Die Corona-Warn-App: eine Chance für Solidarität

Wissenschaftlicher Beirat für Digitale Transformation

1. Die in Deutschland seit Kurzem zum Download bereitstehende Corona-Warn-App kann mehr bewirken, als viele ihr zutrauen, aber auch weniger leisten, als zuweilen von ihr gefordert wird. Sie „schützt“ nicht vor einer Infektion, sie „erlaubt“ keine flächendeckende Lockerung von Kontaktbeschränkungen und erst recht führt sie zu keiner „Totalüberwachung“ der Bevölkerung. So wie die App aktuell konzipiert und entwickelt ist, bildet sie einen wichtigen Baustein der Strategie, die Verbreitung des Virus zu kontrollieren, damit Schutzmaßnahmen wie Selbst-Quarantäne frühzeitig und damit effektiv sowie die Steuerung von Testkapazitäten bedarfsgerecht ermöglicht werden. Die Ermittlung und Information von Kontaktpersonen nach amtlicher Feststellung der Infektion einer Person mit dem Coronavirus durch die Gesundheitsämter ist mühselig und begrenzt auf namentlich bekannte Kontakte. Demgegenüber ermöglicht die App den schnellen Hinweis auf das erhöhte Risiko einer bereits erworbenen Infektion auch gegenüber Unbekannten, wenn ein Kontakt bestanden hat. So kann diese Person einen aktiven Beitrag dazu leisten, ihr Umfeld, nicht zuletzt besonders Gefährdete unter den eigenen Angehörigen, zu schützen. Gleichzeitig werden die Gesundheitsbehörden vor Ort potenziell entlastet und können wieder ihre weiteren wichtigen Aufgaben (beispielsweise die Einschulungsuntersuchungen und Hygienekontrolle im öffentlichen Raum) für das Gemeinwohl erfüllen.

2. Darüber hinaus kann die Nutzung der App durch große Teile der Bevölkerung das Solidaritätsgefühl stärken: Das mit ihr installierte digitale Warnsystem dient in besonderer Weise – ähnlich wie das Tragen von Mund-Nasen-Masken – sowohl der Sorge um die Mitmenschen als auch den eigenen Interessen. Es erscheint als Zeichen von Umsicht und Achtsamkeit für die Belange anderer Menschen, auch vor dem Auftreten von Krankheitssymptomen bereits Vorsicht walten zu lassen. Wer die App nutzt, schaut in dieser Krise nicht nur auf sich, sondern auch auf andere. Dieses solidarische Verhalten ist nicht zuletzt deshalb so wertvoll, weil es still erfolgt, ohne Aufsehen: Man sieht seinen Mitmenschen nicht an, ob sie die App nutzen, und doch vertraut man darauf, oder erhofft es zumindest.

3. Die Bundesregierung tut gut daran, sowohl die Installation als auch die Nutzung der App (bis hin zur Entscheidung, wie sich Kontaktpersonen von Infizierten nach Empfang des Warnhinweises verhalten) alleine der freiwilligen Entscheidung jedes Einzelnen zu überlassen. Denn zum einen kann die Datenverarbeitung innerhalb der App-Infrastruktur nur so auf den datenschutzrechtlichen Rechtfertigungsgrund der Einwilligung gestützt werden. Zum anderen wirkt jeglicher direkte oder indirekte Zwang potentiell kontraproduktiv, weil damit die Bereitschaft zur Mitwirkung sinken dürfte, was die erwünschte breite Beteiligung in der Bevölkerung gefährden könnte.  Außerdem wäre eine staatliche Pflicht zur Installation und Nutzung der App faktisch nicht vollstreckbar, ohne Prinzipien unserer liberalen Demokratie aufzugeben. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass eine Durchsetzung mit Zwangsmitteln ("Aarogya Setu"-App, Indien) kaum erfolgversprechend ist und eine weniger transparent entwickelte sowie zentral speichernde Lösung ("Stop Covid"-App, Frankreich) ebenfalls Akzeptanzprobleme aufweist.

4. Nun liegt es an der Gesellschaft, diesem auf Freiwilligkeit aufbauenden System Rechnung zu tragen und durch Mitwirkung an dem auf der App basierenden Frühwarnsystem einen eigenen Beitrag zu einer Annäherung mit Augenmaß zu leisten. Vice versa ist es aber dringend geboten, dass der Staat seinerseits durch vertrauensbildende Maßnahmen den Sorgen und Zweifeln der Bürgerinnen und Bürger Rechnung trägt. Hierzu zählen etwa die Gewährleistung höchster Nachvollziehbarkeit (nach der bereits in transparenter Weise erfolgten Open-Source-Entwicklung) auch beim Betrieb der App, Begleitmaßnahmen wie verständliche und mehrsprachige Informationen, Hilfsangebote via Telefon-Hotlines und in ausreichender Zahl verfügbare Covid 19-Tests zur Abfederung der sozialen Folgen der App-Nutzung sowie ein Verzicht auf jedweden Zwang und missbräuchliche Nutzung erhobener Daten. Ebenso gilt es, stets nachzujustieren, soweit sich in der Praxis Verbesserungspotential zeigt.

5. Schließlich müssen auch die gesellschaftlichen sowie die individuellen, auch seelischen Folgen der App-Nutzung im Blick bleiben: Die App-Nutzer dürfen gerade mit einer Meldung, der kürzlich erfolgte Kontakt zu einer als Covid-19-positiv getesteten Person könne eine eigene Infektion zur Folge haben, nicht alleine gelassen oder gar (auch bei der privaten Kommunikation über die App-Nutzung und mögliche Ergebnisse) ausgegrenzt werden. Auch dies ist Ausdruck von Solidarität. Zugleich ist darauf hinzuwirken, dass eine Infektion von der Gesellschaft insgesamt nicht als Makel gewertet wird, da dies die freiwillige Meldung durch die Betroffenen über die App hemmen würde und sich zudem ethisch verbietet. Nicht-Nutzer dürfen ebenfalls nicht stigmatisiert werden. Vielmehr ist die mühselige Arbeit der Überzeugung zu leisten, wo immer dies aussichtsreich erscheint.

Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost

  • Dipl.-Pol. Inga Bergen, Sprecherin
  • Prof. Dr. Dirk Heckmann, Geschäftsführer
  • Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
  • Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
  • Prof. Dr. Stefan Heinemann
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
  • Prof. Dr. Anne Paschke
  • Dipl.-Psychologin Marina Weisband