„Die größte Barriere für eine gesündere Lebensweise ist nicht fehlendes Wissen, sondern innere Blockaden.“
Obwohl viele Menschen wissen, was ihrer Gesundheit guttut, fällt es ihnen schwer, im Alltag entsprechend zu handeln. Warum das so ist – und wie wir unser Verhalten langfristig verändern können – erklärt Neuromarketing-Experte Dr. Peter Steidl im Gespräch mit AmPuls.

Dr. Steidl, von wegen Friede, Freude, Eierkuchen: Wir haben eine Pandemie überstanden, aber Kriege und Krisen rücken näher. Auch wenn es uns hierzulande gut geht, befindet sich unsere Gesellschaft im Dauerstress. Wie geht es den Menschen aus Ihrer Sicht?
Ich sehe eine große Unsicherheit. Die Stärken, auf die Deutschland wirtschaftlich lange bauen konnte – etwa im Maschinenbau oder der Automobilindustrie – stehen unter Druck. Und die Erwartung, dass sich die Lage weiter verschlechtert, erzeugt enormen Stress. Studien zeigen: Die Erwartung, dass etwas Schlechtes passieren könnte, führt zu einem noch höheren Cortisolspiegel als das negative Ereignis selbst. Wir leben also in einer Art mentalem Alarmzustand – und das ist sehr schädlich für unsere Gesundheit, physisch wie psychisch.
Viele Menschen sehnen sich nach mehr Wohlbefinden. Trotzdem fällt es ihnen oft schwer, aktiv etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Woran liegt das?
Man sagt ja oft, die Leute hätten keine Motivation – aber das stimmt so nicht. Die meisten Menschen wissen, dass sie sich gesünder ernähren oder mehr bewegen sollten. Studien zeigen: 79 Prozent der übergewichtigen Menschen in Deutschland möchten abnehmen. Auch beim Thema Stress oder Bewegung ist der Wunsch zur Veränderung grundsätzlich da. Aber zwischen dem Wunsch und der Umsetzung klafft eine Lücke. Anfangs sind viele noch motiviert – man startet mit Elan, sieht vielleicht erste Fortschritte. Aber dann verlangsamt sich der Fortschritt, der Alltag holt einen ein – und die alten Gewohnheiten schleichen sich wieder ein. Das Verhalten kippt zurück.
Warum ist es so schwierig, diese alten Muster dauerhaft zu durchbrechen?
Weil Verhaltensveränderung eine komplexe Herausforderung ist. Die größte Hürde für eine gesündere Lebensweise sind nicht fehlende Informationen, sondern innere Barrieren: mangelnde Willenskraft, Stress, tief verankerte Gewohnheiten. Wenn ich gestresst bin, treffe ich keine guten Entscheidungen – dann ist die Tüte Chips eben greifbarer als der Spaziergang. Oder ich sage mir: „Ich habe es wieder nicht geschafft – also lasse ich es ganz.“ Dieses Rückfall-Muster ist sehr typisch.
Was passiert dabei im Gehirn?
Wir haben vereinfacht gesagt zwei „Gehirne“: ein schnelles, intuitives System und ein langsames, rationales System. Das intuitive System ist Millionen Jahre alt, reaktiv und unbewusst – es reguliert Erinnerungen, körperliche Funktionen, automatische Abläufe. Das rationale System ist jünger, bewusster, analysierend – aber langsam und kapazitätsbegrenzt.
Wenn wir ein neues Verhalten lernen, zum Beispiel beim Autofahren, ist am Anfang das rationale System gefragt: Welche Taste? Welches Pedal? Das kostet Energie. Aber mit der Zeit übernimmt das intuitive System – dann fahren wir, ohne bewusst darüber nachzudenken. Genauso funktioniert es bei Verhaltensänderung: Wenn wir regelmäßig üben, übernimmt das intuitive System irgendwann die Kontrolle – dann wird gesundes Verhalten zur Gewohnheit.
Was braucht es also, um diesen ersten Schritt wirklich zu machen – und langfristig dranzubleiben?
