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Pollenangriff ohne Pause

16.10.2025 Silke Böttcher 6 Min. Lesedauer

Millionen Menschen in Deutschland reagieren allergisch auf Pollen. Der Klimawandel verstärkt die Belastung, denn Bäume, Gräser oder Ambrosia verbreiten inzwischen fast ganzjährig Allergene. Wissenschaft, Institutionen und Kommunen versuchen gegenzusteuern.

Foto: Herbststimmung mit goldenem Licht auf Pflanzen.
Herbststimmung – und keine Entwarnung für Allergiker, denn die gestiegenen Temperaturen verlängern die Pollensaison.

Schniefnase, Niesreiz, tränende und juckende Augen – viele Menschen reagieren allergisch auf die Pollen unterschiedlicher Pflanzen. Bei einigen kommt es im weiteren Verlauf zu einem Etagenwechsel, bei dem sich die Allergie auf die unteren Atemwege ausweitet und allergisches Asthma entsteht. Eine Umfrage im Auftrag des AOK-Bundesverbandes vom April 2025 zeigt, dass mehr als ein Drittel der Menschen in Deutschland von einer ärztlich diagnostizierten Allergie betroffen ist. Hinzu kommen Menschen, die davon ausgehen, eine Allergie zu haben, ohne dass sie bisher diagnostiziert wurde. 

Insgesamt reagiert demnach bei fast der Hälfte der Menschen in Deutschland das Immunsystem auf bestimmte Stoffe übermäßig sensibel. Bei den meisten von ihnen (59 Prozent) liegt eine Pollenallergie vor. In den ersten vier Monaten dieses Jahres nahm die Zahl der schweren Fälle nach Angaben der AOK gegenüber 2024 um 37 Prozent zu. Im Vergleich zu 2020 stieg die Zahl sogar um 124 Prozent. „Einer der häufigsten Auslöser der allergischen Rhinitis sind allergene Pollen, vor allem Birken- und Gräserpollen“, heißt es auf G+G-Anfrage aus dem Umweltbundesamt. „Wir gehen von einer zunehmenden Krankheitslast durch den Klimawandel aus, sowohl hinsichtlich der Häufigkeit von Erkrankungen als auch hinsichtlich der Stärke der Beschwerden.“ Dr. Eike Eymers, Ärztin im AOK-Bundesverband, bestätigt: „Die klimatischen Veränderungen führen dazu, dass die Pollensaison bei den heimischen Arten früher beginnt und auch länger andauert.“ Auch atmosphärische Veränderungen, die die Winde beeinflussen, könnten die Pollenausbreitung begünstigen und gerade kleine und leichte Pollen über große Distanzen transportieren, erläutert Eymers. 

Während sich Allergien früher vor allem auf Frühling bis Spätsommer beschränkten, leiden Betroffene inzwischen fast das ganze Jahr darunter. Das liegt daran, dass etwa Gräser auch im späten Herbst Pollen bilden und Hasel und Erle aufgrund der milden Winter oft schon im Dezember zu blühen beginnen. Die nicht heimische Purpurerle lässt nach Angaben des Robert-Koch-Instituts die Erlenpollensaison noch früher anfangen. In sehr milden Wintern können die Pollen von Hasel und Purpurerle sogar schon im November zu fliegen beginnen. Hinzu kommt, dass Umweltschadstoffe wie Kohlenstoffdioxid oder Ozon das Pflanzenwachstum und die Pollenproduktion verändern – sie verursachen eine größere Zahl allergieauslösender Proteine im Pollen. Die steigenden Temperaturen sind auch die Ursache dafür, dass invasive Pflanzenarten ihren Weg nach Mitteleuropa gefunden haben. Dazu gehört etwa die Ambrosia, die im 19. Jahrhundert aus Nordamerika nach Europa gelangte und nach der Blüte Milliarden stark allergieauslösende Pollen freisetzt.

