ ermöglicht das. Für Deutschland zeigt sich: Ein großer Teil der Krankheitslast lässt sich auf einige wenige, verhaltensbezogene Risikofaktoren zurückführen. Bei etwa vier von zehn Todesfällen spielen Rauchen, Alkohol, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel eine Schlüsselrolle.
Umgebung prägt das Gesundheitsverhalten
Eine Analyse der Deutschen Krankenversicherung und der Deutschen Sporthochschule Köln kam zu dem Ergebnis, dass nur etwa zwei Prozent der Menschen in Deutschland alle Kriterien für einen durchgängig gesunden Lebensstil erfüllen. Doch warum gelingt es nur so Wenigen, ein gesundes Leben zu führen? Die Public-Health-Forschung hat diese Fragestellung ausgiebig untersucht. Die wohl wichtigste Erkenntnis: Das Gesundheitsverhalten ist viel stärker von Umgebungen und Lebenswelten geprägt, als uns das im Alltag bewusst ist. Was wir essen, wie viel Alkohol wir trinken, ob wir als Jugendliche anfangen zu rauchen und wie lange wir dabeibleiben oder wie viel Bewegung wir in unseren Alltag integrieren – all das hängt in hohem Maße von den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ab.
Wenn gesundheitsschädliche Güter wie Tabak, Alkohol oder ungesunde Lebensmittel in unserem Alltag allgegenwärtig sind, reichweitenstark beworben werden und zu günstigen Preisen jederzeit verfügbar sind, nehmen wir im Schnitt mehr davon zu uns. Wenn die Radwege baufällig oder gar nicht vorhanden sind, nehmen wir seltener das Fahrrad und bewegen uns dadurch im Alltag weniger. Das klingt banal. Doch wer präventionspolitische Diskussionen verfolgt, wird feststellen: Die Umgebungsfaktoren werden in aller Regel unterschätzt und stattdessen die individuellen Fähigkeiten überbetont. Nicht selten ist das Fazit, dass die individuelle Gesundheitskompetenz der Hauptgrund für die hohe Krankheitslast sei. Doch das Kernproblem ist meines Erachtens die mangelnde Gesundheitskompetenz in der Politik – sie schaut zu wenig auf die gesundheitlichen Rahmenbedingungen. Um eine gesündere Bevölkerung zu erreichen, muss das gesunde Verhalten im Alltag leichter gemacht werden: Es muss günstiger, einfacher verfügbar und attraktiver werden. Diese Strategie erreicht alle sozioökonomischen Gruppen und ist geeignet, gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern.
Index liefert europäischen Vergleich
Wie eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik gelingen kann, zeigt der neue Public Health Index (PHI) des Deutschen Krebsforschungszentrums und des AOK-Bundesverbandes. Er liefert eine systematische Analyse, die ungenutzte Potenziale aufzeigt und europäische Best-Practice-Maßnahmen herausstellt. Für den PHI hat ein interdisziplinäres Forschungsteam untersucht, welche europäischen Länder besonders viele wissenschaftlich empfohlene Maßnahmen zur Förderung gesunder Umgebungen und Lebensweisen umgesetzt haben, was die Vorreiter auszeichnet und wie Deutschland im Vergleich dazu abschneidet. Die erste Fassung des PHI bewertet das Engagement in den Handlungsfeldern Tabak, Alkohol, Ernährung und Bewegung in 18 europäischen Staaten in Nord- und Zentraleuropa. Die Ergebnisse aus den vier Handlungsfeldern fließen gleichgewichtet in das übergeordnete Ranking des PHI ein.
Der Index entstand unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Professor Peter von Philipsborn von der Universität Bayreuth (Expertise Ernährung), Assistenzprofessor Peter Gelius von der Universität Lausanne (Expertise Bewegung) und Dr. Jakob Manthey sowie Dr. Carolin Kilian vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (Expertise Alkohol). Seitens des DKFZ haben Dr. Katrin Schaller und Professorin Ute Mons mitgewirkt (Expertise Tabak).