Der entscheidende Punkt ist: Es reicht nicht, sich einfach nur vorzunehmen, weniger zu essen oder mehr Sport zu treiben. Wir müssen an den Barrieren arbeiten, die uns bislang daran gehindert haben. Dazu gehören fehlende Willenskraft, Stress oder bestimmte Denk- und Handlungsmuster. Das lässt sich trainieren – aber es braucht gezielte, einfache und effektive Interventionen, die in den Alltag passen.
Haben Sie ein Beispiel für so eine Intervention?
Es gibt Techniken wie die sogenannte „Box-Breathing“-Methode, die beispielsweise auch vom Militär eingesetzt wird. Sie dauert nur 16 Sekunden, lässt sich unauffällig überall anwenden und hilft, Stress zu unterbrechen. Solche Übungen wirken sofort, ohne dass ich dafür ein großes Ritual oder Equipment brauche. Entscheidend ist, dass ich sie regelmäßig mache – dann übernehmen die neuen Muster langsam die Kontrolle im Gehirn.
Das heißt: Durch Wiederholung und Training werden neue Verhaltensweisen irgendwann zur Routine?
Genau. Wenn ich etwa bei Stress immer dieselbe kurze Atemübung mache, verankert sich das im intuitiven System. Irgendwann reagiert mein Körper automatisch – ich spüre den Stress und starte die Übung, ohne darüber nachzudenken. Das ist das Ziel. So wie man beim Autofahren automatisch auf die Bremse tritt, wenn die Ampel rot wird.
Und das stärkt langfristig auch die Willenskraft?
Ja. Neuroplastizität spielt hier eine wichtige Rolle. Das Gehirn passt sich an, wenn wir bestimmte Areale regelmäßig nutzen. Wenn ich immer wieder meine Fähigkeit zur Selbstregulation trainiere, werden diese Netzwerke stärker – und ich werde belastbarer, disziplinierter, stressresistenter. Es gibt viele Studien, die das belegen.
Das klingt machbar – aber auch nach etwas, das professionelle Begleitung braucht.
Absolut. Die meisten Menschen wissen zwar ungefähr, wo sie hinwollen – aber nicht, wie sie die Hürden überwinden können. Genau hier liegt die große Chance für Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… wie die AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… PLUS: Nicht nur Programme bereitstellen, sondern die Mitglieder dabei unterstützen, ihre Barrieren zu erkennen und gezielt daran zu arbeiten.
Was bedeutet das konkret für Gesundheitsangebote?
Nehmen wir ein Beispiel: Jemand hat Rückenschmerzen. Wenn er merkt, dass eine bestimmte Übung wirklich hilft, macht er sie gerne weiter – weil der Effekt spürbar ist. Aber bei vielen Präventionsangeboten fehlt dieser unmittelbare Effekt. Das heißt, der Nutzen ist da, aber er wird durch innere Barrieren blockiert. Wenn wir diese Barrieren abbauen, steigt die Wirksamkeit der Programme massiv.
In Deutschland ist die Gesundheitskompetenz zuletzt deutlich gesunken. Drei von vier Menschen tun sich schwer damit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen oder anzuwenden. Was läuft hier schief?
Das Hauptproblem ist: Wir leben in einer Zeit der Informationsüberflutung. Jeder hat Zugriff auf Gesundheitsinformationen – aber kaum jemand weiß, welche davon wirklich verlässlich sind. Und viele Angebote sind kompliziert, abstrakt oder theoretisch. Die Menschen brauchen etwas, das sie direkt betrifft, das sie emotional anspricht und das sie auch umsetzen können.
Du sprichst oft von „Relevanz“ – was meinst du damit genau?
Relevanz bedeutet: Die Information passt genau zu meiner aktuellen Lebenssituation. Wenn ich zum Beispiel Rückenschmerzen habe, will ich keine allgemeine Broschüre über Ergonomie, sondern eine konkrete Hilfe, die mir jetzt etwas bringt. Und ich will wissen, dass es für mich persönlich passt. Das ist die Stärke eines gut gemachten Selfchecks: Er zeigt mir, was für mich gerade wichtig ist.
Wie sollte so ein Selfcheck gestaltet sein, damit er wirklich funktioniert?
