
Fürsorge am Lebensende
Das Schlucken erleichtern, Schmerzen und Angst lindern, für Entspannung sorgen: Das multiprofessionelle Team der Palliativstation am Klinikum Links der Weser in Bremen verbessert die Lebensqualität schwerkranker Menschen.
Renate Aug sagt: „Ahh.“ Frau S. antwortet der Stimmtherapeutin mit einem Lächeln: „Ahh.“ Die schmale Frau mit den kurzen grauen Haaren lernt neu zu atmen, zu essen und zu sprechen. Sie liegt auf der Palliativstation des Bremer Klinikums Links der Weser (LdW).
Frau S. hat Krebs. Durch die Bestrahlung des Tumors wurden beide Stimmbänder gelähmt. Damit sie trotzdem atmen, schlucken und sprechen kann, haben die Ärzte eines ihrer Stimmbänder fixiert. Nun trainieren die beiden Frauen das andere Band. Sprech-, Stimm- und Atemtherapeutin Aug hat das Bett etwas höhergestellt. Sie lehnt sich über ihre Patientin und legt dann zwei Finger an ihren Kehlkopf. „Man muss ganz nah ran“, sagt sie. Dann spricht sie ihrer Patientin Silben vor, und Frau S. spricht sie nach, leise und heiser. Man könne auch bei Schwerkranken noch viel bewirken, indem man die Ursachen von Beschwerden suche und behandle, erklärt Dr. Katja Fischer, Chefärztin der Klinik für Palliativmedizin am LdW. „Wenn jemand seine Medikamente nicht mehr schlucken kann, weil ihm übel ist, dann kann es helfen, zuerst den Stuhlgang zu behandeln, damit der Patient abführen kann. Wenn die Übelkeit dadurch weggeht und der Appetit zurückkommt, mag er wieder essen und kann seine Schmerzmittel wieder schlucken.“
Ein Mantel für Sterbende
Hell ist es hier. Die Wände der Flure und der zwölf Zimmer leuchten in freundlichem Gelb. Durch eine gläserne Wand geht der Blick aus den Patientenzimmern auf Terrasse und Garten, draußen rauscht der Sommerwind in Büschen und Bäumen. Auf einem Tischchen im Flur steht eine Schale, in der Dutzende Kiesel liegen. Die Mitarbeiterinnen haben sie mit Initialen und Daten beschriftet: winzige Grabsteine als Erinnerung an Menschen, die hier gestorben sind. Dabei ist eine Palliativstation keine Sterbestation, sondern ein Ort, an dem schwerstkranke Patienten im fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit sich körperlich und seelisch erholen können, weil hier die Beschwerden rasch gelindert werden. „Hier wird gelebt“, sagt das Team. Es werde am Schluss schließlich jeden treffen, und da müsse man sich doch sicher sein können, im Sterben eine gute Versorgung zu haben.
Das lateinische Wort „pallium“ bedeutet „Mantel“, die Palliativpatienten werden von der Behandlung umhüllt wie von einem Mantel: mit der passenden Schmerzmedikation zum Beispiel oder der angemessenen Wundversorgung, mit Medikamenten gegen die Angst. Dann werden sie nach Hause entlassen, in die Obhut der Ambulanten Palliativversorgung, in ein Pflegeheim oder ein Hospiz. Vor allem Tumorpatienten kommen auf die Palliativstation. Sie werden in der Regel von ihren Hausärzten oder Onkologen überwiesen und bleiben im Schnitt zwei Wochen. Rund 300 Patientinnen und Patienten versorgt die Station am LdW pro Jahr. Aktuell liegt der Anteil der Krebspatienten bei 87 Prozent. Doch die Zahl der Patienten mit anderen Diagnosen, wie multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose oder schweren Infektionen, nimmt zu. Zum Team der Palliativstation gehören Atem-, Musik- und Physiotherapeuten, eine Seelsorgerin, eine Psychologin, eine Sozialarbeiterin, außerdem sechs Fachärztinnen und -ärzte und 22 Pflegerinnen, die alle über die entsprechenden Weiterbildungen und große Erfahrung verfügen. Bei Bedarf werden Ärzte anderen Fachrichtungen hinzugezogen. Rund 20 Ehrenamtliche kümmern sich um die schwerstkranken Menschen, darunter eine Journalistin, die Lebensgeschichten aufschreibt.