Folgekosten bedenken

Die Zunahme der Allergien hat wirtschaftliche Auswirkungen. Sie reichen von einer verminderten Produktivität bis zu Arbeitsausfällen. Nach einer Auswertung durch die AOK Rheinland/Hamburg meldeten sich bis Ende April 2025 Versicherte 2.106-mal mit der Diagnose Heuschnupfen und allergischer Schnupfen krank (2024: 1.541 Fälle). Die Helmholtz-Klima-Initiative nennt sogar 100 Millionen Arbeits- und Schulausfalltage pro Jahr in Europa, die durch Asthma und allergische Rhinitis verursacht werden. Insgesamt entstünden dadurch Kosten von 17,7 Milliarden Euro pro Jahr.

Ein Problem ist die unzureichende Behandlung der Allergien. So zeigt eine im Rahmen einer Task-Force-Initiative des EU-Exzellenznetzwerks für Allergien GA²LEN (Global Allergy and Asthma European Network) initiierte Studie, dass in der Europäischen Union 44 bis 76 Millionen der 217 Millionen Erwerbstätigen an allergischen Erkrankungen der Atemwege oder der Haut leiden. Bis zu 90 Prozent von ihnen werden nicht oder nur unzureichend behandelt. Ein Team um Professor Torsten Zuberbier, Direktor des Instituts für Allergieforschung an der Charité in Berlin, kam zu dem Schluss, dass die vermeidbaren indirekten Kosten pro Jahr bei 55 bis 151 Milliarden Euro liegen – pro Patient sind das 2.405 Euro.

Wie sehr sich eine unzureichende Behandlung auswirken kann, ist direkt messbar: „In den Sommermonaten haben Kinder, deren Allergie nicht richtig behandelt wird, im Schnitt eine Note schlechter als Kinder mit richtiger Behandlung“, erklärt Karl-Christian Bergmann, Professor am Institut für Allergieforschung der Charité. Er ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutscher Polleninformationsdienst und Klinischer Direktor der gemeinnützigen Europäischen Stiftung für Allergieforschung (ECARF). Kinder benötigten eine sachgerechte Allergiediagnostik, um zu wissen, worauf genau sie allergisch reagierten, betont Bergmann. „Handelt es sich um eine Pollenallergie, sollte aufmerksam gemacht werden auf präventive Maßnahmen wie die Kenntnis von Pollenflugvorhersagen.“ Danach würden lokale Antihistaminika für Nase und Augen oder systemische Medikamente als Antihistaminika verordnet, so der Allergie-Experte. Falls bereits ein leichter Husten bestünde, sollte eine geringe Menge an inhalativen Steroiden eingesetzt werden, sagt Bergmann. Sinnvoll sei schließlich die Einleitung einer subkutanen oder sublingualen Immuntherapie, da dadurch die Krankheit in ihrem Verlauf deutlich reduziert oder gestoppt werde.

Aufklärung und Monitoring

Foto: Mechanische Falle zur Pollenmessung.
Wie viele und welche Pollen fliegen, lässt sich mit einer mechanischen Falle messen.

Viele Institutionen haben inzwischen auf die gestiegenen Allergikerzahlen reagiert und Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergriffen. Meist geht es um Aufklärung und Monitoring, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Ausbreitung allergener Pflanzen zu untersuchen. 

2008 hat die Bundesregierung die Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel als Gemeinschaftsprojekt aller Ressorts der Bundesregierung unter Federführung des Bundesumweltministeriums beschlossen. Ein darin enthaltener „Aktionsplan Anpassung“ konkretisiert die Maßnahmen. Eine Allianz zwischen dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, dem Technischen Hilfswerk, dem Deutschen Wetterdienst, dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung sowie dem Umweltbundesamt hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 die Fähigkeit der Bevölkerung zum Umgang mit Pollenallergien zu stärken. Dazu gehören Aufklärungskampagnen und das Pollenmonitoring. 

