Interview zum Ärztetag: Primärversorgungsteams sind internationaler Standard
Die AOK-Gemeinschaft begrüßt die Pläne von Union und SPD, ein Primärarztsystem in der ambulanten Versorgung etablieren zu wollen. Die Geschäftsführerin Versorgung im AOK-Bundesverband, Dr. Sabine Richard, erklärt warum.

Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD angekündigt, ein Primärarztsystem in der ambulanten Versorgung etablieren zu wollen. Auch auf dem heute (27. Mai 2025) beginnenden Deutschen Ärztetag diskutieren die Delegierten über das Vorhaben. Die AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Gemeinschaft begrüßt die Pläne. „Es geht es vor allem darum, Ressourcen effizienter einzusetzen“, sagt die Geschäftsführerin Versorgung im AOK-Bundesverband, Dr. Sabine Richard.
Frau Dr. Richard, würde das angedachte Primärarztsystem die Hausärzte als Gatekeeper nicht heillos überfordern und einfach nur zur Verlagerung der Warteschlangen führen?
Sabine Richard: Zunächst einmal darf es kein „Weiter so“ in der ambulanten Versorgung geben. Eine moderne Primärversorgung Unter Primärversorgung wird die gesundheitliche Grundversorgung und Beratung verstanden, in der auch… bedeutet auf Dauer ja mehr als ein bis zwei Hausärzte in einer Praxis mit einigen medizinischen Fachangestellten. Sie geht vor allem mit mehr interprofessioneller Zusammenarbeit einher und würde auf einer breiteren Basis stehen. Internationale Erfahrungen und inzwischen auch viele Initiativen in Deutschland zeigen, dass in Primärversorgungsteams mit Ärzten, Physician Assistants und Pflegefachpersonen die Leistungsfähigkeit der Versorgung deutlich erhöht werden kann. Digitale Elemente müssen hinzukommen. Wenn die Teams entsprechend aufgestellt sind, können mehr Anliegen abschließend behandelt oder aber kompetenter in die nachgelagerten Versorgungsebenen hineingesteuert werden. Das entsprechend erweiterte Aufgabenspektrum müssen wir im Versorgungsauftrag der Primärversorgungspraxen zukünftig verbindlicher vorgeben und in der ambulanten Bedarfsplanung zugrunde legen.
Ergänzend muss die Hotline 116 117 gestärkt werden. Sie unterstützt mit ihrem Ersteinschätzungssystem und der Terminvermittlung digital den reibungsloseren Zugang zur Versorgung. In diesem Zusammenhang wäre es übrigens auch sehr sinnvoll, wenn die neue Bundesregierung begleitend auch die geplante Notfallreform umsetzen würde.
Können Sie noch etwas genauer skizzieren, wie nach Ihren Vorstellungen künftig der Zugang zu den Fachärzten geregelt werden soll?
Richard: Mit einer gestärkten Primärversorgung wäre auch verbunden, dass der direkte Zugang zur fachärztlichen Versorgung weitgehend abgeschafft wird. Ausnahmen sollten für Kinder- und Jugendmedizin, Gynäkologie und Früherkennungsuntersuchungen sowie gegebenenfalls für weitere Versorgungsanlässe gelten. Auch Jahresüberweisungen wären als Instrument für längere, schwerwiegende Krankheitsepisoden sinnvoll. Bei Orthopäden, Kardiologen oder Hautärzten zeigt sich ja heute schon deutlich, dass es nicht mehr gelingt, denjenigen Patienten einen schnellen Termin zu verschaffen, die ihn tatsächlich brauchen. Insgesamt geht es darum, Über- und Fehlversorgung abzubauen. Der Gang ohne Überweisung direkt zum Facharzt Will ein Arzt nach erfolgter Approbation eine Fachgebietsbezeichnung (zum Beispiel Arzt für… sollte künftig nicht mehr mit der Gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden können, sondern nur noch auf Wunsch der Patienten privat.
Aber es gehen doch Tausende Hausärzte bald in Rente. Können wir damit wirklich dem drohenden Ärztemangel begegnen?
Richard: Deutschland weist im internationalen Vergleich eine der höchsten Arztdichten weltweit auf, insbesondere bei Fachärzten. Seit dem Jahr 2000 ist die Anzahl der Ärzte kontinuierlich gestiegen – um rund 43 Prozent. Allerdings zeigt sich zunehmend ein Trend zur Teilzeitarbeit, was die verfügbare Arbeitszeit pro Kopf relativiert. Auch die regionale Verteilung ist unausgewogen: In urbanen Zentren und Randbereichen Deutschlands ist die Arztdichte höher als in ländlichen Regionen. Besonders auffällig ist das Missverhältnis zwischen der relativ geringen Zahl an Hausärzten und der hohen Anzahl an Fachspezialisten.