Beratung im Team
Heute kommen in der Dienstbesprechung die Lebens- und Krankheitsumstände von Herrn G. auf den Tisch. Sein Tumor hat sich in den Knochen ausgebreitet. Schmerzhafte Brüche sind die Folge. Im Pflegeheim konnten seine Schmerzen nicht ausreichend behandelt werden. „Wir wollen ihn mit einer Schmerzpumpe so einstellen, dass er nicht wieder auf die Palliativstation kommen muss“, sagt Fischer. Die Familie ist gegen ein Pflegeheim und spricht sich für ein Hospiz aus. Aber ist Herr G. soweit? Er selbst will auf der Palliativstation bleiben, er fühlt sich wohl hier. Was tun? Ihn nach Hause entlassen? Lange berät sich die Runde, diskutiert die Diagnosen, die Werte, wägt die soziale Situation ab – ohne Ergebnis, die Entscheidung wird zunächst vertagt. Sie wollen noch einmal mit dem Patienten reden und im Alltag prüfen, ob die Schmerztherapie wirkt.
Palliativstationen sind keine Sterbestationen. Doch stirbt etwa die Hälfte aller Patienten der LdW-Palliativstation auch hier. „Dass uns jemand zum Sterben zugewiesen wird, ist ganz selten“, sagt Fischer. „Manchmal geschieht es aber doch, wenn die Familie nicht mehr kann und zu Hause sozusagen der Versorgungsnotstand ausgebrochen ist.“
Auf der Palliativstation wird bei so vielen Beteiligten Zusammenarbeit großgeschrieben, um den unterschiedlichen Bedarfen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Mancher Patient hat so starke Schmerzen, dass er neben der Medikation für jeden Verbandswechsel eine Kurznarkose braucht. Andere Patienten profitieren von der entspannenden Wirkung der Musiktherapie, brauchen angstlindernde Medikamente, psychologische Hilfe oder Spiritual Care. Musiktherapie, Ergotherapie, Physiotherapie, Atem-, Stimm- und Sprechtherapie – die LdW-Palliativstation bietet die Vielfalt der Therapien an. Die Station ist zertifiziert: Sie erfüllt die hohen Standards der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP).
Zehn Jahre Hospiz- und Palliativgesetz
Mit dem Hospiz- und Palliativgesetz wurde 2015 die Palliativversorgung Bestandteil der Regelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV) entspricht der palliativmedizinischen Basisversorgung. Sie kann in erster Linie von niedergelassenen Haus- und Fachärztinnen und -ärzten und ambulanten Pflegediensten mit palliativmedizinischer Basisqualifikation erbracht werden. Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) kommt zum Einsatz, wenn durch die AAPV keine befriedigende Symptomkontrolle oder Leidensminderung erreicht werden kann. Die SAPV umfasst ärztliche und pflegerische Leistungen einschließlich ihrer Koordination insbesondere zur Schmerztherapie und Symptomkontrolle. Neben der ambulanten Versorgung in der eigenen Wohnung ist eine Palliativbetreuung im Krankenhaus, im Pflegeheim oder im Hospiz möglich. Krankenhäuser können mit den Kostenträgern für eigenständige Palliativstationen krankenhausindividuelle Entgelte vereinbaren. Kliniken ohne Palliativstation können krankenhausindividuelle Zusatzentgelte für multiprofessionelle Palliativdienste vereinbaren. Sie können dafür hauseigene Palliativ-Teams aufbauen oder mit externen Diensten kooperieren.
