Multidisziplinäre Primärversorgung: Für eine gerechtere, patientenzentrierte und nahtlose Versorgung
Ziel der Daseinsfürsorge muss es sein, allen Menschen, unabhängig von Geschlecht, Alter, Sprache, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, Erkrankung, Wohnort und sozialem Status, einen einfachen, zeitnahen und barrierefreien Zugang zur qualitätsgesicherten Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.
1. Unsere Mission: Gleicher und zeitnaher Zugang für alle
Die Ausgangslage: Die Versorgungslandschaft im deutschen Gesundheitswesen ist fragmentiert, unkoordiniert – und für viele Patient:innen, besonders vulnerable Gruppen, schwer zugänglich. Statt patientenzentrierter Versorgung sind die Wartezeiten für Behandlungstermine aus dem Ruder gelaufen, so dass eine zeitnahe Behandlung verzögert wird und Behandlungsqualität verlorengeht. Durch die fast künstliche Verknappung der Arzttermine wird auch das Vertrauen der Patient:innen in die Ärzteschaft belastet.
GKV-Versicherte sind strukturell benachteiligt:
- durch eingeschränkten Zugang zur Versorgung
- bei der Vergabe ärztlicher/fachärztlicher Behandlungstermine - durch die zum Teil völlig unangemessenen Wartezeiten auf Behandlungstermine und lange Wartezeiten in der Arztpraxis selbst
- aufgrund mangelnder Koordination, Kooperation und Kommunikation im Behandlungsverlauf
Das Argument fehlender Kapazitäten trägt nicht weit: So warten Menschen in den Niederlanden in etwa ebenso lange auf einen Termin bei Fachärzt:innen wie in Deutschland – obwohl deren Anzahl in Relation zur Bevölkerungszahl in unserem Nachbarland rund ein Viertel geringer ist. (OECD 2020; Arentz 2017)
Insbesondere für Neupatient:innen hat sich der Zugang zusehends zum Negativen entwickelt. Im Fünfjahresvergleich berichten 43 Prozent der gesetzlich Versicherten, dass sich die Wartezeiten auf einen Termin in Fach- und Hausärztepraxen verschlechtert haben (GKV-Spitzenverband 2025). Weder die ärztliche Selbstverwaltung noch der Gesetzgeber haben bislang ausreichend Verantwortung übernommen, um diese erheblichen strukturellen Versorgungsdefizite wirksam zu adressieren.
Die aktuell diskutierte Rückkehr zur Überweisungspflicht greift zu kurz – sie reaktiviert alte Steuerungsmechanismen, ohne neue Versorgungsrealitäten abzubilden.
Auch die Entbudgetierung einzelner Fachrichtungen, etwa in der Kinder- oder hausärztlichen Versorgung, hat keine nachweisbare Qualitätsverbesserung gebracht. Finanzielle Mittel wurden hier verteilt, ohne sie klar an Reformziele zu binden.
„Die AOK Rheinland/Hamburg fordert eine zeitlich verbindliche Primärversorgungsreform möglichst bis 2029.“
2. Zielbild: Ein interdisziplinäres Primärversorgungsmodell
Deutschland braucht ein zukunftsfähiges, patientenzentriertes Modell der Primärversorgung – Anregungen geben dazu auch andere europäische Länder: Dort sind multidisziplinäre Teams, kürzere Wartezeiten bei Behandlungsterminen und eine strukturierte Patientensteuerung längst Versorgungsstandard.
Die AOK Rheinland/Hamburg fordert eine zeitlich verbindliche Primärversorgungsreform bis spätestens 2029.
Sie soll auf folgenden Prinzipien beruhen: Teamorientierung und Interdisziplinarität: Allgemein- und Hausärztinnen arbeiten in kooperativen Versorgungseinheiten mit Kinderärzten, Gynäkologinnen, Dermatologinnen, Psychotherapeuten sowie Pflegefachpersonen (z. B. Community Health Nurses, Advanced Practice Nurses), Physiotherapeutinnen, Pharmazeutinnen/Apothekern. Die Ausgestaltungen solcher Primärversorgungszentren mit fachärztlichem Anteil und weiteren Gesundheitsberufen müssen zu den jeweiligen örtlichen Anforderungen passen.
- Strukturelle Förderung: Ein gezieltes Investitionsprogramm unterstützt den Aufbau größerer, multiprofessioneller Einrichtungen mit tragfähiger Infrastruktur.
- Patientenzentrierte Navigation: Ersteinschätzungen – telefonisch oder digital – steuern Patientinnen und Patienten bedarfsorientiert zur richtigen Versorgungseinheit.
- Navigation und Kooperation mit spezifischen fachärztlichen Leistungen (auch mit der Möglichkeit des digitalen Zuschaltens).
- Ziel: Passbarkeit, Schnelligkeit und Qualität.
- Aufgabenumverteilung und neue Rollen: Pflegefachpersonen sollen rechtlich abgesicherte, eigenverantwortliche Aufgaben übernehmen – auf Augenhöhe und mit echtem Handlungsspielraum.
- Flexibler Zugang ohne Einschreibepflicht: Die freie Arztwahl bleibt erhalten.
Ein modernes Primärversorgungssystem muss offen und niedrigschwellig sein, nicht bürokratisch und blockierend.
3. Politischer Kontext und Ausblick
Seit 2004 ist das Hausarztsystem in Deutschland gesetzlich freiwillig. Der aktuelle Koalitionsvertrag sieht nun die Einführung eines verbindlichen, aber weiterhin wahlfreien Systems vor. Die Steuerung soll durch strukturierte Ersteinschätzungen erfolgen – unterstützt von digitalen Anwendungen und Telemedizin.
Ein Gesetzentwurf wird für 2026 erwartet. Doch gesetzliche Regelungen allein
reichen nicht aus. Es braucht
- gezielte begleitende Investitionen,
- einen verlässlichen Zeitplan und
- den politischen Willen zur Umsteuerung.
Deutschland muss weg von einer fragmentierten Überweisungslogik – und hin zu einem integrierten, lernenden, patientenzentrierten und digital befähigten Primärversorgungssystem. Das würde auch die Qualität in der Primärversorgung selbst deutlich verbessern. Ineffizienzen würden beseitigt und mittelfristig Kosten reduziert.
Der Abbau der deutlichen Defizite bei den Behandlungsterminen hängt von der guten Organisation der ärztlichen Versorgung ab und einer stringenten Umsetzung. Die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte ist insbesondere im Vergleich zum EU-Ausland nicht der dominante Faktor. Die Einführung einer zukunftsfesten Primärversorgung trägt dazu bei, die Defizite bei der Terminvergabe zu reduzieren.