KI kann Politikberatung in Gesundheitskrisen deutlich verbessern
Ausnahmesituationen wie Pandemien oder Hitzewellen fordern von der Politik schnell gute Entscheidungen. Um die Bewertung von großen Datenlagen sowie Erkenntnisse für die Beratung zu verbessern, erforscht Dr. Katharina Ladewig am Robert-Koch-Institut (RKI) den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI). Im Interview mit G+G erklärt sie zudem, wie KI auch Infodemien entgegenwirken kann.

Frau Dr. Ladewig, was kann KI leisten, um die Bevölkerung besser vor Infektionen zu schützen?
Dr. Katharina Ladewig: Infektionskrankheiten und insbesondere epidemische oder pandemische Lagen stellen enorme Herausforderungen für die Bevölkerung, das Gesundheitssystem, die Wirtschaft und auch die Politik dar. Die schnelle und weite Verbreitung einer Infektionskrankheit kann zu erheblichen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen führen. Die Bewertung epidemischer oder pandemischer Lagen ist jedoch äußerst komplex, da für einen umfassenden Überblick über das Pandemiegeschehen zahlreiche Datenquellen ausgewertet und berücksichtigt werden müssen. KI beziehungsweise Maschinelles Lernen (ML) kann Expertinnen und Experten dabei unterstützen, diese großen Datenmengen schneller zu analysieren und die Verbreitung von Krankheiten genauer einschätzen zu können.
Bei welchen Gefahren in Deutschland durch Erreger kann KI genau helfen?
Ladewig: Auf der Prioritätenliste der Weltgesundheitsorganisation mit möglichen Krankheitserregern, die ein besonders hohes Risiko für die öffentliche Gesundheit weltweit darstellen, stehen nicht nur Erreger, die durch Kontakt- oder Tröpfcheninfektion übertragen werden. Sondern hier finden sich auch Erreger, die beispielsweise durch Mücken oder Zecken übertragen werden. Das sind sogenannte vektorübertragene Erreger. Ein Anstieg der Temperaturen durch den Klimawandel kann zum Beispiel die Verbreitung solcher Vektoren auch in Deutschland begünstigen und das Risiko des Auftretens solcher Erreger und Ausbrüchen erhöhen. KI kann hier helfen, indem die Vielzahl an Faktoren und Wechselwirkungen, die sowohl Erreger- als auch Vektordynamik beeinflussen, in ganzheitlichen Modellen zusammengeführt werden. So können zum Beispiel Risikogebiete, in denen eine Übertragung auf den Menschen möglich ist, besser identifiziert werden.
Wie sieht die Forschung im Zusammenspiel mit KI hinsichtlich kommender Pandemien aus?
Ladewig: Im Robert Koch-Institut werden in Vorbereitung auf zukünftige Epidemien und Pandemien verschiedene KI-gestützte Anwendungen erforscht. Neben der Forschung zu KI-Modellen für Krankheiten, die durch Kontakt oder Tröpfchen übertragen werden, forschen wir im Rahmen des Projektes “AI-DAVis PANDEMICS” auch an KI/ML-Algorithmen zur Bewertung der Lebensraumeignung für Stechmücken, die zum Beispiel Dengue- und West-Nil-Fieber übertragen. Der Algorithmus berücksichtigt dabei Klimadaten, Landnutzung und Bevölkerungsdichte sowie saisonale Schwankungen und geografische Besonderheiten, um Risikogebiete für eine mögliche Ausbreitung des Dengue-Virus und andere durch Stechmücken übertragene Viren genauer zu identifizieren.
„Die in diesem Projekt gewonnenen Ergebnisse sollen zukünftig in ein ganzheitliches Pandemiemodell einfließen.“
Managing Direktorin des Zentrums für Künstliche Intelligenz in der Public-Health-Forschung (ZKI-PH)
Zur Abschätzung der Verbreitung wird zusätzlich die Replikationsrate einzelner Viren in unterschiedlichen Wirten untersucht, um etwaige Hotspots für eine verstärkte Übertragung auf den Menschen früher zu erkennen. Ein entsprechendes KI-Verfahren zur Auswertung dieser Daten hilft dann, das Übertragungsrisiko besser einzuschätzen und berücksichtigt daneben Umweltfaktoren. Zudem werden Klimamodelle in diese Arbeiten integriert, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Verbreitung von Vektoren und Erregern zu analysieren. Die in diesem Projekt gewonnenen Ergebnisse sollen zukünftig in ein ganzheitliches Pandemiemodell einfließen, das es Nutzenden ermöglichen soll, Szenarien und die Auswirkungen von Schutzmaßnahmen zu modellieren.
Für die Labordiagnostik verschiedener Erreger arbeiten wir zudem an neuen KI/ML-gestützten Bilderkennungsverfahren, die Infektionen schneller identifizieren und die Verifizierung von Erregern beschleunigen und präzisieren.

