Artikel Gesundheitssystem

Von Preisschildern und positiven Narrativen

07.05.2025 Ines Körver 3 Min. Lesedauer

Bewirken die im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vorgesehenen Maßnahmen eine baldige und nachhaltige Stabilisierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der sozialen Pflegeversicherung (SPV)? „Wohl kaum“, so die Einschätzung von Stefan Sell. Der Volkswirt zeigt auf, was die Politik tun könnte, damit die Sozialsysteme aus den roten Zahlen kommen.

Foto: Auf einem Tisch befinden sich mehrere Stapel von Münzen. Ein Stethoskop ist um die Münzen herumgelegt.
Die Defizite in der GKV und SPV sind bereits jetzt hoch.
Foto: Prof. Dr. Stefan Sell, Professur für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz, Campus Remagen, sowie Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM) der Hochschule Koblenz.
Prof. Dr. Stefan Sell, Professur für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz, Campus Remagen, und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM) der Hochschule Koblenz

„Die künftige Finanzierung der GKV und der SPV bleibt nach dem, was man an Überlegungen dazu im Koalitionsvertrag aufgenommen hat (oder eben auch nicht), ein ganz dickes Brett“, so Sell der an der Hochschule Koblenz Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften lehrt.

Hinsichtlich der versicherungsfremden Leistungen sei einzig und allein auf der Haben-Seite zu buchen, dass der geplante Griff in die Beitragskasse der GKV für die hälftige Finanzierung des Transformationsfonds nun doch unterbleiben solle. Dass die Krankenkassen sich mit 25 Milliarden Euro am Fonds beteiligen müssen, war zunächst Teil der von der Ampelregierung auf den Weg gebrachten Krankenhausreform gewesen. „Stattdessen will man sich nun an dem schuldenfinanzierten Investitionsfonds bedienen.“ Der Koalitionsvertrag wählt für diesen insgesamt 500 Milliarden Euro umfassenden und auf zwölf Jahre angelegten Topf die Formulierung „Sondervermögen Infrastruktur“.

Vorschläge bleiben draußen

Auffällig sei, analysiert Sell, dass es auch wichtige andere Finanzierungsvorschläge, die zuvor in der Arbeitsgruppe Gesundheit der Koalitionsvertrags-Verhandler diskutiert und vorgeschlagen wurden, nicht in den finalen Vertrag geschafft hätten. „So sollten die bisher nicht kostendeckenden Beiträge für Bürgergeldempfänger bereits im laufenden Jahr vollständig aus Steuermitteln finanziert werden, was die GKV um jährlich zehn Milliarden Euro entlasten würde. Das ist hinten runtergefallen.“ 

Außerdem sei im Gespräch gewesen, den Bundeszuschuss an die Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen zu koppeln und zu dynamisieren. Sell sagt: „Das hätte 2028 eine Entlastung der Beitragszahler von etwa 2,25 Milliarden Euro gebracht – aber dieser konkrete Vorschlag ist ebenfalls verlustig gegangen.“ 

Passiv beim Thema Pflege

Nicht nur bei der GKV, auch bei der SPV hätten sich die Verhandlungspartner zu passiv verhalten, so Sell. Der Bund sollte eigentlich schon längst versicherungsfremde Leistungen wie die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige und die Ausbildungsumlage übernehmen. „Dies hatte bereits die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag 2021 versprochen. Dieses Vorhaben würde ab 2026 jährlich etwa vier Milliarden Euro kosten. Es taucht auch nicht mehr auf im finalen Vertragstext“, erläutert der Volkswirt.

Fehlanzeige zudem bei den Milliarden Euro an Beitragsgeldern, die man in der Corona-Pandemie für die Bewältigung einer gesamtgesellschaftlichen Krise zweckentfremdet hat. Dazu Sell: „Hier gab es schon länger das Versprechen, dass das aus Steuermitteln der sozialen Pflegeversicherung erstattet werden muss und soll. Man ahnt es schon, das taucht auch nicht mehr auf.“ Stattdessen gebe es wieder einmal Kommissionen. Der Volkswirtschaftler fügt ironisch hinzu: „Und wenn die getagt haben, dann gibt es jetzt aber ganz bestimmt ganz große Reformen. So lange gilt: Der Beitragszahler bleibt allein zu Hause. Und auf einen steuerfinanzierten Besuch wird man wieder warten müssen.“

„Die künftige Finanzierung der GKV und der SPV bleibt (...) ein ganz dickes Brett.“

Prof. Dr. Stefan Sell

Professur für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz

Bundeszuschuss systematisieren

Was Union und SPD aus seiner Sicht hätten vereinbaren sollen, um die Finanzierung der GKV zumindest ein Stück weit zu stabilisieren, legt Sell in einer Analyse in der aktuellen G+G Wissenschaft dar. Darin fokussiert er unter anderem auf den Bundeszuschuss. Der betrage aktuell jährlich 14,5 Milliarden Euro und sei zu niedrig dimensioniert. Das Geld sei für versicherungsfremde Leistungen vorgesehen, doch was versicherungsfremde Leistungen seien, sei bislang unklar: „Das Bundesgesundheitsministerium hat es bis heute nicht geschafft oder schaffen wollen, diese versicherungsfremden Leistungen genau zu benennen (denn das würde ja zur Folge haben, dass sie konkret bepreist werden könnten).“

Ginge es nach Sell, so würde eine Gutachtergruppe eine systematisch begründete Abgrenzung von Leistungen, die den Krankenkassen zu erstatten seien, und Leistungen, die den Kassen nicht zu erstatten seien, festlegen. Die zu erstattenden versicherungsfremden Leistungen würden mit Preisschildern versehen und aus dem Bundeshaushalt bezahlt. Entsprechenden Klärungsbedarf gebe es nicht nur bei der GKV, sondern auch bei der SPV: „Auf dem Weg einer konsequenten Kommunalisierung wird man nicht um erhebliche Investitionen in eine neue Pflegeinfrastruktur herumkommen. Das ist eine zutiefst öffentliche Aufgabe der Daseinsvorsorge, die aus Steuermitteln gestemmt werden muss.“

Beschäftigungs- und Wachstumseffekte berücksichtigen

Ein Problem sieht Sell allerdings bei der Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen: „Die notwendigen Steuermittel für die GKV wie auch für die SPV werden konkurrieren mit zahlreichen anderen, für sich genommen auch gut begründbaren Finanzierungsbedarfen.“ In diesem Konkurrenzgefüge wäre es hilfreich, künftig den Blick nicht ausschließlich zu verengen auf die Ausgabenseite des Gesundheits- und Pflegesystems, „wo teilweise der Eindruck erweckt wird, als würden die hier eingesetzten Milliarden in einem schwarzen Loch und damit im Nirwana verschwinden.“ Immer noch zu wenig beachtet und gegengerechnet würden die Beschäftigungs- und Wachstumseffekte der Gesundheits- und Sozialwirtschaft. „Diese Aspekte können helfen, eine notwendige stärkere Steuerfinanzierung nicht nur zu fundieren, sondern sie mit einem positiven Narrativ zu besetzen.“

Foto: Ein Stethoskop liegt auf einem Taschenrechner.
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