Digitalisierung als Gebot der Stunde

Positionspapier des wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost zu den aktuellen Herausforderungen im Angesicht der SARS-CoV-2-Pandemie

1. Die SARS-CoV-2-Pandemie und die mit ihr einhergehenden drastischen, flächendeckenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Geschäftsschließungen forcieren vielfach die Nutzung digitaler Medien und Online-Dienste. Sie zwingen Unternehmen, Institutionen und Behörden zumindest vorläufig zu einer Verlagerung vieler Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse in den virtuellen Raum. Privatpersonen sind in ihrer Rolle als Bürger, Arbeitnehmer, Kunden, Versicherte, Schüler und Studierende etc. ebenfalls betroffen.

2. Je mehr all diese Prozesse bereits zuvor durch die Möglichkeiten der Digitalisierung unterstützt wurden, um so besser sind tendenziell die Herausforderungen, Belastungen und Schäden nun während der Krise zu meistern. Je nach Branche und Modernisierungsstand zeigen sich die Auswirkungen der Pandemie sehr unterschiedlich, von der drohenden Insolvenz vieler auf Kundenkontakt angewiesener Betriebe bis zum „Krisengewinn“ bestimmter Unternehmen, etwa im Online-Handel oder bei Anbietern von Videokonferenzsystemen.

3. Nicht für jedes Tätigkeitsfeld sind Homeoffice und Fernkommunikation geeignet oder rechtlich erlaubt. Aber selbst dort, wo dies möglich ist, entstehen um so größere Probleme, je weniger digitale Prozesse schon vor der Krise etabliert waren.

4. Die Krankenkassen stehen bei dieser Pandemie vor besonderen Herausforderungen. Zum einen gilt es, die eigenen Geschäftsprozesse den stark eingeschränkten Wirkungsmöglichkeiten anzupassen. Zum anderen wollen sie die gesetzliche und ethische Verpflichtung, zur Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens beizutragen, als Gestaltungschance wahrnehmen. Das Gelingen hängt unter beiden Perspektiven in erheblichem Maße von einer wirksamen Nutzung der digitalen Technologien ab. Auf diese Weise können die Krankenkassen ihrer gesetzlichen Aufgabe und gesellschaftlichen Verantwortung besser gerecht werden.

5. Im eigenen Wirkungsbereich gilt es zunächst, den Geschäftsbetrieb durch eine ausreichende Verlagerung der Sachbearbeitung auf Homeoffice-Arbeitsplätze umzustellen und aufrechtzuerhalten; dies dient auch dem Recht auf Gesundheitsschutz der Mitarbeiter (allemal von Angehörigen gefährdeter Personenkreise, wie etwa Menschen mit expliziten Vorerkrankungen). Bei der Anbindung häuslicher Arbeitsplätze legten die Krankenkassen schon vor der Krise größten Wert auf ein hohes Maß an rechtlicher und technischer Sicherheit. Und selbst in der aktuellen Krise mit der Notwendigkeit einer zügigen, pragmatischen Umsetzung dürfen bestimmte Mindeststandards nicht unterschreiten werden. Hierzu zählen insbesondere Leitlinien zum Schutz vor Datenverlust und Datenzugriff Nichtberechtigter, IT-Sicherheitsvorgaben für private Rechner und das häusliche Netzwerk, Maßgaben für verschlüsselte Kommunikation sowie Informationen über IT-Risiken, die besonders bei der dienstlichen Nutzung eines privaten Rechners entstehen.

6. Mit Blick auf die krisenbedingten Herausforderungen für Arztpraxen, Kliniken und weitere Leistungserbringer (aber auch darüber hinaus) zeigt sich die dringende Notwendigkeit eines zügigen, umfassenden Ausbaus digitaler, integrierter Dienste wie Online-Sprechstunden oder qualitätsgesicherte Health-Apps sowie einer effizienten Erfassung und Verarbeitung von Gesundheitsdaten. So sehr es aktuell auf den Ausbau der Intensivbetten und Beatmungsmöglichkeiten für die akute Lebensrettung ankommen mag, so wenig darf versäumt werden, die Gesundheitsversorgung der übrigen Bevölkerung unter den pandemiebedingten Einschränkungen zu gewährleisten. Die Verfügbarkeit digitaler Dienste spielt im Leben mit Kontaktbeschränkungen eine zentrale Rolle. Aber auch die zeitnahe Verarbeitung von Daten ist für die logistische Bewältigung eines stark geforderten Gesundheitssystems von großer Bedeutung.