Daher geht es vor allem darum, diese Ressourcen effizienter einzusetzen. Wir brauchen mehr Nachwuchs in der Allgemeinmedizin, besser verteilt auf die Regionen. Mit einer Weiterentwicklung der Praxisstrukturen – etwa durch größere Versorgungseinheiten, moderne Anstellungsmodelle und interprofessionelle Teams – können die Arbeitsbedingungen in der ambulanten Versorgung attraktiver gestaltet werden. So schaffen wir Anreize für die junge Generation der Ärztinnen und Ärzte sich verstärkt in der Primärversorgung zu engagieren. Und wir schaffen hoffentlich auch Bedingungen, mit denen wir der drohenden Unterversorgung In der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung erstellen die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen im… in den ländlichen Regionen etwas entgegensetzen können, wenn sich dort für die traditionelle Niederlassung keine Interessenten mehr finden. Für die unterschiedlichen Versorgungslagen braucht es in Zukunft auch mehr Spielraum für regionale Lösungen.
Die AOK-Gemeinschaft spricht sich für die Einführung einer Primärversorgung aus, allerdings soll diese nach Ihren Vorstellungen verpflichtend innerhalb der kollektiven Regelversorgung erfolgen. Warum nicht freiwillig? Welche Vorteile hätte die Verpflichtung für Patienten und Ärzte?
Richard: Wir brauchen mehr Verbindlichkeit und Verlässlichkeit für den Weg in die und durch die Versorgung. Der initiale Zugang zur Versorgung ist ein wesentliches Element der Gesundheitsinfrastruktur. Die Ärzte beklagen ja, dass die Patientinnen und Patienten allzu oft nicht an den richtigen Stellen auftauchen. Hier brauchen wir klare Spielregeln für alle: für die Haus- und Fachärzte und für die Patientinnen – vor allem auch im Einstieg. Diese müssen dann breit bekannt gemacht werden. Die Patientinnen und Patienten kennen dann ihre Rechte und Pflichten. Und die Praxen wissen, wie sie die Patienten im Bedarfsfall weiterleiten können. Die Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… können die richtige Steuerung mit ihren Apps unterstützen.
Die verbindliche Einführung der Primärversorgung in der Regelversorgung, was bedeutet das für die bestehenden Hausarztverträge?
Richard: Der Koalitionsvertrag ist hier etwas sybillinisch formuliert. Danach soll die Primärversorgung bei freier Arztwahl in der hausarztzentrierten Versorgung und im Kollektivvertrag Kollektivverträge, auch Gesamtverträge genannt, sind von den Landesverbänden der Krankenkassen und… umgesetzt werden. Derzeit gibt es für die Kassen eine doppelte Verpflichtung, einerseits zum Abschluss von Verträgen mit der Kassenärztlichen Vereinigung in der Regelversorgung und andererseits zu Selektivverträgen über die hausarztzentrierte Versorgung Die hausarztzentrierte Versorgung wurde mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004 zunächst als… . Das ist teuer und bürokratisch. Für uns ist die Umsetzung der Primärversorgung daher eine essenzielle Aufgabe der Regelversorgung, eng verbunden mit den kollektiven Steuerungsaufgaben der 116 117 und auch im Zusammenspiel mit den Planungen zur Notfallreform.
Die Chance der hausarztzentrierten Versorgung liegt in ihrer Rolle als Innovationsmotor. Die bisherige Entwicklung der hausarztzentrierten Versorgung hat aber gezeigt, dass diese Innovation nur in freiwilligen Verträgen zwischen den Kassen und der Ärzteseite gelingt. Diese können die Regelversorgung ergänzen oder ersetzen. Bestes Beispiel ist Baden-Württemberg. Daher ist das Vertragsrecht des Paragrafen 73 b im Fünften Sozialgesetzbuch Das Sozialgesetzbuch (SGB) fasst die wichtigsten Sozialgesetze zusammen und soll „zur Verwirklichung… zu reformieren: Statt einer Verpflichtung sollten diese Verträge wie andere Selektivverträge auch für alle Seiten freiwillig sein.