Interview Gesundheitssystem

„Wir müssen Ethik interdisziplinär verankern“

17.11.2023 Martina Merten

Vor rund zehn Jahren gründete Vina Vaswani das erste Medizinethik-Zentrum in Indien. Die Direktorin der Einrichtung erläutert die Hintergründe und die Entwicklung.

Foto: Illustration eines Stethoskops, das um einen Kompass gewickelt ist.
Medizinethische Aspekte machen an Grenzen nicht halt und spielen global eine wichtige Rolle.

Frau Professorin Vaswani, was hat sie motiviert, in Indien ein Zentrum für Medizinethik aufzubauen?

Professorin Vina Vaswani: Ich unterrichtete Ethik als Teil der Gerichtsmedizin und war überzeugt, dass die Art und Weise, wie wir Ethik verstehen, für komplexe Situationen nicht ausreicht. Im Rahmen eines Erasmus-Mundus-Stipendiums habe ich einen Master in Bioethik an drei europäischen Universitäten gemacht und mein Fachwissen in diesem Bereich verbessert.
 

Was war für Sie damals am eindrücklichsten?

Professorin Vaswani: Die Beschäftigung mit reproduktiven Rechten. Auch heute verfolge ich viele globale Debatten über Themen im Zusammenhang mit reproduktiven Rechten, zum Beispiel über Abtreibung. Die Rechte der Frauen auf reproduktive Gesundheit werden immer noch nicht berücksichtigt. In meinem Land, wie auch in vielen anderen Ländern, entscheiden Männer darüber, ob eine Frau abtreiben darf – nicht die Frau, die neun Monate lang das Kind in sich trägt. Ich habe auch untersucht, welche Regeln Länder anwenden, um die Fortpflanzung zu erleichtern. Interessanterweise gibt es in den Ländern, die sich gegen die Abtreibung aussprechen, keine ethischen Erwägungen, nur religiöse. Interessant für mich war auch, wie Teilnehmer von Forschungsprojekten ausgewählt und informiert werden. In Ländern der Dritten Welt haben Studienteilnehmer häufig kein Mitspracherecht, und viele von ihnen wissen nicht einmal, dass sie an einer Studie teilnehmen. Das alles brachte mich erneut zum Nachdenken über die Bedeutung der Ethik. Ich beschloss: Wir müssen die Ethik in Indien in medizinische Fächer einbauen und interdisziplinär verankern. Und wir müssen Medizinethik als Master-Studiengang anbieten.
 

Wie kam Deutschland ins Spiel?

Professorin Vaswani: Ich hatte Professor Norbert Paul, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, auf einer Tagung kennengelernt. Die Zusammenarbeit mit ihm verliehen meinen Ideen Flügel. Er bot mir an, mit seinem eigenen Forschungsstipendium nach Indien zu kommen und beim Aufbau des Zentrums und des Kurses selbst zu helfen. Paul lud uns im Gegenzug nach Mainz ein, damit wir noch mehr über den Aufbau und die Art, wie dort Ethik gelehrt wurde, lernten. Später haben wir an unserer Universität mit einem Postgraduierten-Diplom in klinischer Ethik begonnen. Es finden auch Austauschprogramme statt. Bislang kamen etwa 20 Studenten aus Mainz zu uns nach Mangalore, und wir haben Postgraduierte an die dortige Universität geschickt. Dieser Transfer von Fähigkeiten und Wissen ist für uns sehr bereichernd.

Foto: Porträt von Prof. Dr. Vina Vaswani, Bioethikerin und Forensikerin, ist Gründerin und Leiterin des Zentrums für Medizinethik an der Yenepoya Universität in Mangalore, Indien.
Prof. Dr. Vina Vaswani, Bioethikerin und Forensikerin, ist Gründerin und Leiterin des Zentrums für Medizinethik an der Yenepoya Universität in Mangalore, Indien.

Kooperieren Sie auch mit anderen ausländischen Universitäten?

Professorin Vaswani: Ja, wir arbeiten mit den Vereinigten Staaten (Duquesne University, Pittsburgh) und mit Argentinien (Equipo Argentino de Antropologia Forense) zusammen. Durch die Kooperation mit Argentinien haben wir uns der humanitären Ethik, zum Beispiel bei Fragen der Identifikation von Katastrophenopfern, genähert. Wir wurden aber auch von internationalen Einrichtungen eingeladen, sei es vom Globalen Forum für Bioethik, dem Welcome Trust oder dem National Institute of Health in den USA. Sie alle erkannten an, wie viel Arbeit in die Gründung unseres Zentrums geflossen ist, und unterstützten uns. So konnten wir durch das Fogarty Grant des NIH ein Stipendienprogramm rund um den Master in Research Ethics anbieten – erstmalig in Indien.
 

Warum gerade an der Yenepoya-Universität in Mangalore?

Professorin Vaswani: Das ist eher eine persönliche Geschichte. Ich war 2003 an die Universität gekommen. Als ich das erste Mal das Tor dieser Universität durchschritt, dachte ich: Hier wird mein Platz sein. Hier kann ich mich entfalten. Dieser Gedanke trägt mich auch heute noch. Wann immer ich seitdem eine neue Idee hatte, habe ich sie der Hochschulleitung vorgetragen, die dafür offen war. Mir wurde die Freiheit gegeben, Ideen zu äußern und umzusetzen. Dr. Amar Jesani, Bioethik-Berater und Gründer des Indian Journal of Medical Ethics ermutigte uns. Mein Ansatz war: Ethik verbessert die Landschaft einer Universität und eines Individuums, Ethik ist das Gebot der Stunde.
 