Ein guter Self-Check leistet zwei Dinge: Erstens hilft er mir, das passende Programm für meine Situation zu finden. Und zweitens macht er mir bewusst, welche inneren Barrieren mich bisher blockiert haben – etwa fehlende Willenskraft, Stress oder alte Gewohnheiten. Wenn man das weiß, kann man gezielt ansetzen. Idealerweise zeigt der Check auch gleich Möglichkeiten auf, wie man diese Hürden überwinden kann.
Aber sagen die Menschen in einem Selfcheck wirklich ehrlich, wo sie stehen?
Gute Frage. Viele Menschen antworten in solchen Tests so, wie sie glauben, dass sie antworten sollten. Das heißt: Die Ergebnisse zeigen oft nicht, was jemand wirklich denkt oder fühlt. Es gibt aber wissenschaftliche Methoden – wie den sogenannten Reaktionszeit-Test –, mit denen sich zusätzlich zu den bewussten Antworten auch unbewusste Haltungen messen lassen. Damit bekommt man ein sehr viel klareres Bild und kann den Menschen wirklich helfen.
Was kann die AOK PLUS konkret tun, um hier weiterzukommen?
Ich finde, die AOK PLUS hat eine große Stärke: Sie verfolgt keine kommerziellen Ziele, sondern will ihren Mitgliedern wirklich helfen. Das schafft Vertrauen. Wenn ihr jetzt Programme entwickelt, die sowohl auf das Verhalten als auch auf die Barrieren eingehen – und wenn ihr diese mit einem intelligenten, datenbasierten Selfcheck kombiniert –, dann habt ihr ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Und das Beste: Die Wirksamkeit der bestehenden Programme steigt automatisch, wenn sie besser zu den individuellen Bedürfnissen passen.
Sie haben gesagt, dass viele Programme effektiver wären, wenn sie besser auf die individuellen Barrieren der Menschen eingehen würden. Gilt das auch für die Arbeitswelt?
Unbedingt. In Unternehmen sehen wir oft das gleiche Muster: Viele Beschäftigte leiden unter Dauerstress, fühlen sich überfordert oder wenig engagiert. Studien wie der Gallup Engagement Index zeigen seit Jahren, dass über 75 Prozent der Mitarbeitenden in Deutschland innerlich gekündigt haben – das ist eine Katastrophe, auch wirtschaftlich.
Und das betrifft auch die Gesundheit?
Klar. Wer unter Dauerstress steht, schläft schlechter, isst ungesünder, bewegt sich weniger. Das ist ein Kreislauf. Wenn man diese Dynamik unterbricht – etwa durch mentale Trainings oder gezielte Programme zur Stressbewältigung – kann das enorm viel bewirken. Und das zahlt sich auch für Unternehmen aus: Produktivität steigt, das Betriebsklima verbessert sich, Fehlzeiten sinken.
Wie sieht ein gutes Beispiel dafür aus?
Ein Beispiel ist ein Burnout-Selfcheck, den wir gerade entwickelt haben. Der funktioniert zweigleisig: Mitarbeitende können für sich prüfen, wie hoch ihr Risiko ist – und bekommen konkrete Tipps, wie sie gegensteuern können. Gleichzeitig bekommt das Management Hinweise darauf, welche Ursachen im Unternehmen zu Burnout führen – und wie man strukturell gegensteuern kann. Nur wenn beide Seiten einbezogen werden, kann man Burnout wirklich wirksam begegnen.
Gesundheit beginnt also nicht erst beim Arzt, sondern viel früher – etwa in der Schule?
Ja! Gesundheitskompetenz muss früh ansetzen. Jugendliche sind in einer extrem sensiblen Lebensphase. Ihr Gehirn ist in der Umbauphase, vieles ist unsicher, die emotionale Steuerung ist stärker ausgeprägt als die rationale Kontrolle. Wenn wir hier gezielt ansetzen, können wir viel bewirken – nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für die Persönlichkeitsentwicklung.
Wie könnte ein solches Schulprogramm aussehen?