Deutschland belegt den vorletzten Platz
Im übergeordneten Ranking belegt Deutschland Platz 17 von 18 untersuchten Staaten. In drei von vier untersuchten Handlungsfeldern – Tabak, Alkohol und Ernährung – landet Deutschland auf den hinteren Rängen, im Handlungsfeld Bewegung im unteren Mittelfeld. In der Gesamtschau zeigt sich: Deutschland erzielt insbesondere bei strukturellen Maßnahmen wie beispielsweise der gesundheitsorientierten Besteuerung, Regelungen zur Werbung und zum Marketing sowie bei der Gestaltung des Angebots und der Verfügbarkeit gesundheitsschädlicher Konsumgüter geringe Punktzahlen. In diesen Feldern werden hierzulande keine oder nur wenig ambitionierte Schritte unternommen. Diese strukturellen Maßnahmen der Verhältnisprävention versprechen wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge allerdings die größte Wirksamkeit und sind entsprechend im Ranking teilweise höher gewichtet. Der geringe Umsetzungsstand ausgerechnet bei den potenziell besonders wirksamen und hoch gewichteten Maßnahmen trägt wesentlich zum schlechten Abschneiden Deutschlands bei.
Großbritannien, Finnland und Irland sind Spitzenreiter im Gesamtranking. Großbritannien sticht heraus durch eine ambitionierte Ernährungs-, Tabak- und Bewegungspolitik, Finnland überzeugt in der Alkohol- und Ernährungspolitik und Irland nimmt den Spitzenplatz in der Tabakpolitik bei gleichzeitig guten Ergebnissen in den drei übrigen Handlungsfeldern ein.
WHO empfiehlt umfassende Maßnahmen
Zur Eindämmung des Tabakkonsums empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter anderem höhere Preise, die Ausweitung rauchfreier Umgebungen und Werbeverbote. Die Spitzenreiter im Handlungsfeld Tabak – Irland, Großbritannien und Frankreich – zeichnen sich dadurch aus, dass sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse in ehrgeizige politische Maßnahmen überführen: unter anderem durch höhere Preise, weiträumige Nichtraucherzonen, neutrale Verpackungen ohne Markenlogos und umfassende Werbeverbote. Einer aktuellen Studie des Robert-Koch-Instituts zufolge geht ein höherer Gesamtwert in der Tabakkontrollskala mit einer niedrigen Raucherprävalenz einher. Großbritannien und Irland gehörten in einer Studie der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2020 zu den Ländern mit den niedrigsten Raucherquoten in Europa. Frankreich wies in dieser Studie zwar eine überdurchschnittliche Raucherquote (28 Prozent) auf, allerdings war der Trend rückläufig.
Zur Verringerung des Alkoholkonsums empfiehlt die WHO vorrangig höhere Steuern auf alkoholische Getränke, Begrenzungen der zeitlichen Verfügbarkeit und umfassende Werbeverbote. Die Spitzenreiter im Bereich Alkohol – Norwegen, Finnland und Schweden – haben diese wissenschaftlichen Erkenntnisse wirksam umgesetzt: unter anderem durch höhere Preise, Beschränkungen der zeitlichen Verfügbarkeit, weitreichende Werbeverbote und zum Teil durch ein auf 20 Jahre heraufgesetztes Mindestalter. Internationale Vergleichsdaten dokumentieren, dass diese Strategie funktioniert. Der OECD zufolge gehören Norwegen, Finnland und Schweden zu den Ländern mit dem niedrigsten Gesamtalkoholkonsum in Europa. Dänemark hat in Skandinavien die laxesten Regelungen und zugleich den höchsten Alkoholkonsum.
