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G+G-Wissenschaft: Besonderen Bedarfen Rechnung tragen

17.11.2023 Ines Körver 4 Min. Lesedauer

Ob Rollator, Rechtschreibschwäche oder intellektuelle Retardierung: Wer bestimmte Handicaps und somit einen besonderen Versorgungsbedarf hat, fühlt sich damit im Gesundheitswesen oft alleingelassen oder überfordert. Experten mahnen Verbesserungen an.

Foto: Ein Mädchen mit Down Syndrom steht am Beckenrand eines Schwimmbeckens und lächelt in die Kamera.
Menschen mit besonderen Bedarfen werden in Deutschland immer noch unzureichend verstanden. Das muss sich ändern.

Eigentlich sollte nur ein Routineeingriff am Auge vorbereitet werden. Doch Matthias K. verstand nicht, was der Ophthalmologe von ihm wollte, und versuchte, sich dessen körperlicher Annäherung zu entziehen. Matthias K. hatte das Down-Syndrom, medizinische Zusammenhänge waren ihm schwer zu vermitteln. Wegen seiner Renitenz bei der Voruntersuchung entschloss man sich, beim anschließenden Eingriff die doppelte Menge des Anästhetikums zu verabreichen. Die OP lief glatt, allerdings entwickelte Matthias K. danach ein Delir. Darunter versteht man eine kurze Phase der Aggression und Verwirrtheit. In seiner Wohngruppe war Matthias K. in diesem Zustand kaum zu ertragen. Er wurde in eine Nervenklinik eingeliefert, dort erhielt er Psychopharmaka. Diese setzten die Immunabwehr deutlich herab, wie eine Ärztin später der Mutter erläuterte. Matthias K. starb an der dritten Lungenentzündung. Er wurde 49 Jahre alt.

Acht Millionen Schwerbehinderte

Die überwiegende Anzahl von Behandlungen in Deutschland wird von hochkompetenten und motivierten Fachleuten in guter Qualität erbracht. Tragische Ereignisketten wie die geschilderte sind glücklicherweise selten. Doch Tatsache ist auch: Menschen mit besonderen Bedarfen werden in Deutschland immer noch unzureichend verstanden. Dabei ist ihre Anzahl gar nicht so klein. Allein zwei Millionen Menschen mit einer angeborenen oder erworbenen geistigen Behinderung leben in Deutschland. Rund acht Millionen Menschen besitzen hierzulande einen Schwerbehindertenausweis, sie haben also eine starke körperliche oder geistige Beeinträchtigung oder beides. Sie werden kaum wahrgenommen, auch weil viele von ihnen in der Öffentlichkeit tendenziell selten zu sehen sind – wer beispielsweise im Rollstuhl sitzt, neigt gewöhnlich wenig zu Einkaufsbummeln in der Innenstadt oder zu Disko-Besuchen. Diese Menschen haben auch kaum Kapazitäten, auf die Belange ihrer Gruppe aufmerksam zu machen, gerade weil sie den allergrößten Teil ihrer Energie für die Bewältigung des Alltags benötigen. Zudem sieht das Gesundheitssystem kaum Anreize vor, sich um ihre spezifischen Anliegen zu kümmern, auch wenn die Folgen von schlechter oder Fehlversorgung die Sozialkassen – und somit mittelbar uns alle – wiederum stark belasten können.

Immer mehr alte Menschen

Das Gesagte gilt nicht nur für Behinderte, es trifft auch auf ältere Menschen zu. Deren Zahl nimmt stetig zu. War 1970 nur jeder Neunte über 67 Jahre alt, so wird es 2070 wohl mehr als jeder Vierte sein. Wie lohnenswert es ist, sich mit dem Phänomen des Alterns zu beschäftigen, wissen wir, seitdem der Immunologe Elias Metschnikoff in den 1880er-Jahren den Begriff Gerontologie prägte. Heute kann man Gerontologie an diversen Universitäten und Hochschulen in Deutschland studieren. Doch einen Handlungsbedarf im Zusammenhang mit der immer älter werdenden Bevölkerung sehen viele erst seit der in den vergangenen Jahren zunehmend heftig geführten Diskussion um die Pflege.

Sechs Millionen gering Literalisierte

Eine dritte Gruppe, deren besondere Versorgungsbedarfe nicht genügend Beachtung finden, sind diejenigen, die sich behelfsmäßig als Bildungsverlierer titulieren lassen. Fasst man darunter die gering Literalisierten, so sind dies in Deutschland über sechs Millionen Menschen. Über sie sind viele falsche Vorstellungen im Umlauf. Diese reichen von „Die verweigern sich dem sozialen Aufstieg“ (falsch, weil in Deutschland die soziale Herkunft die Bildungskarriere stark prägt) über „Das sind alles Migranten“ (falsch, weil mehr als die Hälfte der gering Literalisierten mit Deutsch groß geworden sind“) bis hin zu „Die rennen mit jedem Wehwehchen in die Notaufnahme“ (falsch, weil Menschen mit höheren Schulabschlüssen häufiger aus Eigeninitiative Rettungsstellen aufsuchen). Hier gilt es, mit Vorurteilen aufzuräumen und darüber hinaus etwas für diese Gruppe zu tun.

Wie es um Menschen mit besonderen Bedarfen bestellt ist, wollte die Redaktion von Autoren wissen, die sich intensiv mit einzelnen Gruppen beschäftigt haben. Da unser Wissenschaftsmagazin gewöhnlich drei Analysen beinhaltet, hat die Redaktion stellvertretend für Gruppen mit besonderen Bedarfen geistig Behinderte, alte Menschen und Bildungsverlierer ausgewählt. Die Aufsätze ruhen auf einem gemeinsamen gedanklichen Fundament: Wir müssen anerkennen, dass bestimmte Gruppen spezielle Bedarfe haben, und diesen Rechnung tragen. Wenn wir das verstehen, verbessern wir nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch die Gesellschaft.

GGW zum Thema: "Menschen mit besonderen Bedarfen"

Foto: Titelbild der G+G-Wissenschaft 4/2023

G+G-Wissenschaft

Schwerpunkt: Menschen mit besonderen Versorgungsbedarfen

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