Ungewollt kinderlos

In Deutschland bleibt jedes zehnte Paar kinderlos. Die Gründe dafür sind vielfältig. Wenn der Kinderwunsch unerfüllt bleibt, beginnt für viele Betroffene ein langer, schmerzhafter Weg. Ein Beispiel aus Baden-Württemberg.

Präzisionsarbeit: Laborleiterin Sabrina Schomann und Mediziner Stefan Eisenhardt im IVF-Labor, dem Herzstück der Kinderwunschklinik. Bei der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) wird ein einzelnes Spermium mithilfe einer sehr feinen hohlen Glasnadel direkt in die Eizelle gespritzt.

Anna Müller packt gerade ihren Koffer und bereitet sich auf die Reise nach Prag vor. Heute fährt sie mit ihrem Lebenspartner dorthin. Nach vier erfolglosen Versuchen in einer Kinderwunschklinik sucht sie nun in Tschechien ihr Glück, um endlich schwanger zu werden. Täglich hat sie Medikamente eingenommen und sich gespritzt, um die Reifung von Eizellen anzuregen. „Ich bin hochstimuliert und voller Hormone“, sagt Anna Müller, die ihren wahren Namen nicht nennen möchte. Die Berufsschullehrerin spricht per Videokonferenz aus ihrer Wohnung in Baden-Württemberg. Das Interview ist ihr wichtig. Sie will ihre Geschichte erzählen und das Bewusstsein für ungewollte Kinderlosigkeit schärfen. Anna Müller weiß, dass ihre biologische Uhr tickt. Nächstes Jahr wird sie 40 Jahre alt. Seit über einem Jahr ist sie in Behandlung und ihr Leben dreht sich nur um ein Thema: endlich schwanger werden. „Es kostet unheimlich viel Energie, täglich die medizinischen Herausforderungen zu meistern und gleichzeitig meinen Aufgaben als Lehrerin gerecht zu werden“, fasst sie zusammen. Ihr Partner unterstützt sie so gut er kann. Das unbeschwerte Leben ist jedoch vorbei. Ihr Alltag wird vom Kalender bestimmt. Familie, Freunde und Bekannte wissen nichts von ihrer Situation. Nur ihre beste Freundin weiß Bescheid. Aus gutem Grund: Anna Müller will sich vor emotionalen Verletzungen schützen. „Gut gemeinte Ratschläge wie ‚Fahrt mal in den Urlaub und entspannt euch, dann klappt es schon‘ helfen mir nicht“, erklärt sie. Anna Müller weiß, dass medizinische Gründe und nicht die Psyche die Ursache für ihre ungewollte Kinderlosigkeit sind. Sie leidet an Endometriose. Bei dieser Erkrankung wächst Gewebe, welches der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, außerhalb der Gebärmutter. Eine weit verbreitete Folge ist eine eingeschränkte Fruchtbarkeit. Bei 40 bis 50 Prozent der Frauen, die ungewollt kinderlos bleiben, ist das die Ursache.

„Gut gemeinte Ratschläge wie ‚Fahrt mal in den Urlaub und entspannt euch, dann klappt es schon‘ helfen mir nicht.“

Anna Müller

Betroffene aus Baden-Württemberg

Gesprächspartnerinnen auf Augenhöhe

Anna Müller hat bereits mehrere In-Vitro-Fertilisationen (IVF) hinter sich. Bei dieser Behandlungsmöglichkeit werden unter Vollnarkose befruchtungsfähige Eizellen entnommen, in eine Nährlösung gegeben und mit den Samenzellen des Partners befruchtet. Anna Müller hat sich körperlich verändert. Durch die Stimulation ist ihr Bauch dick. „Ich sehe aus, als ob ich schwanger wäre, bin es aber nicht. In den Wintermonaten konnte ich das noch mit weiten Pullovern kaschieren“, erklärt sie. Hinzu kommen die finanziellen Belastungen. Allein für Medikamente musste sie aktuell wieder über 2.600 Euro vorstrecken. Insgesamt sind es über 20.000 Euro, die die Beamtin für ihren Kinderwunsch bis dato aus eigener Tasche bezahlen musste. Als Lehrerin bekommt sie zwar für die ersten sechs Versuche einen Großteil von ihrer privaten Krankenversicherung und der Beihilfe erstattet. Wenn es bis dahin nicht geklappt hat, muss sie alle Kosten selbst zahlen. „Meine Ersparnisse schwinden so langsam. Ich weiß nicht, wie ich das weiter finanzieren soll“, beschreibt sie verzweifelt ihre Lage. 