Fachgremien plädieren für Maßnahmen-Mix
Zur Förderung gesunder Ernährung muss gesundes Essen leicht zugänglich, erschwinglich und attraktiv sein. Entsprechend wurden für den neu entwickelten Ernährungspolitik-Index sechs Maßnahmen untersucht, die an den Ernährungsumgebungen ansetzen. Der Spitzenreiter im Handlungsfeld Ernährung – Großbritannien – hat vier der sechs untersuchten Maßnahmen umgesetzt: Eine Hersteller-Abgabe für gezuckerte Softdrinks, Beschränkungen der Werbung für Ungesundes, Mindeststandards für das Schulessen und Regelungen für sonstige Essensangebote an Schulen. Die Zweitplatzierten – Finnland, Frankreich, Lettland und Polen – haben drei der sechs untersuchten Maßnahmen umgesetzt. Eine zunehmende Zahl von Studien zeigt, dass Mindeststandards der Schulverpflegung und die Besteuerung von Softdrinks die Ernährung positiv beeinflussen und die Häufigkeit von Übergewicht oder Adipositas verringern können. Gleichzeitig bleibt der Effekt von Einzelmaßnahmen immer begrenzt – weshalb Fachorganisationen unisono für einen Maßnahmen-Mix plädieren.
Weniger Unterschiede bei der Bewegung
Zur Förderung körperlicher Aktivität lässt sich auf Basis der aktuellen Datenlage keine so eindeutige Priorisierung von Maßnahmen ableiten wie in den anderen Handlungsfeldern. Dafür ist dieses Feld zu sehr von weichen Faktoren geprägt. Die Spitzenreiter im Handlungsfeld Bewegung – Großbritannien, Dänemark und Frankreich – heben sich zudem weniger stark ab als in den anderen Handlungsfeldern. Selbst die Schlusslichter haben die Mehrzahl der untersuchten Maßnahmen umgesetzt. Insbesondere für Maßnahmen im Bereich schulbasierter Programme und Angebote sowie für eine bewegungsfreundliche Verkehrspolitik belegen Studien die Wirkung auf der Bevölkerungsebene.
Spitzenreiter befolgen WHO-Empfehlungen
Eine bemerkenswerte Erkenntnis aus dem PHI ist das schwache Abschneiden von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Diese drei Länder erreichen in keinem Handlungsfeld das obere Mittelfeld. Im starken Kontrast dazu erzielen Großbritannien, Irland und Skandinavien (mit Ausnahme von Dänemark) überdurchschnittlich gute Ergebnisse. Sie dominieren den PHI in allen Handlungsfeldern. In Großbritannien, Irland und den nordischen Ländern ist die Präventionspolitik stärker an den wissenschaftlich fundierten WHO-Empfehlungen zur Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten ausgerichtet. Diese Staaten haben umfassende Regelungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen etabliert. Sie besteuern gesundheitsschädliche Produkte stärker und preisen damit die gesellschaftlichen Folgekosten teilweise ein.
Während eine wachsende Zahl von Ländern bereits die erste rauchfreie Generation anstrebt, diskutiert man in Deutschland über ein Rauchverbot im Auto, wenn Kinder mitfahren. In Norwegen ist Werbung für Alkohol landesweit untersagt, während hierzulande hochprozentige Spirituosen öffentlich beworben werden. Großbritannien fördert die gesunde Ernährung mit umfangreichen Maßnahmen, während die Politik hierzulande vorrangig auf unverbindliche Empfehlungen für die Ernährungsindustrie setzt.
Gesundheitsförderliche Politik ist erwünscht
Repräsentative Umfragen belegen eine breite Mehrheit für viele der diskutierten Regelungen. Beispielsweise befürworten immerhin 63 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger höhere Steuern auf Tabak und Alkohol (IKK classic, 2025), 68 Prozent sprechen sich für ein Werbeverbot für Alkohol aus (DKFZ, 2023) und 74 Prozent wollen keine ungesunde Quengelware an Supermarktkassen (DKFZ, 2023).
Mit Blick auf die gefährdete Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und die hohe volkswirtschaftliche Belastung ist das politische Zögern kaum noch nachzuvollziehen. Die langfristige Stabilisierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität sind Ziele aller Parteien. Eine Senkung der Krankheitslast hätte diesbezüglich große Effekte. Schon eine Verringerung ungesunden Konsums um zehn Prozent und eine Steigerung der Alltagsbewegung um wenige Minuten könnten Milliardenpotenziale freisetzen. Der Public Health Index kann helfen, diese Ziele zu erreichen. Die Veröffentlichung einer zweiten Version ist für 2027 vorgesehen.
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