„Der Sozialstaat braucht Vertrauen"
Jacobs' Weg: Im politischen Streit werden die wirtschaftlichen Funktionen sozialer Absicherung häufig unterschätzt. Dabei geht es um weit mehr als nur einen Kostenfaktor.

Die Sommerpause war kaum vorüber, als die Bundesregierung begann, über die Zukunft des Sozialstaats zu streiten. Der sei nicht mehr finanzierbar, sagte Kanzler Friedrich Merz. Das sei „Bullshit“, konterte Sozialministerin Bärbel Bas. Hier stimmten weder Inhalt noch Ton. Dieser ist jetzt zwar wieder gemäßigt, doch bestehen inhaltliche Differenzen unverändert fort. Wie fast immer wird dabei auch viel aneinander vorbei gestritten, und vollmundige Rhetorik tritt an die Stelle inhaltlicher Substanz.
Der Sozialstaat ist ein zentraler gesellschaftlicher Stabilitätsanker – das ist unbestritten. Er erfüllt aber auch wirtschaftspolitisch wichtige Funktionen. Das wird vielfach verkannt, wenn es etwa heißt, dass erst produziert werden müsse, ehe verteilt werden könne. Soziale Sicherung ist nicht nur ein Kostenpunkt, sondern auch ein wichtiger Produktions- und Produktivitätsfaktor, mithin Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Überdies generieren Geldleistungen unmittelbar Nachfrage und Sachleistungen – speziell in der Gesundheits- und Pflegeversorgung – Arbeitsplätze, die selbst wieder für Beitrags- und Steuereinnahmen sorgen.
„Denkverbote engen Reformperspektiven ein.“
Volkswirt und ehemaliger Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK
Gleichwohl erfordert die zukunftsfeste Ausgestaltung des Sozialstaats Reformen, die bei bloßer Systemkosmetik über kurzfristige Wirkungen hinausgehen. Es gibt zu viel Bürokratie und zu wenig Transparenz, von Bedarfs- und Finanzierungsgerechtigkeit ganz zu schweigen. Doch sind der Merz-Regierung solche mutigen Reformschritte wirklich zuzutrauen? Zweifel sind angebracht. So soll die Reformkommission für Gesundheit laut ihrem Arbeitsauftrag die Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung respektieren. Genau hierin liegt aber eine wesentliche Ursache für Schieflagen bei der Gesundheits- und Pflegeversorgung und ihrer Finanzierung.
Entgegen ihren eigenen Bekundungen erteilt die Bundesregierung ihrer Kommission somit ein Denkverbot und schränkt den Reformspielraum beträchtlich ein. Damit beschädigt sie von vornherein etwas, worauf nicht nur der Sozialstaat, sondern auch sie selbst entscheidend angewiesen ist: das Vertrauen der Bevölkerung.
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