Artikel Gesundheitssystem

Wenig Zeit für Sommerpausen

07.08.2025 Ralf Breitgoff 5 Min. Lesedauer

Der Aufsichtsrat des AOK-Bundesverbandes drückt angesichts des hohen Reformbedarfs in der gesetzlichen Kranken- (GKV) und der sozialen Pflegeversicherung (SPV) aufs Tempo. Warum sich die Gesundheitspolitik keine Sommerpause leisten kann und welche Herausforderungen aktuell am dringlichsten sind, erläutern die alternierende Vorsitzende für die Arbeitgeberseite, Dr. Susanne-Wagenmann und der Co-Vorsitzende für die Versichertenseite, Knut Lambertin, im Podcast.

Knut Lambertin und Dr. Susanne Wagenmann, Vorstände des Aufsichtsrats des AOK- Bundesverbandes.
Der Vorstand des Aufsichtsrats des AOK-Bundesverbandes: Dr. Susanne Wagenmann und Knut Lambertin

„Wir müssen jetzt rasch Gesetze auf den Weg bringen. Da müssen alle ihre Hausaufgaben im Ministerium machen, auch jetzt in der Sommerpause“, lautet die unmissverständliche Botschaft von Dr. Susanne-Wagenmann, alternierende Aufsichtsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, an Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) und ihren Mitarbeiterstab. „Politisch wäre eine Sommerpause fatal“, ergänzt Knut Lambertin, Co-Vorsitzender für die Versichertenseite. Jetzt stehe vor allem die finanzielle Stabilisierung von GKV und SPV. „Der Zeitrahmen ist eng“, warnt Lambertin. Erst im Frühjahr 2026 soll die die im Koalitionsvertrag verankerte Kommission zur GKV-Reform zusammenkommen. Übergangsweise will Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) beide Versicherungszweige 2025 und 2026 mit Darlehen stützen. Jeweils 2,3 Milliarden Euro fließen leihweise in die GKV. In der SPV sind es eine halbe Milliarde in diesem und 1,5 Milliarden Euro im kommenden Jahr. Wagenmann hält das für wenig nachhaltig. „Wie bitte soll ein Ausgabeproblem durch ein Darlehen gelöst werden?", fragt die Arbeitgebervertreterin im Aufsichtsrat des AOK-Bundesverbandes. Darlehen „verschleiern die Problematik, mindern den Reformdruck und verschieben die Probleme in die Zukunft.“ Deutschland leiste sich das teuerste Gesundheitssystem der Europäischen Union (EU) und nach den USA das teuerste im Bereich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD. 

Bundesgesundheitsministerin Warken warnte jüngst selbst vor Beitragserhöhungen, sollte ihr Kabinettskollege Klingbeil nicht mehr Geld lockermachen können. In der Konsequenz würde das wohl erneut steigende Zusatzbeiträge bedeuten. Zumindest zeichnet sich an keiner Stelle ab, dass die schwarz-rote Regierung den gesetzlichen Beitrag von 14,6 Prozent erhöhen könnte, und auch der gesetzlich fixierte Zuschuss des Bundes in den Gesundheitsfonds von aktuell 14,5 Milliarden Euro pro Jahr bleibt sowohl im Bundesetat 2025 als auch 2026 unangetastet. 

„Gesundheit ist ein Wachstumsbereich.“

Knut Lambertin

Aufsichtsratsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, Versichertenseite

Knut Lambertin, der auch Verwaltungsratschef für die Versichertenseite der AOK Nordost ist, fürchtet Wettbewerbsverzerrungen. „Wenn wir wieder in eine Situation kommen, wo es Beitragsunterschiede von fünf bis sechs Prozent gibt, wird das Thema Qualitätswettbewerb in der Krankenkasse keine Rolle mehr spielen.“ Der reine Preiswettbewerb rücke in den Vordergrund. Lambertin nennt eine zu große Beitragsspreizung „systemgefährdend“. Derzeit liegt die Spanne beim Zusatzbeitrag innerhalb der offen zugänglichen Krankenkassen laut Liste des GKV-Spitzenverbandes bei 2,2 Prozentpunkten. Lediglich einige wenige Betriebskrankenkassen, die nur für Mitarbeitende geöffnet sind, liegen unterhalb des derzeit niedrigsten Zusatzbeitragssatz von 2,18 Prozent.

Eine Bund-Länder-Kommission unter dem Titel „Zukunftspakt Pflege“ will unter anderem die Finanzprobleme angehen und bis Dezember über Reformen in der SPV beraten. Der Gesetzgebungsprozess soll dann im Januar 2026 starten. Besonders die Eigenanteile für die Unterbringung im Pflegeheim sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. „Zum Beispiel könnten die Eigenanteile in den Pflegeeinrichtungen für die Pflegeheimbewohnenden deutlich niedriger sein, wenn die Kommunen ihren Investitionsverpflichtungen nachkämen“, kritisiert Wagenmann und ergänzt: „Sie könnten auch niedriger sein, wenn der Bund seiner Verpflichtung nachkäme, die Ausbildungskosten zu bezahlen, anstatt sie die Pflegeheimbewohnenden zahlen zu lassen.“ Der Verband der Ersatzkassen (Vdek) hatte Ende Juli neue Rekordwerte verkündet. Über 3.000 Euro werden derzeit monatlich im Bundesschnitt fällig.