Seit einigen Wochen besucht sie eine Selbsthilfegruppe, die von zwei betroffenen Frauen gegründet wurde. „Ich kann noch nicht sagen, wie sehr mich das unterstützt. Aber der Austausch vermittelt ein gutes Gefühl, nicht allein zu sein mit meinen Sorgen, Nöten und Ängsten“, sagt Anna Müller. Bedauerlich findet sie, dass alleinstehende Frauen, lesbische Paare und unverheiratete heterosexuelle Paare in der Regel keine Unterstützung von den Krankenkassen erhalten. Außerdem wünscht sie sich, dass die Finanzierung der Behandlungen nicht vom Lebensalter, sondern vom Krankheitsbild abhängt. „Die Politik sollte sich diesen Themen mehr widmen“, sagt sie.

„Paare mit unerfülltem Kinderwunsch erleben oft eine emotionale Achterbahn. Hoffnung und Aufbruchstimmung wechseln sich mit Verunsicherung, Hilflosigkeit und Ohnmacht ab.“

Cornelia Hähnlein

Sozialpädagogin, Kreisdiakonieverband Heilbronn

Gespräche auf Augenhöhe: Sozialpädagogin Cornelia Hähnlein bei einer Beratung in der Diakonie Heilbronn.

Cornelia Hähnlein kennt die Sorgen der Betroffenen, auch die von Anna Müller, die sie seit Herbst letzten Jahres berät. Seit über 20 Jahren arbeitet die Sozialpädagogin beim Kreisdiakonieverband Heilbronn. Dort kümmert sie sich mit ihrer Kollegin Sabine Danner im Rahmen der Schwangerenberatung um das Thema „unerfüllter Kinderwunsch“. Dabei werden jährlich rund 50 Erstgespräche durchgeführt. Die kostenlose Beratung ist offen für alle Betroffenen. Die Expertinnen sind auf dem aktuellen Wissenstand und bilden sich regelmäßig bei der Deutschen Gesellschaft für Kinderwunschberatung – Beratungsnetzwerk für Kinderwunsch Deutschland e.V. (BKiD) mit Sitz in Mainz weiter. „Paare mit unerfülltem Kinderwunsch erleben oft eine emotionale Achterbahn“, sagt Cornelia Hähnlein. Hoffnung und Aufbruchstimmung wechseln sich mit Verunsicherung, Hilflosigkeit und Ohnmacht ab. Männer leiden anders als Frauen, da sie den Befund mit ihrer Sexualität und Männlichkeit verbinden und dann häufig ihre Identität infrage stellen.

Sozialpädagoginnen im Austausch: Cornelia Hähnlein und Arbeitskollegin Sabine Danner in einem der Beratungsräume der Diakonie Heilbronn.

Mit der Zeit werden Paare mutloser, das Warten zermürbt, dazu kommen Scham und ein Stigma, denn über ungewollte Kinderlosigkeit spricht man nicht. „Oft ist es wichtig, eine neutrale Gesprächspartnerin zum Reden zu haben“, berichtet Cornelia Hähnlein. Es geht um Themen wie den Umgang im familiären Umfeld, Unterstützung bei erfolglosen medizinischen Behandlungen, Bewältigung von Fehlgeburten sowie Wege, diese Herausforderung gemeinsam als Paar zu meistern. Wichtig sind auch finanzielle Aspekte. Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen verheirateten Paaren je nach Methode zwei bis acht Versuche. Danach müssen die Kosten selbst bezahlt werden. „Da baut sich oft allein aus die sem Grund eine enorme psychische Belastung auf“, sagt Cornelia Hähnlein. Weitere Themen können auch Adoption und Pflegeelternschaft sein. „Besonders schwierig wird es, wenn Betroffene schrittweise Abschied vom Kinderwunsch nehmen müssen oder wollen“, sagt Cornelia Hähnlein.

Es geht um neues Leben

Arbeiten mit Leidenschaft: ein Teil des Teams der Kinderwunschklinik mit Dr. Stefan Eisenhardt
und Kolleginnen aus Neckarsulm.