Auch der Öffentliche Gesundheitsdienst unterstützt mit Frühwarnsystemen, Monitorings und Kooperationen mit Stadtplanern. Das Bundesamt für Öffentliche Gesundheit steht Kommunen mit Tipps zur Seite, um Menschen vor Allergiefolgen zu schützen. Neben der Anpassung gegenüber Allergenen geht es um Aufklärung, die ein Bewusstsein für das Thema schaffen soll. Auch über die Gestaltung öffentlicher Grünflächen mit allergiearmen Pflanzen und die Beseitigung invasiver Arten wie Ambrosia wird informiert.

Tests geben Gewissheit

Nachgewiesen werden Pollenallergien mit Hauttests (etwa dem „Prick-Test“, bei dem eine wässerige Lösung mit unterschiedlichen Allergenen auf die Haut getropft wird und die Stellen dann leicht angeritzt werden) und Provokationstests (hier bekommt der Patient die Allergene als Nasenspray verabreicht oder sie werden ihm in den Bindehautsack getropft). Auch eine Untersuchung des Blutes auf Immunglobulin-E-Antikörper kann Hinweise auf eine Pollenallergie geben. Manchmal fällt ein Test negativ aus, obwohl der Patient Beschwerden hat. Meist betrifft das Menschen, die unter einer lokalen allergischen Rhinitis leiden. Die Symptome unterscheiden sich kaum, aber die immunologische Reaktion ist auf die Nasenschleimhaut begrenzt. Diagnostizieren kann man diese Sonderform am besten mit einem nasalen Provokationstest.

Quellen: Allergieinformationsdienst; Weißbuch Allergie

Tatsächlich ist der Umgang mit Grünflächen besonders wichtig. Allergie-Experte Bergmann ist Mitautor einer Studie, die Empfehlungen zur allergikerfreundlichen Bepflanzung in Städten unter Berücksichtigung des Klimawandels gibt. Sie listet unter anderem Baumarten auf, die wenig allergenes Potenzial haben – etwa Ahorn, Linde, Kastanie, Magnolie und Ulme. Arten wie die Birke dagegen sollten vermieden werden. „Es geht nicht darum, Bäume zu fällen“, betont Bergmann, „sondern darum, beim Pflanzen aufzupassen.“ 

Auch zum Thema Dachbegrünung gibt es eine ECARF-Studie, in der 100 empfehlenswerte Pflanzen genannt werden. Bei Grasflächen dagegen ist es schwierig. Es gibt keine Grasart ohne Pollen, außerdem fehlen Erkenntnisse. „Einer Untersuchung aus England zufolge sollten sie mindestens einmal pro Jahr gemäht werden“, berichtet Bergmann. Das halte den allergieauslösenden Schimmelpilz Alternaria in Schach.

Stiftung begleitet Allergiker

Foto: Eine Hand greift an eine Birkenpolle.
Birkenpollen können bei Allergikern starke Symptome hervorrufen.

Die ECARF-Stiftung geht noch einen Schritt weiter. Ihre Ziele sind die Verbesserung der medizinischen Versorgung, Forschungsförderung und Aufklärung. „Unsere Mission ist es, den Alltag eines Allergikers zu begleiten“, fasst Eva Musihin, Head of Business Development, zusammen: von zertifizierten Hautpflege- und  Lebensmitteln über das Essen in einem Restaurant mit ECARF-Siegel und dem Mittagsspaziergang in einem Park mit minimaler Pollenbelastung bis zum allergikerfreundlich zubereiteten Abendessen, dem Aufenthalt in einem Raum, der durch einen zertifizierten Luftreiniger allergenfrei gehalten wird, und dem Schlafen in hypoallergener Bettwäsche. 