Wie kann KI den Gesundheitsschutz verbessern angesichts anderer großer Probleme wie Hitzewellen?
Ladewig: Hitze ist zu einer der Hauptursachen für vermeidbare Todesfälle im Sommer geworden. Ein besseres Verständnis des Zusammenhangs zwischen hohen Temperaturen und hitzebedingter Übersterblichkeit kann dabei entscheidend für die Entwicklung wirksamer Präventions- und Anpassungspläne sein. Mithilfe entsprechend trainierter KI/ML-Modelle ist es möglich, das hitzebedingte Sterblichkeitsrisiko auf verschiedenen Ebenen im Detail abzuschätzen, wie zum Beispiel das regionale Hitzemortalitätsrisiko während einer bestimmten Hitzewelle auf Kreisebene, das jährliche und landesweite Hitzemortalitätsrisiko oder das zukünftige Hitzemortalitätsrisiko unter dem Einfluss des Klimawandels. Derartige Modelle sind also wertvolle Instrumente für die Entwicklung klimabezogener Public-Health-Strategien, die Ermittlung lokaler Risiken während Hitzewellen und die langfristige Resilienzplanung.
Wie ist es bei Einflussfaktoren für mentale Gesundheit von Jugendlichen?
Ladewig: Die Gründe für die Zunahme psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, die seit einigen Jahren beobachtet wird, sind komplex. Dabei ist das kausale Zusammenspiel von persönlichen, sozioökonomischen und umweltbedingten Faktoren für die psychische Gesundheit noch nicht im Detail geklärt. Auch hier kann KI/ML unterstützen. KI/ML ermöglicht es beispielsweise basierend auf bestehenden Kohortenstudien, die Risiko- und Resilienzfaktoren in der frühen Jugend zu untersuchen und basierend darauf die künftige Entwicklung der psychischen Gesundheit in der gesamten Jugend abzuschätzen. KI ermöglicht es auch, potenzielle Public-Health-Maßnahmen im Modell zu testen, indem die Werte veränderbarer Risikofaktoren angepasst und die hypothetischen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit geschätzt werden. Mit derartigen KI/ML-gestützten Ansätzen können also vielversprechende Interventionen identifiziert werden, die dann in realen Studien untersucht werden könnten.
Welchen Nutzen haben die KI-gestützten Erkenntnisse für gesundheitspolitische Entscheidungen?
Ladewig: Das RKI spricht seine Empfehlungen an die Politik auf Basis aktuellster wissenschaftlicher Erkenntnisse, also evidenz- sowie datenbasiert, aus. Die jeweils schnelle und aktuelle Bewertung pandemischer Lagen ist jedoch äußerst komplex, da es überlagernde Faktoren gibt, die eine eindeutige Bewertung des Infektionsgeschehens sowie der zu empfehlenden Infektionsschutzmaßnahmen erschweren. Je präziser die einzelnen Parameter und Daten in epidemischen oder pandemischen Lagen ausgewertet, dargestellt und verstanden werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, die Bevölkerung besser zu schützen. KI/ML kann an dieser Stelle einen wesentlichen Beitrag leisten, indem es Expertinnen und Experten dabei unterstützt, verschiedene Datenquellen zu kombinieren und auszuwerten, um Rückschlüsse auf die mögliche Verbreitung und geeignete Maßnahmen zur Eindämmung des Erregers zu ziehen und so einen angemessenen Bevölkerungsschutz aus Public-Health-Sicht zu empfehlen.
Inwiefern lassen sich mit KI Infodemien bekämpfen, um Gesundheitsrisiken zu minimieren?
Ladewig: KI-Methoden zur Verarbeitung natürlicher Sprache – natural language processing - können Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens dabei unterstützen, den öffentlichen Diskurs in den sozialen Medien während einer Krise wie der Covid-19-Pandemie besser zu überblicken und Falschinformationen rascher zu erkennen. Das ist für eine wirksame Kommunikation und dem Entgegenwirken von Fehlinformationen während einer Krise absolut unerlässlich.
„Die Verbindung von KI und Public Health wird ein wichtiger Schlüssel zur Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung in der Zukunft sein.“
Managing Direktorin des Zentrums für Künstliche Intelligenz in der Public-Health-Forschung (ZKI-PH)
Welche Bedeutung kommt der Kombination von KI und Public Health künftig dauerhaft zur Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung zu?
Ladewig: Wir im Zentrum für Künstliche Intelligenz in der Public-Health-Forschung (ZKI-PH) im RKI sind davon überzeugt, dass die Verbindung von KI und Public Health ein wichtiger Schlüssel zur Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung in der Zukunft sein wird. Denn KI hat nicht nur das Potenzial, individuelle Gesundheitsdaten auf eine völlig neue Art und Weise zu analysieren und damit die unmittelbare medizinische Versorgung und Behandlung einzelner Patienten zu verbessern. Sondern mit KI lassen sich auch in großen Datenmengen auf Bevölkerungsebene bisher unsichtbare Muster und Zusammenhänge erkennen und damit neues Wissen schaffen. Das kann dann für gezielte gesundheitspolitische Empfehlungen genutzt werden.
