Die Medizin muss weiblicher werden

Frauen und Männer sind gleichberechtigt. So steht es im deutschen Grundgesetz. Doch in vielen Lebensbereichen ist die Gleichberechtigung bei weitem nicht Realität. Corona hat die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern noch deutlicher gemacht. Diskriminierung hat überall gravierende Folgen – in der Medizin besonders drastische.
Gender Health Gap: trotzdem keine Frauenquote
Es beginnt bei Atemschutzmasken. Ihre Produktion orientiert sich an einem durchschnittlichen Männerkopf und kann damit bei Frauen viele Lücken lassen. Auch in der Medizin sind Männer die Norm – üblicherweise 1.80 Meter groß und 75 Kilogramm schwer. Die Gefahren für Frauen, aber auch alle anderen Menschen, die von diesem Standard abweichen: Fehldiagnosen, falsche Medikation und womöglich höhere Sterblichkeit. Dieser Gender Health Gap ist bekannt. Seit 2004 gibt es in Deutschland schon Richtlinien zur Geschlechterverteilung in der klinischen Forschung. Damit hat sich die Ungleichheit zwar verbessert, doch das Verhältnis stimmt immer noch nicht. Für Arzt Felix Bernd alias „Doc Felix“ bedarf es im AOK PLUS-Podcast „Das grüne Herz“ zum Thema Gender Health aber dennoch keiner Frauenquote: „Wichtig wäre zu untersuchen, wie sich das Geschlecht bzw. die körperlichen Unterschiede auf Krankheiten und die Behandlung auswirken. So könnte für beide Geschlechter eine individualisierte deutlich verbesserte Medizin geschaffen werden.“
Frauen werden in medizinischen Studien nicht berücksichtigt
Die Hälfte aller 2018 und 2019 neu zugelassenen Arzneimittel wurde vorrangig an Männern getestet. Auch werden wesentlich mehr männliche Labormäuse bei Versuchen eingesetzt – selbst bei Studien zu Krankheiten, die hauptsächlich Frauen betreffen. Da verwundert es nicht, dass Nebenwirkungen von Medikamenten bei ihnen häufiger zu beobachten sind. Die Gründe, warum das weibliche Geschlecht von Studien ausgeschlossen werden: zyklusbedingte Hormonschwankungen, Wechseljahre und der Schutz des ungeborenen und noch nicht existierenden Lebens. Das zu prüfende Medikament könnte ja eventuell unfruchtbar machen. Bei einer Schwangeren besteht ebenfalls das ethische Problem, dass das Ungeborene nicht selbst entscheiden kann. Kurzum: Die weibliche Forschung ist schlichtweg komplizierter.
Medikamente wirken bei Frauen oft schlechter
Doch diese Lücken in der Forschung können lebensbedrohlich sein. Bei einem Mittel gegen Herz-Kreislauf-Beschwerden wurde Ende der 1990er-Jahre festgestellt, dass das Medikament das Leben von Frauen sogar verkürzt. Ein anderes Beispiel aus den USA: Während Männer ein Schlafmittel gut vertrugen, baute sich der Wirkstoff bei Frauen sehr viel langsamer ab. Dies wurde jedoch erst bemerkt, nachdem sich Autounfälle von Frauen häuften, die am Vorabend das Mittel genommen hatten. Häufig ist bei Frauen schon die Hälfte der Dosierung ausreichend, da bei ihnen Stoffwechsel und Verdauung langsamer funktionieren, die Wirkstoffe damit auch langsamer abgebaut werden und länger im Körper verbleiben. Einige Therapien sind bei Frauen ebenfalls weniger effektiv. So schützt beispielsweise Aspirin gesunde Männer vor einem Herzinfarkt, zeigt bei Frauen aber nur wenig Wirkung. Auf Anästhetika reagieren Frauen zum Teil schlechter als Männer und haben nach Betäubungen stärkere Probleme.
