Soziale Selbstverwaltung macht sich zukunftsfest
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG) als Veranstalter hatten den „Tag der Selbstverwaltung“ am 22.Mai unter das Motto gestellt: „Demokratie stärken – Die Zukunft der Selbstverwaltung gemeinsam gestalten“.

Die Vertreter der sozialen Selbstverwaltung im AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Bundesverband fordern mehr Möglichkeiten der juristischen Einflussnahme für die Sozialversicherungsträger in Deutschland. Derzeit gibt es unter anderem eine Initiative zur Verankerung der sozialen Selbstverwaltung im Grundgesetz.
„Wir brauchen diese Rechtsschutzmöglichkeiten. Es ist großartig, wenn wir im Grundgesetz verankert werden“, sagte die Aufsichtsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes für die Arbeitgeberseite, Dr. Susanne Wagenmann, auf dem „Tag der Selbstverwaltung“ am 22. Mai in Berlin. Das alleine reiche jedoch nicht. „Wir müssen da noch den Schritt weitergehen, dass wir als Sozialversicherungsträger tatsächlich auch ein Klagerecht haben, wenn der Staat ungerechtfertigt in unsere Bereiche eingreift.“
Klagerecht würde Selbstverwaltung deutlich stärken
Als Beispiel nannte Wagenmann den ursprünglichen Plan der inzwischen gescheiterten Ampel-Regierung, die Hälfte des Transformationsfonds in Höhe von 50 Milliarden für die Abfederung der strukturellen Kosten der Klinikreform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufzubürden. „Das jetzt im Koalitionsvertrag drinsteht, dass es aus dem Sondervermögen kommt, das kommt doch nicht von ungefähr.“ So habe unter anderem der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes (GKV-SV), dem Wagenmann ebenfalls vorsitzt, mit Rechtsgutachten von den Krankenkassen Die 97 Krankenkassen (Stand: 26.01.22) in der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf… „wirklich glaubhaft“ nachweisen können, dass es sich um einen grundgesetzwidrigen Sachverhalt handele.
Wagenmanns Co-Vorsitzender für die Versichertenseite im AOK-Aufsichtsrat, Knut Lambertin, verwies in diesem Zusammenhang auf zurückliegende Entscheidungen des Bundessozialgerichtes (BSG). So hatte das BSG etwa am 18. Mai 2021 entschieden, dass Zahlungen der Krankenkassen an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) verfassungswidrig seien. Lambertin, selbst auch Mitglied im Verwaltungsrat des GKV-SV, hob den „großen Erfolg für das ehrenamtliche Gremium“ hervor. „Wir müssen einfach mal festhalten, dass wir im Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes den Vorstand zur Klage Richtung BzGA geschoben haben.“ Aufgabe der ehrenamtlichen Vertreter der Selbstverwaltung sei nicht nur, die Verwaltung besser zu machen. „Manchmal muss man die Verwaltung auch ein bisschen anschieben.“
Hoffnungsschimmer Koalitionsvertrag
Lambertin und Wagenmann erhoffen sich durch die neue Bundesregierung eine Stärkung der sozialen Selbstverwaltung, wie es auch als Ziel im Koalitionsvertrag formuliert ist, machen sich aber keine Illusionen. Die Herausforderung sei nicht klein, unterstrich Wagenmann. Ehrenamtliches Engagement in der sozialen Selbstverwaltung erfordere neben Optimismus, auch eine „unfassbar hohe Frustrationstoleranz, Durchhaltewille und Durchhaltevermögen“. „Das ist kein Marathon, das ist ein 100-Kilometer-Lauf.“ Lambertin sieht einen ersten guten und hoffnungsvollen Ansatz in den Gesprächen zur GKV-Finanzreform. Die Koalition plant, die Sozialpartner in die entsprechende Kommission einzubinden. „Das ist möglicherweise ein Kulturbruch zu 15-einhalb Jahren, in denen wir erlebt haben, dass in der Bundesgesundheitspolitik die Sozialpartner nicht vorkamen, und natürlich kam damit auch keine soziale Selbstverwaltung vor.“
Selbstverwaltung ins Grundgesetz – allein die Debatte erhöht das Interesse
