Mehr Zeit für Kranke
Vor gut einem Jahr ging in Baden-Württemberg das Projekt HÄPPI an den Start, um die Hausarztpraxen zu stärken. Vor dem Hintergrund der diskutierten Primärarztversorgung gewinnt das Modell bundesweit immer mehr Aufmerksamkeit, denn es verschafft Ärztinnen und Ärzten Luft für wichtige Aufgaben.

Sie nennen sich Physician Assistants, Primary Care Manager oder Community Health Nurses: Nicht-ärztliche Beschäftigte in Hausarztpraxen mit einer akademischen Ausbildung. In den an HÄPPI teilnehmenden Praxen sollen sie die Medizinerinnen und Mediziner entlasten und vielfältige Aufgaben von ihnen übernehmen. „Wir können uns dann stärker um die komplexen Fälle kümmern“, beschreibt die Hausärztin Dr. Angela Schweizer. Ihre Gemeinschaftspraxis mit Standorten in Kirchheim unter Teck und Nürtingen nahm mit neun weiteren Arztpraxen an der Pilotphase in Baden-Württemberg teil.
HÄPPI steht für „Hausärztliches Primärversorgungszentrum – Patientenversorgung Interprofessionell“. In Baden-Württemberg, wo es seit 2008 einen Vertrag zur Hausarztzentrieren Versorgung (HZV) zwischen der AOK, dem Hausärztinnen- und Hausärzteverband sowie dem Ärzteverbund MEDI gibt, wurde nach der sechsmonatigen Testphase und einer erfolgreichen Evaluation jetzt in der HZV eine feste Vergütung für HÄPPI eingeführt. Das Modell ist damit in der Versorgungsrealität im „Ländle“ angekommen.

In der Praxis von Angela Schweizer übernehmen eine Physician Assistant und eine Diplompflegewirtin im Rahmen von HÄPPI etwa Anamnesegespräche mit Neupatienten, Ultraschalluntersuchungen, machen Hausbesuche, kümmern sich um die Gesundheitsvorsorge, führen die zu Check-Ups gehörenden Patientengespräche und begleiten Infektionssprechstunden – immer im engen Austausch mit Arzt oder Ärztin. Darüber hinaus arbeiten in den beiden Niederlassungen Medizinische Fachangestellte sowie acht spezielle Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis (VERAH). Auch sie übernehmen im HÄPPI zentrale Aufgaben wie Sprechstunden zu Disease Management Programmen, Hausbesuche, Verbandswechsel, die Vorbereitung von Reiseimpfungen. „Wir haben uns jede Position angeschaut. Die Frage ist: Was müssen wir als Ärzte selber machen und was können wir delegieren?“, erläutert Schweizer.
„Die Frage ist: Was müssen wir selber machen und was können wir delegieren?“
Hausärztin
Neben der Delegation von Leistungen an akademische Beschäftigte besteht ein Kernelement von HÄPPI darin, digitale Hilfsmittel einzusetzen, wie der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, Johannes Bauernfeind, unterstreicht. Dazu können Online-Terminbuchungen, Videosprechstunden, Messenger, Spezialsoftware für mehr Sicherheit bei Medikamenten oder Erinnerungsdienste für Vorsorgemaßnahmen gehören. Insgesamt bleibe durch HÄPPI „mehr Zeit für die Versorgung kranker Menschen“, so Bauernfeind.
Über Baden-Württemberg hinaus macht das Versorgungsmodell Schule. In Rheinland-Pfalz läuft seit Juli in sieben ländlich gelegenen Praxen eine halbjährige Erprobungsphase. Das Ziel ist auch hier die Verteilung von Aufgaben auf mehreren Schultern – plus Einsatz digitaler Tools. Das Projekt des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes des Bundeslandes wird in enger Partnerschaft mit dem Ministerium für Wissenschaft und Gesundheit und der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland durchgeführt. Die AOK-Vorstandsvorsitzende Dr. Martina Niemeyer hält das Modell für zukunftsweisend.
Die schwarz-rote Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, im Sinne einer zielgerichteten Versorgung und einer schnelleren Terminvergabe „ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzte“ einzuführen. Nach Einschätzung von Professorin Nicola Buhlinger-Göpfarth, Co-Vorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes wie auch des Landesverbandes Baden-Württemberg, zeigt HÄPPI, wie die Transformation gelingen kann. Im Südwesten sei deutlich geworden, „dass der Ansatz für Praxen jeder Größe umsetzbar ist und die Versorgung einer größeren Patientenzahl ermöglicht“, sagte sie G+G. Bundesweit sind die Details der künftigen Primärversorgung noch stark umstritten. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob es bei der angepeilten flächendeckenden Primärversorgung zwingend auf ein hausarztzen-triertes Modell hinauslaufen muss.
Angela Schweizer jedenfalls ist von HÄPPI überzeugt. Das Modell helfe, den steigenden Anforderungen gerecht zu werden und die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern. Bislang seien Ärztinnen und Ärzte immer die „Chefs in Weiß“ gewesen, die möglichst alles selber machten. Doch die Medizinerin ist sich sicher: „Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des Mangels an Ärztenachwuchs hat ein solches Modell keine Zukunft mehr.“
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