Wie geht es weiter in der Pflege?
Die angespannte Finanzlage der Pflegeversicherung, Engpässe in der Versorgung und angekündigte tiefgreifende Strukturreformen werfen Fragen auf, wie es mit der Pflege in Deutschland weitergeht. Robert Ringer, Hauptabteilungsleiter Medizinprodukte-Pflege-Zahnärzte bei der AOK Hessen, ordnet die aktuellen Diskussionen ein. Hierbei erkennt er ermutigende Zeichen, den Reformstau anzugehen.
Herr Ringer, wie sieht aus Ihrer Sicht die aktuelle Lage in der Pflege aus?
Bevor der Fokus nur auf Problemen liegt, möchte ich betonen, dass die Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung wurde 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt. Ihre Aufgabe… eine Errungenschaft des Sozialstaates ist, die es seit nunmehr 30 Jahren gibt und um die uns viele Länder der Welt beneiden. Über 5,6 Millionen Pflegebedürfte – allein hier in Hessen mehr als 423.400 Menschen – und unzählige Angehörige profitieren von den Leistungen. Gleichzeitig ist die Situation in der pflegerischen Versorgung aber ernst. Wir laufen auf einen Versorgungsengpass zu und die Finanzierung läuft zunehmend aus dem Ruder.
Welche Herausforderungen sehen Sie in der pflegerischen Versorgung in Hessen als die drei größten an?
Zuvorderst: Ein starker Anstieg des Versorgungsbedarfs, besonders im ambulanten Bereich. Die Prognosen zeigen einen signifikanten Zuwachs pflegebedürftiger Menschen in Hessen bis 2030. Wir erwarten eine Steigerung um mehr als zehn Prozent. Der größte Druck entsteht im ambulanten Bereich, wo ein landesweiter Mehrbedarf prognostiziert wird.
Zweitens: Der Fachkräftebedarf und regionale Versorgungsunterschiede. Bereits heute besteht ein spürbarer Mangel an Pflegefachkräften. Kombiniert mit kleinräumigen Unterschieden in Infrastruktur und Angebot drohen Versorgungslücken in Teilen des Landes. Das macht die Sicherstellung flächendeckender und bedarfsgerechter Dienste schwierig.
Und drittens: Der unzureichende Steuerungs- und Verhandlungsrahmen zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern, besonders im ambulanten Bereich. Für die ambulante Versorgung fehlen oft verbindliche Eckpunkte und Orientierung, etwa klare Vergütungs-, Leistungs- und Kooperationsstandards. Das verzögert notwendige Vereinbarungen zwischen Anbietern und Kostenträgern und erschwert kurzfristige, passgenaue Lösungen vor Ort. Hier sind konkrete Verhandlungs- und Steuerungsprozesse erforderlich.
Die Kombination aus der steigenden Nachfrage, Personalknappheit und fehlender verbindlicher Steuerung schafft akuten Handlungsdruck, insbesondere für die ambulante häusliche Versorgung, die den größten Anteil der Pflegeleistungen umfasst. Deshalb sind gezielte Landesmaßnahmen und abgestimmte Verhandlungsprozesse auf regionaler Ebene dringend notwendig.
Welche Wege geht das Land Hessen, um die Pflege zukunftsfest zu machen?
Das Land Hessen verfolgt einen mehrgleisigen Ansatz, die Versorgung bedarfsgerecht zu planen, regionale Strukturen zu stärken und Unterstützungsangebote für Angehörige auszubauen. Es geht um drei Kernelemente: Zunächst ist eine regionale Bedarfsermittlung und Förderplanung wichtig. Auf Basis des Hessischen Pflegeberichts werden kleinräumige Analysen genutzt, um passgenaue Maßnahmen zu entwickeln und einen Landesförderplan Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… zu entwickeln. Zweitens müssen die ambulanten Strukturen gestärkt und entlastende Angebote geschaffen werden. Vorrang hat die Sicherstellung der häuslichen Versorgung – zum Beispiel der Ausbau von Tages- und Kurzzeitpflege Kann die häusliche Pflege zeitweise nicht, noch nicht oder nicht in dem erforderlichen Umfang… , Entlastungsangeboten und Pflege-WG-Strukturen, weil hier der größte Zuwachs an Bedarf erwartet wird. Und letztlich müssen Fachkräfte gewonnen beziehungsweise ausgebildet werden. Die Maßnahmen reichen von Ausbildungs- und Rekrutierungsinitiativen bis zu regionalen Qualifizierungsangeboten und arbeitsorganisatorischen Verbesserungen, um den Personalmangel langfristig zu dämpfen.
Wird das ausreichen?
Ein wichtiger zusätzlicher Punkt ist die Steuerung, Kommunikation und Mitgestaltung. Damit diese Maßnahmen Wirkung entfalten, muss die Landesebene nicht nur Konzepte liefern, sondern auch Mitgestaltungs- und Verhandlungsräume aktiv füllen. Dazu gehört es, partizipative Formate, wie einen regelmäßigen Austausch zwischen Land, Kommunen, Leistungserbringern, Kranken- und Pflegekassen sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren institutionalisiert auszubauen. Dabei müssen echte Mitwirkungsmöglichkeiten gewährleistet werden. Es braucht Mut zur Positionierung, auch um aus erfolgreichen Pilotprojekten zu dauerhaften Strukturen zu kommen. Landespolitische Initiativen sollten Entscheidungsstärke zeigen und dort, wo es nötig ist, konkrete Neuerungen umsetzen. Die genannten Schritte würden die Landespolitik handlungsfähiger machen, Prozesse beschleunigen und die notwendigen Orientierungspunkte für die Versorgung schaffen. Von der Praxisseite wird dies dringend benötigt. Die Aktivitäten auf Landesebene werden dann mittelfristig zu Verbesserungen in der pflegerischen Versorgung beitragen. Klar ist jedoch auch: Vieles muss auf Bundesebene über Änderungen des SGB XI angegangen werden. Es braucht weitergehende Schritte, auch in Richtung einer Strukturreform.
Gutes Stichwort: Das Bundesgesundheitsministerium hat eine Bund-Länder-AG Pflege ins Leben gerufen, die zum Ende des Jahres Eckpunkte eine tiefgreifende Reform der Pflegeversicherung erarbeiten soll. Welche Erwartungen hat die AOK Hessen an die Kommission?
Es ist erfreulich, dass sich Bund und Länder endlich dem Reformstau in der pflegerischen Versorgung widmen. Die AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Gemeinschaft hat bereits umfangreiche Vorschläge zur Weiterentwicklung der Pflege in Deutschland erarbeitet und an die Politik adressiert. Auch wenn die GKV nicht in der Bund-Länder-AG direkt vertreten ist, erwarten wir eine eingehende Auseinandersetzung mit unseren Vorschlägen. Die AOK Hessen fordert eine Flexibilisierung des Leistungsrechts sowie die Aufhebung der Sektorengrenzen und setzt sich für eine stärkere regionale Zusammenarbeit von Kommunen, Kranken- und Pflegekassen ein. Zudem muss die Prävention Prävention bezeichnet gesundheitspolitische Strategien und Maßnahmen, die darauf abzielen,… in der Pflege gestärkt werden. Ich bin optimistisch, dass zum Ende des Jahres ein Konsens ersichtlich wird und weiterreichende Vorschläge einer Strukturreform auf den Weg gebracht werden.
Herr Ringer, wir danken Ihnen für das Gespräch.