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Lambertin fürchtet, dass es beim Zukunftspakt Pflege wieder zu Verschiebungen der Finanzverantwortung zwischen Bund und Ländern kommt. Zugleich warnt er vor steigenden Sozialhilfeausgaben, wenn immer mehr Pflegebedürftige auf Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII) angewiesen sind, weil sie die Eigeneanteile nicht mehr aus eigener Kraft stemmen können. Die Ausgaben müssten in der Pflege insgesamt, wie auch in der GKV wieder stärker an die Einnahmen gekoppelt werden. „Es sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Ausgabensteigerungsgesetze beschlossen worden“, erinnert der Versichertenvertreter. „Eine Entkoppelung von der Grundlohnsummen-Entwicklung hat stattgefunden, und am Ende zahlt immer nur der Beitragszahler höhere Beiträge." 

Beide Aufsichtsräte pochen auf durchgreifende Strukturreformen und formulieren klare Erwartungen an die Reformkommissionen zu SPV und GKV. In der Pflege wird der sprichwörtlich größte Pflegedienst in den nächsten Jahren deutlich kleiner werden: die pflegenden Angehörigen. 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause gepflegt. Die engsten Angehörigen tragen somit die Hauptlast. Mit den Babyboomern kommt aber die derzeit größte Bevölkerungsgruppe jetzt in das Alter, in dem das Pflegerisiko steigt. Mehr noch: Es ist die Gruppe, die nachweislich weniger Kinder bekommen hat. Lambertin erwartet deswegen eine stärkere Professionalisierung des Sektors. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes deute schon jetzt darauf hin. „Wenn man sich anguckt, wie in den vergangenen Jahren im Gesundheits- und Pflegebereich die Arbeitsplätze gewachsen sind, auf inzwischen 7,1 Millionen Beschäftigte nach den Daten des Bundeswirtschaftsministeriums. Dann ist das ein Wachstumsbereich.“

„Wir werden gar nicht genug Pflegefachpersonal ausbilden können.“

Dr. Susanne-Wagenmann

Aufsichtsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Arbeitgeberseite

Das Pflegekompetenzgesetz soll den Professionalisierungsprozess unterstützen. Das Gesetz hat das Bundeskabinett inzwischen passiert und aufgrund einiger fachfremder Zusätze einen neuen Namen bekommen. Es trägt nun den Namen „Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege“ und hat von seiner ursprünglichen Zielsetzung nichts verloren: Umbau der Pflegestrukturen und Ausbau der Befugnisse des Pflegefachpersonals. „Das ist gut für das System, weil damit auch andere Strukturen entlastet werden. Es macht auch den Pflegeberuf attraktiver“, lobt Susanne Wagenmann. Trotzdem wird eine Lücke bleiben, die es zu füllen gelte, prognostiziert sie. „Wir werden gar nicht genug Pflegefachpersonal ausbilden können, um tatsächlich alle auch professionell pflegen zu können.“ Andere Lösungen müssten gefunden werden, sagt Wagemann und richtet den Blick auf das Konzept der Caring Communities, das die AOK in ihren Positionen zur Weiterentwicklung der Pflege propagiert: neue Sorgestrukturen, in der An- und Zugehörige, Pflegeeinrichtungen, Akteure der Gesundheits- und Pflegeversorgung und Ehrenamtliche in einer neuen Sorgekultur die Verantwortung für die Unterstützung und Pflege wahrnehmen. 

Die ambulante Versorgung steht auch vor tiefgreifenden Strukturreformen. Stichwort Primärarztversorgung: Der Hausarzt, die Hausärztin soll nach dem Willen der Bundesregierung künftig die erste Anlaufstelle werden. Die AOK fasst den Begriff etwas weiter, spricht von Primärversorgung, wo auch andere Berufsgruppen eingebunden sind. „Da schließt sich auch der Kreis zum Pflegekompetenzgesetz. Denn einzelne Tätigkeiten werden bestimmt auch Pflegefachpersonen übernehmen können“, erläutert Wagenmann. Darüber hinaus brauche es eine Anlaufstelle mit Lotsenfunktion, die digital, persönlich oder am Telefon einschätzt, wo die einzelne Patientin und der einzelne Patient richtig mit ihrem Anliegen am besten aufgehoben sind – in der Grundversorgung, bei Facharzt, im ärztlichen Bereitschaftsdienst oder Krankenhaus. „Das wird am Ende des Tages dazu führen, dass die gefühlte Versorgung für die Patientinnen und Patienten besser ist, dass sie schnell in die Versorgung kommen, die sie brauchen. Auf der anderen Seite wird es das System aber auch entlasten, Personal und andere Ressourcen schonen und somit Kosten stabilisieren, im besten Fall senken.“

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