Artikel Pflege

Neue Wege in der Pflege

19.11.2025 Yvonne Ehmen 4 Min. Lesedauer

Deutschland braucht moderne berufliche Rollen, um Versorgungslücken zu schließen. Die Advanced Practice Nurse (APN) könnte dabei eine Schlüsselposition einnehmen – wenn ihre Aufgaben klar geregelt und rechtlich verankert werden.

Eine Ärztin und eine Krankenschwester schauen gemeinsam auf ein Tablet. Man sieht sie von oben.
Arbeit auf Augenhöhe: Künftig könnten Ärztin und Pflegefachperson besser kooperieren.

Der demografische Wandel stellt die Pflege vor große Herausforderungen: Für die steigende Zahl von Pflegebedürftigen stehen immer weniger Fachkräfte zur Verfügung. Gleichzeitig könnten künftig Pflegefachpersonen stärker in der Primärversorgung gefragt sein. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, braucht Deutschland neue pflegerische Rollen.

Überzogene Erwartungen

Erste Schritte zur Akademisierung der Pflege wurden eingeleitet. Doch der zweite Schritt – die systematische Integration akademisch qualifizierter Pflegepersonen in die Versorgungspraxis – ist lange ausgeblieben. Während international das Berufsbild der Advanced Practice Nurse (APN) etabliert ist, fehlte hierzulande eine berufs- und sozialrechtliche Verankerung neuer pflegerischer Rollen. Dabei ist die Einführung der APN nicht nur ein Symbol für pflegerische Aufwertung, sondern eine notwendige Antwort auf wachsende Versorgungsprobleme.

Die APN ist eine hochqualifizierte Pflegefachperson mit einem Masterabschluss, fundierter klinischer Erfahrung und erweiterten Kompetenzen in der direkten Versorgung. In vielen Ländern arbeitet sie mit klaren Befugnissen selbstständig zwischen ärztlicher Behandlung, Pflegewissenschaft und Patientenorientierung. In Deutschland aber fehlte bisher der gesetzliche Rahmen, und die neue Rolle wird oft mit überhöhten, teils widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert: Sie soll koordinieren, beraten, behandeln forschen und die Qualität weiterentwickeln – zugleich und überall. Diese Überfrachtung führt zu Frustration: Die Pflege wird überfordert, das System bleibt unübersichtlich, und die Patientinnen und Patienten erhalten nicht die interprofessionelle Versorgung, die möglich wäre. 

Dabei ist es wichtig zu betonen, was die APN nicht leisten kann – und auch nicht leisten soll. Sie ist nicht der Ersatz für eine fehlende Hausärztin auf dem Land, und sie ist ebenso wenig ein universell einsetzbares Funktionsprofil, das sich beliebig zwischen Klinik, Management, Forschung und Lehre verschieben lässt. Ohne klare Zuständigkeiten, geregelte Befugnisse und eine strukturelle Absicherung bleibt selbst die beste Qualifikation wirkungslos. 

„Ohne klare Zuständigkeiten bleibt selbst die beste Qualifikation wirkungslos.“

Yvonne Ehmen

Referatsleiterin in der Abteilung Pflege des AOK-Bundesverbandes

Mehr Verantwortung wagen

Internationale Studien zeigen, was möglich ist, wenn die Rolle eindeutig definiert ist. APNs schaffen Versorgungssicherheit, besonders bei chronisch Erkrankten oder in komplexen Behandlungssituationen. Sie verbinden klinische Tiefe mit patientenzentrierter Kommunikation, sichern Kontinuität und Qualität und bringen aktuelle Forschungsergebnisse in den Versorgungsalltag. Sie ergänzen, nicht ersetzen, bestehende Berufsgruppen. Dabei zeigt sich, dass Advanced Practice Nursing dort erfolgreich ist, wo klare Strukturen, definierte Verantwortlichkeiten und rechtliche Absicherung bestehen. Länder wie Finnland, die Niederlande oder Großbritannien verankern die Rolle der APN längst als festen Bestandteil der Primärversorgung – mit klar geregelten Befugnissen, etwa in der Verschreibungspraxis oder bei der eigenständigen Diagnostik.

Gesetzgeber gefragt

Gleichzeitig stärkt die klare Rollendefinition auch das Selbstverständnis der Pflege. Sie fördert interprofessionelles Vertrauen und schafft eine Kultur gemeinsamer Verantwortung zwischen Ärzteschaft, Pflege und Therapie. Wo APNs fest etabliert sind, profitieren nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch Kolleginnen und Kollegen durch bessere Arbeitsbedingungen, klare Aufgabenverteilung und mehr fachliche Entwicklungsmöglichkeiten.

Politisch gewinnt das Thema an Fahrt. Das Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege (vormals: Pflegekompetenzgesetz), dessen Inkrafttreten für Januar 2026 geplant ist, soll Pflegefachpersonen mehr Eigenverantwortung geben. Sie sollen heilkundliche Aufgaben eigenständig übernehmen können, etwa die Verordnung von Hilfsmitteln, häuslicher Krankenpflege oder Wundbehandlungen. Gleichzeitig sollen Bürokratie abgebaut und die interprofessionelle Zusammenarbeit gestärkt werden. Flankierend dazu steht ein Pflegefachassistenzgesetz, das die Ausbildungsprofile der Assistenz-Ebene bundeseinheitlich regelt. Auch der Koalitionsvertrag sieht ausdrücklich die Einführung der Advanced Practice Nurse vor.