Wie viele Studenten haben Sie seit der Eröffnung des Zentrums im April 2011 unterrichtet?

Professorin Vaswani: Wir haben mehr als 150 Studenten in einem Postgraduierten-Diplom in Bioethik und klinischer Ethik ausgebildet. Wir bieten auch jährliche Zertifizierungen in Forschungsethik an. Außerdem haben 35 Studierende ihren Master-Abschluss in Forschungsethik absolviert. Sie haben von internationaler Expertise profitiert. Diese Kombination aus Wissen und Erfahrung von Einheimischen, und internationalen Fachleuten war und ist eine große Unterstützung für uns. Inzwischen haben wir eine international akkreditierte Ethikkommission, die völlig unabhängig ist, und insgesamt zwölf Ethikkommissionen in anderen Bundesstaaten Indiens geschult.
 

Wurde Ihr Zentrum auch von Regierungsebene anerkannt?

Professorin Vaswani: Ja, es wird anerkannt. Der indische Rat für medizinische Forschung stellt jetzt ethische Richtlinien für Studien auf, zu denen ich selbst beigetragen habe. Auch die National Medical Commission of India, die oberste Regulierungsbehörde für die Qualitätsbewertung des Landes, hat mich als Mitglied der Arbeitsgruppe für die Entwicklung eines nationalen Ausbildungsmoduls ausgewählt.
 

Was sind Ihre nächsten Schritte?

Professorin Vaswani: In anderen Ländern gibt es ähnliche Lücken, die wir versuchen zu schließen, zum Beispiel in Nigeria, Bhutan oder Simbabwe. Wir möchten beim Aufbau ihres MSC-Ethikprogramms helfen und die Leute dort schulen. Wir sind unseren Alumni etwas schuldig. Danach wollen wir ein PhD-Programm in Bioethik und Forschungsethik anbieten.

Das Zentrum für Ethik an der Yenepoya-Universität, Indien

Das im April 2011 gegründete Zentrum für Ethik (CFE) an der Yenepoya-Universität gehört zu den 1.000 Hochschulen und Universitäten in rund 120 Ländern, die mit den Vereinten Nationen zusammenarbeiten, um globale Prioritäten wie Frieden, Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung zu fördern. Seine Vision ist, durch einen Prozess des Veränderungsmanagements und der kooperativen Führung die Bioethik in alle akademischen, klinischen und forschungsbezogenen Bereiche des Gesundheitswesens zu integrieren. Das erfolgt durch:

  • Ermutigung zur kulturübergreifenden Erforschung ethischer Praktiken und Unterstützung der Beteiligten bei der Akzeptanz jedes noch so abwegigen Standpunkts.
  • Bereitstellung einer Plattform für den interdisziplinären Dialog im Bereich der Ethik und dadurch Förderung der nationalen Werte der professionellen und ethischen Führung.
  • Erkundung der Möglichkeiten zur Durchführung von Forschungsarbeiten in verschiedenen Bereichen der Ethik und Förderung der Zusammenarbeit in der Forschung
  • Suche nach ähnlichen Zentren/Abteilungen und Eingehen von Partnerschaften für eine umfassendere Interaktion und Zusammenarbeit.

Das CFE hat den Auftrag, allen Fachleuten einen Sinn für ethische Verantwortung gegenüber ihrem Beruf, ihrer Familie und der Gesellschaft zu vermitteln und sie dadurch zu besseren Bürgerinnen und Bürgern im globalen Sinne zu machen.

Am CFE werden drei Abschlüsse angeboten:

  1. Master's in Research Ethics (MSc RE): Es handelt sich um einen zweijährigen Vollzeitkurs auf Semesterbasis, der mit der Verleihung des Master's Degree in Research Ethics abschließt. Dies ist ein einzigartiger Kurs, der zum ersten Mal in Indien angeboten wird. Dieses Stipendienprogramm wird durch ein Forschungsstipendium des Fogarty International Center, National Institutes of Health, Bethesda, USA, unterstützt.
  2. Postgraduierten-Diplom in Bioethik und medizinischer Ethik: Das Postgraduate Diploma in Bioethics & Medical Ethics (PGDBEME) ist ein einjähriger akademischer Kurs, der auf einem Kontaktprogramm basiert und durch Besuche vor Ort und Probeprüfungen ergänzt wird. Dieses Programm beginnt jedes Jahr im Januar und deckt alle Bereiche der Bioethik ab, wie beispielsweise Moral, Theorien der Ethik, Pflichtethik, Forschungsethik und klinische Ethik.
  3. Postgraduierten-Diplom in klinischer Ethik: Der sechsmonatige Certificate Course in Clinical Ethics Consultation (CCCEC), der seit November 2011 gemeinsam vom Centre for Ethics, Yenepoya University, und dem Fachbereich Philosophie, Ethik und Geschichte der Medizin, Johannes-Gutenberg-Universität, Deutschland, durchgeführt wird, wurde zu einem einjährigen Postgraduierten-Diplom in Klinischer Ethik aufgewertet. Dr. Norbert W. Paul, Professor und Direktor des Lehrstuhls für Geschichte, Philosophie und Ethik der Medizin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland, ist Gastprofessor am Zentrum für Ethik.

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