Ein Portal für offene Sachdaten im Gesundheitswesen

Wissenschaftlicher Beirat der AOK Nordost regt gesellschaftliche Debatte an

1. Wir erleben derzeit Stärken und Schwächen unseres Gesundheitssystems. Mehr denn je zeigt sich die Notwendigkeit einer umfassenden Digitalisierung. Für die lange erwarteten digitalen Innovationen im Gesundheitswesen wurden notwendige Rechtsgrundlagen geschaffen. Einen Fortschritt in der gesundheitlichen Versorgung liefert aber erst die Verfügbarkeit von qualitativ guten, aussagekräftigen, standardisierten Sachdaten zu den Behandlungsmöglichkeiten, zur Ausstattung von Arztpraxen und Kliniken, zu vorhandenen Kapazitäten, Wartezeiten u.v.a.m. Diese Daten müssen direkt (möglichst „tagesaktuell“) abrufbar sein, und zwar dauerhaft und nicht nur während einer Pandemie. So fehlte zum Beispiel am Beginn der Pandemie im ersten Quartal 2020 ein vollständiger Überblick über die intensivmedizinische Versorgungslage in deutschen Kliniken. Mittlerweile gibt es zwar unter www.intensivregister.de eine täglich aktualisierte Tabelle der verfügbaren Intensivbetten und intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Patienten. Unklar bleibt dort aber die entscheidende Verfügbarkeit von Pflegepersonal zur Behandlung dieser Patienten.

2. Die Versorgungsplanung und Kapazitätssteuerung könnte durch ein Portal verbessert werden, in dem relevante Sachdaten bereitgestellt werden. Auf diese Informationen würden nicht nur jene Akteure im Gesundheitswesen zugreifen, die Steuerungsverantwortung tragen – von den Leistungserbringern über die Leistungsträger bis zu den Gesundheitsbehörden –, sondern auch die (verbands-)politisch Verantwortlichen. Im Idealfall könnte sich aber auch jeder Versicherte (Patient) z. B. mittels neuer Apps über die aktuelle Versorgungssituation in Arztpraxen, Kliniken und anderen gesundheitsrelevanten Einrichtungen informieren.

3. Die konsequente Bereitstellung und Auswertung bereits vorhandener Daten würde die gezielte Steuerung der Versorgungsstrukturen und der medizinischen Ausbildung erleichtern. Dies wiederum würde sich positiv auf die unter ethischen und ökonomischen Aspekten anzustrebende Versorgungsqualität
auswirken, weil Krankheiten schneller und besser behandelt werden können. Bislang sind entsprechende Daten oft nur rudimentär und dezentral vorhanden, zuweilen schwer auffindbar und schlecht integrierbar. Grund dafür könnten unterschiedlich ausgeprägte Informationsmöglichkeiten der Leistungserbringer,
kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenkassen und weiterer Institutionen im Gesundheitswesen sein. Dabei gäbe es, nicht zuletzt durch die zunehmende Digitalisierung, genügend Daten, um mehr Transparenz bei Versorgungsleistungen und Behandlungskapazitäten herzustellen und die Kapazitätsplanung sowie die Ausbildung an der sich verändernden Versorgungslandschaft zu orientieren.

4. Das hier vorgeschlagene Portal fügt sich in doppelter Hinsicht in die aktuelle digitalpolitische Entwicklung ein: Zum einen folgt es der Idee der „Open Data“-Initiativen. Öffentliche Daten – zumal solche, deren Datenbasis aus Steuergeldern finanziert wurde – müssen in maschinenlesbarer und standardisierter
Form kostenfrei zur Weiterverarbeitung zur Verfügung gestellt werden. Dies wird derzeit für Verwaltungsdaten umgesetzt und fortentwickelt (Open-Data-Gesetze des Bundes und der Länder, Entwurf eines Datennutzungsgesetzes) und gilt auch für Sachdaten im Gesundheitswesen. Zum anderen unterstreichen die EU-Kommission und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft die Bedeutung eines europäischen Gesundheitsdatenraums. Beispielhaft sei auch auf www.dashboard-deutschland.de verwiesen, wo seit 15.12.2020 unter anderem versorgungsrelevante Sachdaten zur Verfügung gestellt werden.