Parallel dazu entwickeln deutsche Hochschulen zunehmend Masterprogramme, die sich am internationalen Vier-Säulen-Modell der Advanced Practice orientieren – mit den Schwerpunkten klinische Praxis, Führung, Forschung und Lehre. Projekte wie FAMOUS (Katholische Hochschule Mainz) oder ENROLE (Universität Bremen) zeigen, wie akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen Verantwortung in Versorgungsteams übernehmen, Prozesse koordinieren und neue Versorgungsmodelle gestalten können.

Europa weist den Weg

Eine europäische Vergleichsstudie (Knecht et al., 2024) zeigt die Unterschiede: In 32 Ländern existieren 391 Masterprogramme zur erweiterten Pflegepraxis mit durchschnittlich 435 Praxisstunden. Länder mit klarer Rechtslage wie Finnland, die Niederlande oder das Vereinigte Königreich bieten bis zu 650 Praxisstunden und Schwerpunkte in Diagnostik, Pharmakologie und Leadership. Doch nur rund 40 Prozent der Absolventinnen arbeiten tatsächlich in einer anerkannten APN-Position.

Eine rechtliche Absicherung besteht bisher nur in acht europäischen Staaten – in Großbritannien, Irland, den Niederlanden, Finnland, der Schweiz, Norwegen, Island und Estland. Dort sind Berufseintrag und Qualifikation verknüpft, häufig über nationale Register und klar definierte Aufgabenbereiche. In sieben dieser Länder dürfen APNs Medikamente verschreiben. In Finnland und den Niederlanden können sie ihre Leistungen direkt abrechnen, in der Schweiz existieren kantonale Vergütungsmodelle. Im britischen NHS sind APNs institutionell eingebunden und werden aus öffentlichen Budgets finanziert.

Eine Krankenpflegerin sitzt an einem Schreibtisch und arbeitet in einem Buch. Sie hat ein Sandwich in der Hand. Vor und hinter ihr sind weitere Krankenpflegende, entweder am Tisch oder stehend in eine Unterhaltung vertieft.
Der Titel „Advanced Practice Nurse“ erfordert einen Masterabschluss.

Vorbild Kanada

Ein Blick nach Kanada verdeutlicht zusätzlich das Potenzial: Dort sind Nurse Practitioners seit den 1960er-Jahren fester Bestandteil der Primärversorgung. Sie stellen Diagnosen, verordnen Medikamente und betreuen Patientinnen eigenständig – insbesondere in strukturschwachen Regionen. Die Erfolge zeigen, dass eine klar geregelte Rolle nicht nur die Versorgungsqualität verbessert, sondern auch die Attraktivität des Pflegeberufs steigert.

Auch in Deutschland wächst die Zahl der Modellprojekte, die zeigen, wie sich APNs integrieren lassen – etwa in der Gemeindepsychiatrie, der Wundversorgung oder bei chronischen Erkrankungen. Hier entstehen innovative Schnittstellen zwischen Forschung und Praxis, die das Gesundheitssystem langfristig entlasten könnten.

Ein erster Schritt wäre eine klare berufsrechtliche Verortung. Der Titel „Advanced Practice Nurse“ sollte geschützt und eindeutig definiert werden – idealerweise mit einer Differenzierung nach Profilen wie Nurse Practitioner (NP) und Clinical Nurse Specialist (CNS). Während NPs direkt mit Patientinnen arbeiten und Aufgaben in Diagnostik, Therapie und Beratung übernehmen, konzentrieren sich CNSs auf Qualitätssicherung und Konzeptentwicklung. Beide Rollen erfordern einen pflegewissenschaftlichen Masterabschluss.

Die Zugangsvoraussetzungen sollten bundeseinheitlich geregelt sein: ein konsekutives Masterstudium, mehrjährige Berufserfahrung und praxisnahe Module. Notwendig sind verbindliche Standards für Curricula, Praxisanteile und klinische Schwerpunkte – ebenso wie Inhalte zu rechtlichen sowie ethischen Entscheidungen.

Gestaltende Pflege als Ziel

Langfristig ist darüber hinaus eine sozialrechtliche Verankerung nötig, die die Rolle der Advanced Practice Nurse in das bestehende Versorgungssystem integriert. Nur wenn Advanced Practice Nurses  strukturell eingebunden sind, können sie ihr Potenzial entfalten und Versorgungslücken nachhaltig schließen.

Begleitend braucht es eine gesetzliche Verankerung im Sozialrecht, die die interdisziplinäre Zusammenarbeit absichert. Am Ende geht es auch um gesellschaftliche Akzeptanz. Die Advanced Practice Nurse ist keine Allzwecklösung, aber eine konsequente Weiterentwicklung des Pflegeberufs. Sie steht für eine Pflege, die nicht nur begleitet, sondern gestaltet – und für eine Versorgung, die auf komplexe Lebenssituationen vorbereitet ist. 

Je länger Deutschland mit der Umsetzung wartet, desto größer wird die Lücke zwischen Anspruch und Realität. Die Zeit für diese Rolle ist jetzt – alles andere wäre eine vertane Chance.

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