Diagnose zwischen Reform und Realität
Beim WIdO-Symposium diskutierten Politiker und Wissenschaftler über die Zukunft der Versorgungsqualität in Deutschland. Themen waren die Krankenhausreform, die Rolle von Routinedaten und der Abschied von Jürgen Klauber, der das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) über Jahrzehnte geprägt hat.

Die Versorgungsqualität in Deutschland steht an einem Wendepunkt – zwischen politischem Stillstand, strukturellen Reformen und dem Ruf nach mehr Transparenz. Das ist das Fazit nach einer Podiumsdiskussion am Mittwochabend im Haus des AOK-Bundesverbandes in Berlin. Kern der Debatte war das Krankenhausreform-Anpassungsgesetz (KHAG). Der Entwurf konnte gestern nicht wie geplant im Kabinett verabschiedet werden. Es gebe noch „kleineren Beratungsbedarf“, hatte Vize-Regierungssprecher Sebastian Hille die Verzögerung begründet.
Die Kontroverse zwischen Mitgliedern der Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD, der Oppositionspartei Die Linke und AOK-Vorständin Carola Reimann drehte sich weniger um die grundsätzliche Reformnotwendigkeit, sondern vielmehr um die Frage, wie Qualität definiert und umgesetzt werden soll.
SPD-Politikerin Tina Rudolf betonte die Notwendigkeit verbindlicher Qualitätskriterien: „Es wird nicht angezweifelt, dass wir eine Strukturreform brauchen.“ Und es werde nicht angezweifelt, „dass wir Anreize schaffen müssen, um die Versorgungsqualität zu verbessern“, sagte die Staatssekretärin für Gesundheit im Ministerium für Soziales, Gesundheit, Arbeit und Familie des Landes Thüringen. Rudolf sprach sich für eine klare Steuerung aus, damit Patienten überall auf ein verlässliches Versorgungsniveau zählen können.
Kampf um Qualität
Der CSU-Bundestagsabgeordnete und Hausarzt Stefan Pilsinger befürwortete zwar ebenfalls die Bündelung bestimmter Leistungen in spezialisierten Zentren, warnte jedoch vor pauschalen Vorgaben. Mit Beispielen aus seinem Wahlkreis machte er deutlich, dass kleinere Fachkliniken mit hoher Qualität nicht gefährdet werden dürften: „Es braucht eine gewisse Bündelung von Leistungen, gerade bei Krebsbehandlungen. Aber Fachkliniken, die gute Leistungen bringen, dürfen nicht durchs Raster fallen.“ Pilsinger forderte außerdem, Qualitätsmessungen klar an wissenschaftlich belegten Mindestmengen auszurichten, um politische Entscheidungen nachvollziehbar zu machen.
Ateş Gürpinar, gesundheitspolitischer Sprecher der Linken, bewertete die Reform deutlich kritischer. Er bemängelte, dass unter dem Deckmantel der Qualitätsverbesserung Krankenhäuser geschlossen würden, ohne dass klare Kriterien vorliegen: „Die Reform hat mit Qualität so gut wie nichts zu tun gehabt, sondern begünstigt eher ein kaltes Krankenhaussterben.“ Die Linke sieht die Gefahr, dass vor allem ländliche Regionen an medizinischer Versorgung verlieren.
Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, warnte, dass durch die geplanten Änderungen wichtige Vorgaben zur Qualitätssicherung gestrichen werden: „Das sehen wir als echte Verschlechterung.“ Aus ihrer Sicht werden Patienten dadurch gefährdet, weil Kliniken auch ohne den Nachweis ausreichender Qualität weiterarbeiten könnten.
Einigkeit herrschte unter den Diskutanten darüber, dass Transparenz ein Schlüssel zur Verbesserung der Versorgungsqualität ist. SPD-Politikerin Rudolf erklärte: „Routinedaten machen deutlich, warum wir Strukturveränderungen brauchen.“ Pilsinger betonte, dass die Daten aber nicht nur für Experten verständlich sein müssten: „Gebildete Patienten suchen sich große Zentren, weniger informierte Menschen landen in Häusern mit schlechteren Ergebnissen“, monierte er.