Quelle: AOK-Lexikon Palliativversorgung
Letzte Lernschritte
Die Sterbeforscherin und Ärztin Elisabeth Kübler-Ross (1926–2004) hat in ihrem Buch „Interviews mit Sterbenden“ todkranken Menschen eine Stimme gegeben. Sie hat fünf Sterbephasen unterschieden: die Leugnung der lebensbeendenden Diagnose, die Rebellion gegen das eigene Schicksal, den Sturz in die Depression, das Verhandeln mit dem Schicksal und die Akzeptanz des Sterbens. Manche Einsichten des in Deutschland 1969 erschienenen Buches dürften von der Forschung inzwischen überholt sein. Aber immer wieder treten einzelne oder mehrere der von Kübler-Ross beschriebenen Affekte bei den Palliativpatienten auf. „Wir begleiten, wir gehen die Schritte mit, und wenn die Patienten zum Beispiel mit dem Umzug ins Hospiz noch warten wollen, bis das Enkelkind geboren ist, dann gehen wir auch da die Schritte komplett mit“, erklärt Krankenschwester Claudia Reuter. Nur den letzten großen Schritt der Hingabe ans Sterben müssen die Patienten allein machen.
Vor Glück weinen
Die Pflegekräfte haben Herrn G. mithilfe eines Patientenlifters in seinen Rollstuhl gesetzt. Dank einer Schmerzpumpe kann er ohne Schmerzen sitzen. Die Ärztinnen sind zufrieden, die Dosierung der Pumpe stimmt. Magere Beine schauen aus seinem Pyjama hervor, die Füße stecken in zu groß gewordenen Hausschuhen. Er lächelt verschmitzt. „Ist das ok, wenn ich meine Hand hier hinlege?“, fragt ihn Claudia Reuter. Die Krankenschwester hat ihre Hand auf die seine gelegt. „Natürlich ist das ok!“, sagt Herr G.
Dann erzählt er von seiner Zeit im Pflegeheim: „Um 8 Uhr Frühstück, um 12 Uhr Mittagessen und um 17 Uhr Abendessen, das war´s!“ Herr G. lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht ins Pflegeheim zurückwill. „Denen fehlt einfach die Manpower“, sagt er. Herr G. lässt sein Leben Revue passieren. In bunter Folge purzeln die Anekdoten. „Die Arbeit, das war etwas, wo ich sagen kann: Das hast du gut gemacht.“ Der Bruder, der Sohn, der Windräder repariert, die Scheidung. Die beiden Enkelkinder. „Ich habe alles gemacht, was man so über sein Leben hinweg tun kann“, resümiert Herr G. „Und irgendwann ist halt Feierabend.“ Auf die Frage, wie es ihm auf der Palliativstation gehe, stockt er. „Ich darf das gar nicht sagen.“ Er stammelt plötzlich. „Es steigt dann so hoch, es lässt gleich wieder nach, bestimmt.“ Er greift nach einem Taschentuch. Herr G. weint nicht über den nahen Tod und nicht über seine körperlichen Einschränkungen. Er weint vor Glück. „Ich kann es nur ganz knapp sagen: Hier fühle ich mich das erste Mal zuhause.“
Auch ökonomisch sinnvoll
So eine intensive Betreuung kostet Geld. „Ab der zweiten Woche erhalten wir pro Patient deshalb ein Zusatzentgelt von knapp 1.000 Euro zu den Erlösen nach den DRGs – pro Fall“, sagt Fischer. Was darüber hinaus notwendig sei, aber nicht regulär finanziert werden könne, werde mit Hilfe von Spenden bezahlt. „Wenn Herr G. zukünftig nicht mehr ins Krankenhaus kommen muss, entspricht das seinem Wunsch – und es spart auch noch Kosten“, so Fischer.