5. Ein Portal für versorgungsrelevante Sachdaten schafft Transparenz im Gesundheitswesen und bewirkt Zugänglichkeit von sowie Wertschöpfung mit Daten. Auf der Basis solcher Daten lassen sich Anwendungen entwickeln, die einen unmittelbaren Nutzen stiften. Gesundheit ist ein so überragend wichtiges Gut, dass die Zugänglichkeit zu den für sie relevanten Daten für alle gewährleistet sein muss. Überdies fördert das hier vorgeschlagene Portal eine fakten- und evidenzbasierte Diskussion und Meinungsbildung. Bei aller legitimen Offenheit dieser Daten sind Gegeninteressen wie der Schutz von Geschäftsgeheimnissen
oder Sicherheitsbelange zu berücksichtigen. Der Datenschutz ist ohnehin gewahrt: Die im vorliegenden Kontext für die Versorgungsplanung benötigten Daten sind nicht personenbezogen. 

6. Der Aufbau eines „Data-Warehouse“ als Basis für das Portal sollte mit einer Standardisierungsinitiative für die im Gesundheitswesen benötigten und verwendeten Daten auf nationaler, besser noch europäischer Ebene einhergehen. Ohne eine solche Standardisierung werden weder die zeitlich aktuelle Bereitstellung noch die umfassende Nutzung sowie Verarbeitung der Daten möglich sein.

7. Mit der Errichtung des Portals müsste zudem der Aufbau von Datenkompetenz bei den genannten Akteuren einhergehen, um die sich die Krankenkassen und Bildungsträger bemühen könnten. Ohne Kenntnis über den Umgang mit Daten, ihre Interpretation und die Ableitung relevanter Schlussfolgerungen wird der Ertrag des Portals für den einzelnen Nutzer gering sein.

8. Die Konzeption und Umsetzung des hier angedachten Portals dürfte einige Zeit in Anspruch nehmen. Umso wichtiger ist es, bald damit zu beginnen. Das zeigt sich auch an dem dieses Jahr in Kraft getretenen § 68b SGB V, wonach die Krankenkassen Versorgungsinnovationen fördern und entsprechende Daten auswerten sollen. Hierüber hat der Spitzenverband Bund der Krankenkassen dem Bundesministerium für Gesundheit jährlich zu berichten, erstmals bis zum 31. Dezember 2021.

9. Dieses Positionspapier ist bewusst als Anstoß zu einer dringend notwendigen gesellschaftlichen Debatte gedacht. Im Detail (Organisation, Technik, Recht, Akzeptanzstiftung) ist vieles noch offen und auch diskussionswürdig. Im großen Ganzen sieht der Wissenschaftliche Beirat der AOK Nordost jedoch ein großes Potential in der Errichtung eines Portals für offene, versorgungsrelevante Sachdaten und die Entwicklung entsprechender Dashboards. Dies gilt umso mehr, als uns die Pandemie über die Gesundheitsversorgung (einschließlich der noch kaum bekannten, aber erwartbaren Spätfolgen von Covid-19-Erkrankungen) hinaus vor ökonomische und soziale Herausforderungen stellt. Die hier angedachte Effektuierung des Gesundheitswesens kann und soll nicht zuletzt bei der Bewältigung der Pandemiefolgen helfen.

Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost

  • Dipl.-Pol. Inga Bergen, Sprecherin
  • Prof. Dr. Dirk Heckmann, Geschäftsführer
  • Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
  • Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
  • Prof. Dr. Stefan Heinemann
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
  • Prof. Dr. Anne Paschke
  • Dipl.-Psychologin Marina Weisband