Andere Symptome, falsche Diagnosen
Genauso wie Medikamente sind auch viele Krankheiten bei Frauen nicht ausreichend erforscht. Im Schnitt bekommen sie Krankheiten sogar erst vier Jahre später als Männer diagnostiziert. Der als typische Männerkrankheit geltende Herzinfarkt ist unter Frauen fast genauso häufig verbreitet. Und sie sterben viel öfter daran. Ursächlich ist, dass Frauen seltener die als typisch geltenden Symptome zeigen. Selbst wenn diese auftreten, werden sie häufig auf psychische Probleme wie Stress oder Depression oder die Wechseljahre zurückgeführt und nicht ernst genommen – und zwar von medizinischem Personal wie auch von den Patientinnen selbst. Ein 65-jähriger Mann mit ausstrahlendem Brustschmerz und Kurzatmigkeit, sprich Herzinfarkt wird beispielsweise nach 3,5 Stunden in die Klinik eingeliefert. Bei gleichaltrigen Frauen mit Engegefühl in der Brust, Übelkeit und Schmerzen im Oberbauch vergehen im Durchschnitt 4,5 Stunden, bis sie in der Notaufnahme sind. Neben unterschiedlichen Symptomen basieren falsche Diagnosen bisweilen auch auf geschlechtlichen Vorurteilen. Zum Beispiel wird das „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“, kurz ADHS, dem Bild eines zappelnden Jungen folgend in Deutschland etwa viermal häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert. Dabei haben Mädchen anscheinend nicht seltener ADHS, sondern zeigen einfach andere Symptome.
Lösung: Mehr Geld und Gendermedizin
Doch wie den Gender Health Gap schließen? Um Anreize für eine weiblichere Medizin zu schaffen, müsste die teurere geschlechterspezifische Forschung mit mehr Geld unterstützt werden. Eine weitere Lösung wäre die Gendermedizin, die biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern berücksichtigt. Dazu müsste sie jedoch auch den Weg an die Universitäten und in die Lehre finden. Bislang taucht die Gendermedizin allerdings nur punktuell in den medizinischen Fakultäten auf, in den Köpfen der Medizinstudierenden ist sie kaum angekommen. Die Ampelkoalition hat sich die Integration in Studium und Ausbildung der Gesundheitsberufe sowie die gleiche medizinische Versorgung aller Geschlechter auf die Fahnen geschrieben. Wann und wie lässt sie allerdings noch offen.
Angebot der AOK PLUS: Clarimedis und ärztliche Zweitmeinung
Und was kann Frau persönlich tun? Erste Anlaufstelle bei Fragen und Beschwerden ist natürlich immer die Hausärztin oder der Hausarzt. Wer sich jedoch nicht ernst genommen fühlt und missverstanden, sollte nicht zögern und sich eine neue Praxis suchen. Sofern weiterhin Fragen oder Unklarheiten zu Diagnose, Therapie oder Medikamenten nach einem Termin beim Arzt bestehen, dann hilft das medizinische Info-Telefon Clarimedis der AOK PLUS.
„Gerade bei untypischen Nebenwirkungen von Medikamenten sollten Frauen nachfragen. Kann es bei mir anders wirken, da ich eine Frau bin? Auf den Beipackzetteln steht meist etwas zu Kindern und Schwangeren, aber nicht explizit zu Frauen. Da steht der Mensch – und wir wissen, dass damit der Mann gemeint ist.“
Doc Felix
Zusätzlich unterstützt die Gesundheitskasse eine zweite ärztliche Meinung bei lebensverändernden Diagnosen oder im Vorfeld anstehender Operationen zu erhalten, zum Beispiel bei Krebserkrankungen, operativen Eingriffen an Herzklappen oder Operationen an der Wirbelsäule. Die AOK PLUS hilft, den für eine zweite Meinung geeigneten Arzt zu finden und trägt die Kosten für die Beratung.
Kommentare (1)
Rain Man
am 11.03.2023 um 09.31 Uhr
Ich arbeite seit über 20 Jahren in der klinischen Forschung und kann das, zumindest für die Onkologie, nicht bestätigen. Bis auf geschlechtstypische Krebsformen wie Prostata- oder MammaCa werden immer beide Geschlechter einbezogen und spätestens in der Phase 3 auch als Subgruppenanalysen getrennt ausgewertet. Allerdings gibt es viele Krebsarten, die deutlich häufiger bei einem Geschlecht vorkommen, zB immer noch beim Lungenkrebs. Naturgemäß sind dann auch mehr Patienten dieses Geschlechts in den Studien vertreten.
Von der vorwiegenden Verwendung von männlichen Tieren in der Präklinik auf fehlende Informationen zu unerwünschten Wirkungen zu schließen, finde ich unzulässig. Die Liste der Nebenwirkungen in den Fachinformationen fußt auf den Studien am Menschen.
Ein Fortschritt in der Lage könnte evtl erzielt werden, wenn die o.g. Informationen zu Subgruppenanalysen in den Fachinformationen dargestellt werden müssten. Dazu müsste der Arzt aber auch die Fachinformation lesen, bevor das Medikament verschrieben wird.