7. Neben der unmittelbaren Belastung des Gesundheitssystems durch COVID-19-Patienten darf nicht übersehen werden, dass die mittelbaren Folgen der Pandemie durch die Verschleppung behandlungsbedürftiger Krankheiten, speziell auch im psychischen Bereich, fatal sein können. Auch dies spricht für einen unverzüglichen Ausbau der digitalen Versorgung, mit der es gelingen kann, Menschen aus ihrer Isolation zu holen, ihnen Ängste zu nehmen sowie materielle und seelische Zuwendung und Perspektiven zu geben. Dies reicht von der Ermöglichung sinnstiftender Arbeit über die digitale Bildung von Schülern bis zur Integration von Versorgungsleistungen in das private Umfeld. Solche äußerst sinnvollen Angebote haben auch einen erheblichen Präventionseffekt zur Entlastung des Gesundheitssystems, nicht nur während, sondern auch nach der Krise.

8. Die Bewältigung der Pandemiefolgen ist eine Herausforderung, zu deren Gelingen die Europäische Union, die Mitgliedstaaten sowie Wirtschaft und Gesellschaft in einer besonderen Solidargemeinschaft beitragen müssen. Solidarität mit den Älteren, Belasteten und weniger Leistungsfähigen ist nicht nur im Hinblick auf die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus geboten, sondern zeigt sich auch in der Unterstützung, die diesen Menschen zuteil wird, wenn sie nun ungewohnte digitale Prozesse verstehen und durchlaufen müssen. Der einzelne Mensch darf dabei auf keinen Fall überfordert werden.

9. Gerade wegen der notwendigen Verlagerung von Aktivitäten in den virtuellen Raum muss die IT-Sicherheit im Sinne der Verfügbarkeit, Vertraulichkeit und Integrität digitaler Dienste und Inhalte gewährleistet sein. So sind alle derzeit mobilisierbaren Kapazitäten darauf zu verwenden, die digitale Infrastruktur (im Gesundheitswesen und darüber hinaus) zu schützen, zu stabilisieren und auszubauen. Der Ausfall, aber auch die Manipulation der vorgenannten, den Pandemiefolgen entgegenwirkenden digitalen Dienste käme einer Katastrophe in der Katastrophe gleich.

10. Auch wenn Digitalisierung – wie geschildert – große Chancen bietet und das Gebot der Stunde ist, bedarf es stets der kritischen Reflexion, wie die Nutzung digitaler Technologien auf die Menschen, die Gesellschaft und die Entwicklung von Staat und Wirtschaft wirkt. Auch – und erst recht – in der Krise bedarf es einer (Technik-) Folgenabschätzung für sämtliche großen Umwälzungen: Technologien sind weder Allheilmittel noch schränken sie per se Freiheitsrechte unverhältnismäßig ein. Was als Maßnahme zum Schutz der Menschen jeweils geboten und was nicht mehr opportun ist, muss im weltumspannenden Lernprozess um Ursachen und Wirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie ständig neu bewertet und ausgehandelt werden. Dabei müssen wissenschaftliche Expertise und politische Verantwortung – auch bei der Gewährleistung einer validen Datenbasis - Hand in Hand gehen. Die Krankenkassen könnten in diesem Kontext eine besondere (Wissens-) Vermittlerrolle für die Versicherten und die Leistungserbringer übernehmen

Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost

  • Dipl.-Pol. Inga Bergen, Sprecherin
  • Prof. Dr. Dirk Heckmann, Geschäftsführer
  • Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
  • Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
  • Prof. Dr. Stefan Heinemann
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
  • Dipl.-Psychologin Marina Weisband