Inzwischen sehen die Klinikbetreiber, dass die Palliativmedizin nicht nur ein Kostenfaktor ist, sondern dass eine Palliativstation das Image eines Krankenhauses verbessert. Außerdem entlastet es das Haus, wenn ein Sterbender von der Intensivstation auf die Palliativstation verlegt werden kann und damit das Bett für einen frischoperierten Patienten frei wird. Das bestätigt Heiner Melching, Geschäftsführer der DGP: „Wenn man sich die Versorgung insgesamt gründlich und ehrlich anguckt, dann ist die Palliativversorgung auch ökonomisch sinnvoll.“
Der Initiator der Bremer Palliativstation, Dr. Hans-Joachim Willenbrink, erinnert sich: „Früher kam es vor, dass die Sterbenden in Krankenhäusern in den Wäscheraum geschoben wurden. Eine Palliativmedizin gab es in den Kliniken nicht.“ 2002 wurde die Palliativstation am LdW eröffnet – anfangs mit vier, dann mit acht Betten. Und weil die Nachfrage so groß war, kamen 2012 weitere vier Betten hinzu.
Für ein würdevolles Ende
Im Jahr 1983 gründeten die Deutsche Krebshilfe und die Universitätsklinik Köln die erste Palliativstation in Deutschland. 1986 folgte das erste stationäre Hospiz. Endlich sollte eine unheilbare, tödliche Krankheit nicht mehr als Niederlage der Medizin oder Ende der Versorgung verstanden werden. Sondern als Anlass, alle Kraft auf ein würdevolles Lebensende zu verwenden.
Aus einer Hand
In Bremen wird die Palliativmedizin aus der Klinik für Palliativmedizin im LdW heraus geleistet. Neben der stationären Versorgung auf der Palliativstation im LdW gibt es die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) für ambulante Patienten. Sie wird in Kooperation zwischen dem LdW und der Organisation „Bremer Hände“, dem ältesten Bremer Pflegedienst, erbracht. Seit dem
1. April 2007 haben Versicherte Anspruch auf die SAPV. Derzeit werden mehr als 55 unheilbar kranke Menschen vom Bremer SAPV-Team zu Hause, im Hospiz oder in einem Pflegeheim betreut.
Für Kinder gibt es eine speziellen Kinder-SAPV, eine Kooperation zwischen LdW und Bremer Händen in Zusammenarbeit mit dem Eltern-Kind-Zentrum Professor Hess. Für Patientinnen und Patienten, die auf anderen Stationen des Krankenhauses liegen, etwa in der Inneren Medizin oder auf der Intensivstation, und die eine palliativmedizinische Versorgung brauchen, gibt es zudem den Palliativdienst. Er wird im Klinikum Links der Weser von der Klinik für Palliativmedizin gestellt. Anders gesagt: Wenn die Patienten nicht auf die Palliativstation können, weil dort kein Bett frei ist, kommt die Station in Form des Palliativdienstes zu ihnen.
Ein Service, der in deutschen Kliniken ausbaufähig sei, meint Heiner Melching von der DGP: „In einem Krankenhaus mit 500 Betten finden sich 1.700 bis 2.000 Patienten im Jahr, die irgendeinen Palliativbedarf haben“, rechnet er vor. „Man kann sie nicht alle auf Palliativstationen versorgen. Darum brauchen wir sicherlich viel mehr dieser Palliativdienste.“
Ein Abschied und ein Umzug
Auf der Palliativstation wird es still. Eine Schwester umarmt einen Angehörigen, das Team senkt die Stimmen. Eben ist eine Patientin gestorben. Von den Angehörigen fällt die Anspannung ab. Sie konnten in Ruhe Abschied nehmen. Die Erleichterung im Raum ist mit Händen zu greifen.
Der Bremer Palliativstation steht ein großer Schritt ins Haus. Sie bereitet sich auf einen Neustart am Klinikum Bremen Mitte vor. Voraussichtlich 2028 wird die Palliativstation im Zuge der Fusion der Krankenhäuser Bremen Mitte und LdW inklusive aller Ärztinnen und Ärzte und der Pflege umziehen. „Der Umzug der Patienten geht innerhalb eines Tages“, so Fischer, „und wir sind bereits an der Planung, damit dann alles gut geht.“ Auch im neuen Domizil werde es geräumige Einzelzimmer geben, schöne Aufenthaltsräume und eine Gemeinschaftsküche „und dazu eine große, begrünte Dachterrasse mit viel frischer Luft und einem sensationellen Blick in den Bremer Himmel“.
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