Gegründet wurde die Stiftung, die Mitglied von GA²LEN ist, 2003 von Torsten Zuberbier. Sie klärt auf – etwa mit einem Allergiekoffer, der für Bildungskampagnen in Schulen eingesetzt wird –, schult und zertifiziert Dienstleistungen, Unternehmen und Produkte. Gerade wurde ein Berliner Golfclub zertifiziert, mehrere Hotels tragen bereits das ECARF-Siegel. Im Herbst soll ein allergikerfreundlicher Apfel auf den Markt kommen, der in Kooperation mit der Hochschule Osnabrück gezüchtet und von Allergikern getestet wurde. Der Apfel enthält geringere Mengen des Hauptallergens Mal d 1. Die Neuentwicklung ist für Pollenallergiker relevant. Denn es gibt Kreuzallergien mit Birkenpollen: Bestimmte Allergen-Bausteine aus Apfel und Birke ähneln einander und das Immunsystem reagiert entsprechend. Betroffene können eine pollenassoziierte Nahrungsmittelallergie entwickeln, etwa das Orale Allergie-Syndrom, eine Reaktion der Mundschleimhaut, die mit Brennen und Juckreiz an Gaumen und Lippen beim Essen von Äpfeln verbunden ist.

Behandlung verbessern

Einzelne Kommunen haben bereits eigene Initiativen entwickelt. So gibt es in Hessen das Stadtgrün-Online-Tool des Landesamtes für Naturschutz, Umwelt und Geologie für die Suche nach klimaresilienten Baumarten für Grünanlagen. Thüringens Landeshauptstadt Erfurt hat für ihr Stadtgrünkonzept die Bäume der Stadt auf ihr allergenes Potenzial untersucht. Ergebnis: 43 Prozent haben ein geringes oder sogar sehr geringes und acht Prozent ein hohes bis sehr hohes allergenes Potenzial. 

Ein weiteres Feld sind Projekte wie das „Aktionsprogramm Am-brosia“ des Julius-Kühn-Instituts. Hier geht es um das Monitoring des Vorkommens der Pflanze, um Maßnahmen, die weitere Ausbreitung zu vermeiden, um die Information der Öffentlichkeit über die Gefahren sowie um mögliche Bekämpfungsmaßnahmen. Das Programm wurde im Jahr 2010 ins Leben gerufen und besteht aus fünf Schritten: Verstehen und Beschreiben des Klimawandels, Erkennen und Bewerten der Risiken, Entwickeln und Vergleichen von Maßnahmen zur Begrenzung der weiteren Ausbreitung, Planen und Umsetzen dieser Maßnahmen und schließlich das Monitoring etwa in Form eines Web-Atlas‘ für Schadorganismen wie die Ambrosia. Hinzu kommen Online-Angebote mit Apps, etwa „Pollenius“ der Charité mit einer Pollenvorhersage in Echtzeit und die Pollen-App der Stiftung Deutscher Polleninformationsdienst, die einen Allergie-Selbsttest, ein Pollentagebuch und einen Erinnerungsservice für einen zeitlich angepassten Start einer Therapie enthält. 

Wichtig bleiben auch die therapeutischen Möglichkeiten. „Um über die gesamtgesellschaftliche Herausforderung hinaus die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit der Bevölkerung zu minimieren, sollten in der medizinischen Versorgung die bereits vorhandenen Möglichkeiten ausgeschöpft werden“, so AOK-Ärztin Eymers. „Eine allergen-spezifische Immuntherapie zum Beispiel wird immer noch zu selten durchgeführt, könnte aber die Krankheitslast und das Risiko eines Etagenwechsels deutlich minimieren.“

Das Engagement von Städteplanern, Behörden und Institutionen rückt das Thema Allergien stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Noch betrachten viele Menschen Allergien als Bagatell-Erkrankungen. Für Betroffene aber ist ein besseres Verständnis für ihre speziellen Bedürfnisse hilfreich. Deshalb sind auch in Zukunft solche Projekte wichtig.

Mitwirkende des Beitrags

Silke Böttcher

Autorin

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