Man sollte dort anfangen, wo Jugendliche sich wirklich angesprochen fühlen – etwa beim Thema „Wie funktioniert mein Gehirn?“, „Warum fühle ich mich oft so, wie ich mich fühle?“ oder „Was kann ich tun, wenn ich überfordert bin?“. Wenn sie verstehen, was in ihnen passiert, wächst die Bereitschaft, auch etwas zu ändern. Und das muss spielerisch, interaktiv, emotional gemacht werden – nicht mit dem erhobenen Zeigefinger.
Sehen Sie hier auch eine Rolle für Krankenkassen wie die AOK PLUS?
Auf jeden Fall. Die AOK PLUS könnte mit einigen Schulen Pilotprojekte starten, verschiedene Formate testen, evaluieren – und daraus ein richtig gutes, wirkungsvolles Programm entwickeln. Ihr habt den Zugang, die Glaubwürdigkeit und die Ressourcen, um das zu tun. Und das wäre ein echtes Zukunftsprojekt.
Wenn Sie einen Wunsch an die Gesundheitspolitik hättest: Was müsste sich Ihrer Meinung nach grundlegend ändern, damit Gesundheitsförderung in Deutschland wirksamer wird?
Ich wünsche mir eine zentrale Einrichtung, die sich ausschließlich mit der Frage beschäftigt: Wie bringen wir Menschen dazu, das zu tun, was sie selbst eigentlich wollen – aber oft nicht schaffen? Es gibt in Deutschland über 100 „Nudging“-Initiativen, die versuchen, Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen zu bewegen – etwa pünktlich ihre Steuererklärung einzureichen oder während einer Pandemie Masken zu tragen. Aber kaum eine dieser Initiativen beschäftigt sich konsequent mit Gesundheit und Verhaltensänderung im Alltag. Genau hier liegt ein riesiges Potenzial.
Und wer könnte eine solche Rolle übernehmen?
Warum nicht die AOK PLUS? Ihr habt etwas, was Universitäten und klassische Forschungsinstitute nicht haben: Zugang zu echten Menschen, zu Mitgliedern, die mitmachen wollen. Wenn ihr sagt, „Wir möchten ein neues Gesundheitsprogramm testen“, dann habt ihr sofort Hunderte oder Tausende Teilnehmer. Das ist ein riesiger Vorteil – und eröffnet euch die Möglichkeit, fundierte Erkenntnisse zu gewinnen, die in der Praxis funktionieren.
Könnte das auch über die Mitgliedschaft hinaus Wirkung entfalten?
Absolut. Wenn ihr Programme entwickelt, die wirksam sind, könntet ihr sie auch anderen Krankenkassen oder internationalen Partnern zur Verfügung stellen. Das muss ja nicht kommerziell geschehen – aber es würde helfen, die Entwicklungskosten zu tragen und gleichzeitig viele Menschen zu erreichen. Gesundheit ist ein globales Thema, und wenn ihr zeigt, wie man Verhalten wirklich verändert, dann habt ihr etwas sehr Wertvolles in der Hand.
Letzte Frage: Was ist aus Ihrer Sicht das größte Missverständnis, wenn es um Gesundheit geht?
Dass Wissen ausreicht. Viele glauben: „Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll, dann würde ich es auch tun.“ Aber das stimmt nicht. Die eigentliche Herausforderung ist, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu überwinden. Und genau das ist eine Frage der Verhaltenssteuerung – nicht der Informationsvermittlung. Wenn wir es schaffen, den Menschen zu helfen, diese innere Lücke zu schließen, dann haben wir unglaublich viel gewonnen – für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganzes.
Dr. Peter Steidl ist international anerkannter Experte für Neuromarketing, Verhaltensökonomie und strategische Markenführung. Der promovierte Wirtschaftspsychologe hat Regierungen, globale Konzerne sowie Gesundheits- und Sozialorganisationen beraten und zahlreiche Publikationen zu verhaltensbasierter Entscheidungssteuerung veröffentlicht. Er versteht es, Erkenntnisse der Gehirnforschung praxisnah zu übersetzen – etwa wenn es darum geht, Menschen bei nachhaltiger Verhaltensveränderung zu unterstützen. Seine Arbeit verbindet wissenschaftliche Tiefe mit pragmatischer Anwendbarkeit.