Einer derjenigen, der eine Verankerung der sozialen Selbstverwaltung unterstützt und vorantreiben will, ist der CDU-Politiker Peter Weiß, Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen. Die soziale Selbstverwaltung sei bereits Bestandteil der Weimarer Verfassung gewesen, erinnerte der ehemalige Bundestagsabgeordnete. „Wenn die darinstand, warum nicht im Grundgesetz?“, fragt Weiß. Daraus erwachse folglich auch ein eigenes Klagerecht. „Das würde die Position der Selbstverwaltung massiv stärken, und dann kommt automatisch wieder das öffentliche Interesse, auch das Interesse der Versicherten.“
Weiß zeigte sich „erschüttert“ von den Nachwahlbefragungen zu den letzten Sozialwahlen 2023 und der niedrigen Wahlbeteiligung. Er erhofft sich von einer solchen Initiative „ein Revival der sozialen Selbstverwaltung“, mehr öffentliche Aufmerksamkeit für deren Aufgaben und Nutzen. „Wenn etwas kein Ansehen hat, die Leute nicht wissen, was das ist und was es ihnen bringt, dann ist es ein Leichtes, es auch abzuschaffen“, warnte Weiß vor immer wieder seitens der Politik vorgetragenen Überlegungen. „Da regt sich keiner in Deutschland auf, außer der Selbstverwaltung selbst, wenn der Gesetzgeber mal kurzerhand den Handlungsspielraum der Selbstverwaltung einschränkt.“ Dass der politische Diskussionsprozess in Gang gesetzt werde, sei das Entscheidende.
Der Koalitionsvertag formuliert zwar die Stärkung der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen als Ziel. Die Vorgabe erschöpft sich allerdings in deren eher unkonkreten Modernisierung und Online-Wahlen als Ergänzung zur Briefwahl im Rahmen der Sozialwahlen, nicht aber den Verfassungsrang durch Grundgesetzänderung. Weiß regte zudem an, die Wahlperioden in den Sozialversicherungen von aktuell sechs Jahren zu verkürzen, um für häufigere öffentliche Präsenz zu sorgen.
Kernelement demokratischer Mitbestimmung
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG) als Veranstalter hatten den „Tag der Selbstverwaltung“ unter das Motto gestellt: „Demokratie stärken – Die Zukunft der Selbstverwaltung gemeinsam gestalten“. Die soziale Selbstverwaltung sei mehr als ein Verwaltungsprinzip, betonte Verdi-Chef Frank Werneke in seiner Eröffnungsrede. „Sie ist ein lebendiger Ausdruck demokratischer Teilhabe und eine tragende Säule unseres Sozialstaats." Die Selbstverwaltung sei das „Fundament ausgewogener Entscheidungen, die sich an der Realität orientieren und dem Gemeinwohl dienen“, erklärte die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) und ehemalige Bundessozialministerin, Andrea Nahles (SPD).
Derzeit aktive Vertreter der Selbstverwaltung aus allen Zweigen der Sozialversicherung Die Sozialversicherung in ihrer heutigen Form geht auf die "Kaiserliche Botschaft" von 1881 und die… – also neben der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung wurde 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt. Ihre Aufgabe… die Arbeitslosenversicherung, gesetzliche Renten- sowie die gesetzliche Unfallversicherung Primäre Aufgabe der Unfallversicherung ist die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und… – mahnten in ihren Statements mehr Qualifizierung an, speziell der jüngeren Menschen, um ein ehrenamtliches Engagement in den jeweiligen Verwaltungsräten zu fördern. Freistellung seitens der Arbeitgeber sei wichtig, um die damit verbundenen Aufgaben zu erfüllen, gegebenenfalls eine Aufwandsentschädigung als eine Form der Wertschätzung. Ziel müsse sein, „attraktiver und jünger“ zu werden, um die Zukunft der sozialen Selbstverwaltung zu sichern. „Junge Menschen beteiligen sich immer dann, wenn sie merken, dass sie auch was bewegen können und nicht nur Beschlussvorlagen abnicken“, schrieb Kai Reinartz, ehemaliger Vorsitzender der Verdi-Jugend und stellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrates der Techniker Krankenkassen (TK), den vermeintlich etablierten Kräften der Selbstverwaltung ins Stammbuch.