Wie sieht speziell die Rolle des ZKI-PH bei der Entwicklung des RKI aus?
Ladewig: Die Gründung unseres Zentrums 2021 war für uns ein sehr bedeutender Schritt in der strategischen Entwicklung des RKI. Im ZKI-PH verbinden wir nun die traditionelle Expertise des RKI in der Forschung zu übertragbaren und nicht-übertragbaren Krankheiten mit neuen Methoden des Maschinellen Lernens und der KI. Die Nähe zu den anderen Fachabteilungen des RKI und somit den realen Public-Health-Anwendungsfällen, aber auch der direkte Zugang zu Daten zu meldepflichtigen Krankheiten und Daten aus den RKI-eigenen Surveillance-Systemen und Kohortenstudien, sind ein großer Vorteil. Das ZKI-PH dient heute als zentrale Anlaufstelle für alle KI-Projekte im RKI und ist die Stelle für den nationalen und internationalen Austausch im Bereich KI/ML in Verbindung mit epidemiologischen Fragestellungen und der Bevölkerungsgesundheit.
Wie könnte KI im Gesundheitssystem beim Zugang zur Versorgung unterstützen?
Ladewig: Meiner persönlichen Meinung nach wird KI zukünftig auch eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung des Zugangs zur medizinischen Versorgung und der Entwicklung ressourcenschonender Prozesse spielen, zum Beispiel durch KI/ML-gestützte Vorhersage und Steuerung von Patientenströmen in Gesundheitseinrichtungen, KI/ML-gestützte Personalplanung in Krankenhäusern oder die KI/ML-gestützte Auswertung von epidemiologischen und klimatischen Daten für bessere Pandemievorhersagemodelle. Durch die Analyse großer Datenmengen ermöglicht KI/ML in all diesen Situationen genauere Vorhersagen und damit frühzeitigeres Handeln.
Inwieweit ist die Politik bereits auf die neuen Perspektiven durch KI eingestellt oder sind angepasste Rahmenbedingungen erforderlich?
Ladewig: Meines Erachtens ist es von entscheidender Bedeutung, dass nicht nur politische Entscheidungsträger, sondern alle Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens Kenntnisse über KI/ML und Fortschritte bei der Anwendung von KI/ML-Methoden auf Fragen der öffentlichen Gesundheit haben. Wir haben hierzu bereits 2023 mit „AI in Public Health Research“ ein eigenes nationales und internationales Austauschformat geschaffen, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Public-Health-Fachleute und die Politik ins Gespräch kommen können.
Auch wenn ich keineswegs für eine Überregulierung innovativer Technologien plädiere, gibt es doch zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie positive Effekte durch Regulierung erzielt werden können. Der Digital-Services-Act (DSA), der seit Februar 2024 EU-weit harmonisierte Regeln für Anbieter digitaler Dienste festlegt, trägt maßgeblich dazu bei. Die Verordnung legt besonderen Wert auf den Schutz der Nutzer vor rechtswidrigen Inhalten und stärkt die Verantwortung der Social-Media-Plattformbetreiber, solche Inhalte zu melden und zu entfernen. Gleichzeitig wurden die Plattformen verpflichtet, allen Forschenden, auch solchen ohne formale akademische Zugehörigkeit, wie Forschenden an Public Health-Instituten, Zugang zu relevanten Daten zu gewähren. Schon im März 2024 wurde deutlich, dass sechs der sieben großen Plattformen die DSA-Vorgaben zum Datenzugang erfolgreich umsetzten, was den Public-Health-Forschenden einen bislang unerreichten Zugang ermöglichte.
Aus der Sicht eines Forschungszentrums an einem Public-Health-Institut ist das ein vielversprechender Schritt nach vorn, um die europaweite Datenverfügbarkeit für Forschung zu verbessern - und der mit dem Europäischen Gesundheitsdatenraum bald weiter vorangetrieben wird. In Deutschland wurde zudem mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das 2024 in Kraft trat, ein wichtiger Grundstein gelegt, um Gesundheitsdaten für die Forschung zugänglich zu machen. Das Gesetz erleichtert die Nutzung von Gesundheitsdaten für gemeinwohlorientierte Zwecke und sieht den Aufbau einer dezentralen Gesundheitsdateninfrastruktur mit einer zentralen Datenzugangs- und Koordinierungsstelle vor. All das trägt dazu bei, die Datenverfügbarkeit und -nutzung nachhaltig zu verbessern und KI/ML-Forschung im Public-Health-Bereich voranzubringen.
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