Notfallversorgung: Schnell einen Konsens finden
Prof. Christian Karagiannidis begrüßt ein Vergütungssystem, das auch eine qualifizierte Behandlung vor Ort honoriert und nicht nur die Fahrt im Rettungswagen.
Wird der von Ministerin Warken vorgelegte Entwurf zur Notfallreform der große Wurf?
Der Entwurf orientiert sich – ebenso wie der kurz vorher vorgelegte Gesetzesvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – an den umfangreichen Vorarbeiten aus der vergangenen Legislaturperiode. Er greift zahlreiche Empfehlungen der Regierungskommission Krankenhaus Krankenhäuser sind Einrichtungen der stationären Versorgung, deren Kern die Akut- beziehungsweise… , des Sachverständigenrates Gesundheit sowie weiterer medizinischer Fachgesellschaften auf. Das Gesetz hat das Potenzial, die Notfallversorgung in Deutschland spürbar zu verbessern.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen sollen durchgängig eine telemedizinische und eine aufsuchende Versorgung sicherstellen. Was halten Sie davon?
Das ist einer der Schlüssel moderner Notfallversorgung. Erfahrungen aus Niedersachsen zeigen: Rund 80 Prozent der Fälle lassen sich bereits heute telefonisch oder telemedizinisch abschließend behandeln – bei Kindern teils noch mehr. Das entlastet Praxen und Notaufnahmen erheblich. Was fehlt, ist eine funktionierende digitale Infrastruktur: Ärztinnen und Ärzte müssten auf Vorbefunde zugreifen können. Andere Länder sind da schon deutlich weiter.
Flächendeckend sind an ausgewählten Krankenhäusern Integrierte Notfallzentren (INZ) einzurichten.
Was bedeutet das für Hilfesuchende?
INZ gibt es schon an einigen Standorten. Dort entscheidet ein gemeinsamer Tresen nach Ersteinschätzung, ob Patientinnen und Patienten in die Notaufnahme oder in eine Notfallpraxis gehen. Leichte Fälle werden schnell versorgt, während die Notaufnahmen mehr Zeit für Schwerkranke haben. Das ist eine klassische Win-win-Situation für alle Beteiligten. Besonders in Ballungsräumen sollten INZ zügig ausgebaut werden.
„Wir haben zu viele Einzelinteressen, die uns behindern.“
Intensivmediziner, Leitender Oberarzt und Professor für Pneumologie an der Universität Witten/Herdecke
Warum soll die rettungsdienstliche Versorgung nun als eigenständiger Leistungsbereich im Gesetz verankert werden?
Bisher ist die Abrechnung mit den Kassen an den Transport ins Krankenhaus gekoppelt, nicht an die im Einsatz erbrachten medizinischen Leistungen. Das schafft Anreize, Patientinnen und Patienten ins Krankenhaus zu bringen, auch bei Bagatellerkrankungen. Auswertungen zeigen: Über 20 Prozent der mit Blaulicht Eingelieferten verlassen die Klinik noch am selben Tag. Wir brauchen daher ein Vergütungssystem, das auch eine qualifizierte Behandlung vor Ort honoriert, selbst ohne Transport.
Wie will der Bund eine Reform aus einem Guss sicherstellen?
Die föderale Struktur ist der Knackpunkt: Zu viele Leitstellen, zu viele Partikularinteressen – niemand will Kompetenzen abgeben, obwohl das System dadurch effizienter würde. Der Rettungsdienst In Notfällen gewährleistet der Rettungsdienst lebensrettende Maßnahmen und den Transport kranker und… kostet derzeit rund zehn Milliarden Euro jährlich, mit Steigerungen von einer Milliarde Euro pro Jahr. Wenn wir nicht gegensteuern, müssten die gesetzlichen Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… den Zusatzbeitrag Seit 2009 erhalten die gesetzlichen Krankenkassen zur Deckung ihrer Ausgaben Zuweisungen aus dem… alle zwei Jahre um 0,1 Beitragspunkte erhöhen, allein um Rettungstransporte zu finanzieren.
Wie realistisch sind die zeitlichen Vorgaben für die Umsetzung?
Winter für Winter sind die Notaufnahmen überlastet – weitere Verzögerungen kann man niemandem mehr zumuten. Ohne den Bruch der Ampelregierung hätte die Reform längst umgesetzt sein können. Da der Entwurf der Grünen bereits im Bundestag liegt und beide Vorlagen nah beieinander sind, sollten Regierung und Opposition jetzt einen gemeinsamen Konsens finden. Ein Schulterschluss im Sinne der Patientinnen und Patienten würde den Prozess erheblich beschleunigen.