Deutschland nur Mittelfeld
Dem Schlagabtausch vorausgegangen waren Vorträge renommierter Wissenschaftler, die einzelne Aspekte des Gesundheitssektors beleuchteten. Ellen Nolte, Professorin und Forscherin an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, verglich die deutsche Versorgungsqualität mit anderen Ländern. Deutschland liege bei der Qualität der Gesundheitsversorgung nur im Mittelfeld: Termine seien kurzfristig kaum verfügbar und die Koordination chronisch Kranker bleibe schwach. Ein Kernproblem sei die hohe Zahl vermeidbarer Krankenhauseinweisungen: „Deutschland führt hier negativ, was zeigt, dass die Primärversorgung nicht ausreichend koordiniert ist“, so Nolte.
Heinz Rothgang, Professor der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am SOCIUM Forschungszentrum der Universität Bremen, beleuchtete die Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Pflege. Frühere Ansätze wie Pflegenoten oder verpflichtende Expertenstandards hätten sich nicht bewährt. Rothgang sieht große ungenutzte Potenziale in der systematischen Nutzung von Routinedaten der Krankenkassen, die nicht nur interne Qualitätsverbesserung, sondern auch Transparenz und regionale Vergleiche ermöglichen könnten. „Routinedaten sind vielfältig einsetzbar – für Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Sie sind schwer manipulierbar und bieten eine Chance für echte Transparenz.“
Reinhard Busse machte deutlich, dass die hohe Zahl an Krankenhäusern und Betten die Versorgungsqualität mindere. Notwendige Behandlungen wie Herzinfarkte oder Krebserkrankungen erfolgten häufig in Kliniken ohne ausreichende Ausstattung, obwohl spezialisierte Zentren nachweislich bessere Überlebenschancen böten. So würden fast 50 Prozent der Krebspatienten außerhalb von zertifizierten Zentren erstbehandelt, obwohl dort die Überlebensvorteile bis zu 23 Prozent betragen würden, so der Professor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin.
Routinedaten legen Wunden offen
Jürgen Klauber, scheidender Geschäftsführer des WIdO, unterstrich in seinem Vortrag die Bedeutung von Routinedaten. Sie könnten sektorenübergreifend genutzt werden, um Qualität sichtbar zu machen und Versorgungsdefizite aufzudecken. „Routinedaten ermöglichen es, einen Patienten vom ersten Arztbesuch bis zur Pflege zu begleiten und dadurch echte Transparenz zu schaffen“, sagte Klauber. Anhand von Krankenhausdaten zeigte er große Qualitätsunterschiede: Bei Hüftgelenkersatz-Operationen variierten Komplikationsraten um den Faktor drei zwischen den besten und schlechtesten Häusern. „Diese Unterschiede sind hochrelevant für die Versorgungsgestaltung und müssen in Reformen einfließen.“ Auch in der Langzeitpflege gebe es große Differenzen, etwa bei der Gabe von Schlafmitteln oder der Flüssigkeitszufuhr bei Demenzpatienten. Diese Daten würden im „Qualitätsatlas Pflege“ öffentlich zugänglich gemacht.
Das Symposium war zugleich geprägt vom Abschied Jürgen Klaubers, der das WIdO mehr als 35 Jahre maßgeblich gestaltet hat. Carola Reimann würdigte seine Arbeit: „Unter Ihrer Leitung hat das WIdO wichtige Akzente bei der Messung von Versorgungsqualität gesetzt und rational begründbare Lösungen ermöglicht.“ Sie hob zudem seine Rolle als Netzwerker hervor: „Sie haben das WIdO hervorragend mit Versorgungsforschung und Gesundheitspolitik vernetzt.“ Knut Lambertin, alternierender Vorsitzender des Aufsichtsrats des AOK-Bundesverbands für die Versichertenseite, dankte Klauber: „Die Forschungsarbeit des WIdO war immer praxisnah und hat Wissen für die Versorgung geschaffen.“
Die Tagung verdeutlichte die Vielfalt der Herausforderungen: strukturelle Defizite, mangelnde Koordination und politische Blockaden. Während auf dem Podium Differenzen über den Weg sichtbar wurden, herrschte Konsens über das Ziel: eine bessere, evidenzbasierte Versorgung für alle Patienten. Routinedaten könnten dabei zum zentralen Werkzeug werden – ein Erbe, das Jürgen Klauber dem Gesundheitswesen hierzulande hinterlässt.
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