Nahe Heilbronn, in Neckarsulm, liegt die Kinderwunschpraxis Dr. med. S. Eisenhardt & Kolleginnen, eine von über 140 in Deutschland. Etwa 30 Teammitglieder – Ärztinnen, Labormitarbeiterinnen Labormitarbeiterinnen, Hygienebeauftragte und Medizinische Fachangestellte – arbeiten in der hochmodernen Praxis. Das medizinische Angebot ist vielfältig: Es umfasst hormonelle Stimulationen, Inseminationen, künstliche Befruchtungen wie IVF und Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI), auch im natürlichen Zyklus als schonende IVF-Behandlung ohne hormonelle Stimulation. Stefan Eisenhardt hat sich heute viel Zeit für das Interview genommen. Man spürt seine Leidenschaft für die Reproduktionsmedizin, die Andrologie, Urologie, Gynäkologie und Genetik umfasst. Schon während seines Medizinstudiums in Heidelberg faszinierte ihn dieses Fachgebiet. „Mein Team und ich arbeiten mit Freude. Es gibt nichts Schöneres, als Paaren auf dem Weg zum Wunschkind zu helfen“, sagt der 52-Jährige. Auch gesellschaftspolitisch sieht er die Reproduktionsmedizin als wichtig an. „Ein Blick auf unsere Alterspyramide zeigt das Problem“, erklärt Stefan Eisenhardt. Zum Thema Eizellspende hat er eine klare Meinung. Die scheidende Ampelregierung hatte eine Modernisierung der Gesetzgebung zur Reproduktionsmedizin auf den Weg gebracht und im Koalitionsvertrag verankert. Eine Kommission empfahl im April 2024 die Legalisierung der Eizellspende und eine begrenzte Liberalisierung der altruistischen Leihmutterschaft. „Leider blieben gesetzgeberische Maßnahmen aus. Sie sollten wieder auf die Agenda“, betont er.

Stefan Eisenhardt räumt ein, dass nicht alle Paare Erfolg bei ihrem Kinderwunsch haben. Der ideale Zeitpunkt für eine natürliche Schwangerschaft liegt bei Frauen zwischen 25 und 30 Jahren. „Die Fruchtbarkeit sinkt ab 35 deutlich, weshalb jedes zehnte Paar kinderlos bleibt. Vor 100 Jahren gebar eine Frau ihr erstes Kind im Durchschnitt mit 20 Jahren, heute liegt das Durchschnittsalter bei 31 Jahren“, erklärt er. Die Gründe für Kinderlosigkeit sind vielfältig und verteilen sich zu 30 Prozent auf die Frau, zu 30 Prozent auf den Mann. Bei 20 Prozent liegt eine gemeinsame Ursache vor, bei weiteren 20 Prozent bleibt die Ursache unbekannt. Bei Frauen können Hormonstörungen, Eileiterprobleme, Endometriose oder das Polyzystische Ovarsyndrom (PCO) die Ursache sein. Beim Mann können Störungen der Spermienreifung und des Spermientransports, genetische Ursachen, Mumpsinfektionen in der Kindheit, Hodenhochstand sowie starker Nikotin- oder Alkoholkonsum eine Rolle spielen. Stefan Eisenhardt betont, dass sich die Samenqualität der Männer in den vergangenen 40 Jahren, auch durch Umweltgifte, stark verschlechtert hat. „Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel reduzieren die Spermienquantität“, sagt er. Ein gesunder Lebensstil, einschließlich ausreichendem Schlaf, ist daher wichtig.

Zwei Wochen später. Der Aufenthalt in Prag hat Anna Müller kein Glück gebracht. Alles Geld, Schmerzen und mentale Belastung waren umsonst. „Mein Kinderwunsch-Horrortrip geht weiter. Wir geben die Hoffnung auf ein eigenes Kind aber noch nicht auf.“

„Mein Team und ich arbeiten mit Freude. Es gibt nichts Schöneres, als Paaren auf dem Weg zum Wunschkind zu helfen.“

Dr. Stefan Eisenhardt

Arzt mit Kinderwunschpraxis, Neckarsulm

Kostenbeteiligung bei gesetzlich Versicherten mit Kinderwunsch

Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) haben laut Paragraf 27a SGB V Anspruch darauf, dass ihre Krankenkasse „Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft“ unterstützt. Vor Behandlungsbeginn müssen sie einen Plan mit der geplanten Therapie und den Kosten einreichen. Die GKV übernimmt in der Regel 50 Prozent der Kosten für Behandlungen und Medikamente. Folgende Bedingungen gelten: Das Paar ist verheiratet und verwendet nur eigene Ei- und Samenzellen; beide Partner sind mindestens 25 Jahre alt; die Frau ist höchstens 39, der Mann höchstens 49; die Behandlung muss medizinisch notwendig sein; ein Arzt muss die Erfolgsaussichten der Behandlung bestätigen. Krankenkassen können über die 50-prozentige Kostenbeteiligung hinaus freiwillige Mehrleistungen anbieten. Die AOK Baden-Württemberg etwa übernimmt bei den ersten drei Versuchen 75 Prozent der Kosten für vertragsärztliche Leistungen (basierend auf dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab – EBM) und 75 Prozent der Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente. Bei Frauen wurde die obere Altersgrenze aufgehoben.