Binge-Eating-Störung: Kontrollverlust beim Essen
Ein leckeres Essen bewusst genießen und sich freuen, dass man satt ist – für Menschen mit der Binge-Eating-Störung ist das keine Selbstverständlichkeit. Binge kommt aus dem Englischen und bedeutet „Gelage“. Bei Essanfällen verzehren Betroffene große Mengen an Lebensmitteln. Im Unterschied zu anderen Essstörungen werden meist keine konkreten Maßnahmen ergriffen, um eine Gewichtszunahme zu verhindern, etwa durch Erbrechen, Abführmittel oder Sport. „Die meisten Binge-Eater sind daher übergewichtig“, sagt Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im AOK-Bundesverband.

Merkmale und Folgen
Die Binge-Eating-Störung ist die am weitesten verbreitete Essstörung. Von ihr spricht man, wenn Betroffene in einem Zeitraum von mehreren Monaten mindestens eine Essattacke pro Woche haben. „Dabei haben sie das Gefühl, die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren. Sie essen deutlich mehr und schneller, als die meisten Menschen zu sich nehmen würden, ohne Hunger zu haben. Völlegefühl kann bereits während der Essattacke auftreten und trotzdem lässt sie sich nicht stoppen“, erläutert Ärztin Maroß. Im Gegensatz zu Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Anorexie (Magersucht) beginnt die Binge-Eating-Störung meist etwas später, nämlich bei älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Typisch für die Binge-Eating-Störung ist außerdem:
- Die Betroffenen essen heimlich, oft auch deutlich schneller als normal.
- Anschließend empfinden viele Betroffene Ekel, starke Scham- und Schuldgefühle oder sind deprimiert wegen des übermäßigen Essens.
- Es besteht ein deutlicher Leidensdruck wegen der Essanfälle.
In der Folge nehmen die meisten Betroffenen zu. Dadurch erhöht sich ihr Risiko für Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Gelenkleiden. „Das Übergewicht belastet die Patientinnen und Patienten auch psychisch. Das Selbstwertgefühl nimmt weiter ab. Daraus können sich sie beispielsweise depressive Verstimmungen oder Suchterkrankungen entwickeln. Einige der Betroffenen ziehen sich immer mehr zurück“, so Maroß.
Radio O-Ton von Dr. Astrid Maroß, Ärztin im AOK-Bundesverband
Unzufrieden mit dem eigenen Körper
Warum manche Menschen eine Binge-Eating-Störung entwickeln, ist bisher nicht bekannt. Eine starke Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und wiederholte Diäten können der Störung vorausgehen. Vermutet wird, dass Betroffene mit den Essattacken versuchen, unangenehme Gefühle wie Traurigkeit, Ärger, Wut oder Kummer oder unangenehme Zustände wie Stress und Spannungen abzubauen. Sie kämpfen quasi mithilfe des unkontrollierten Essens gegen negative Gefühle, Ängste, Beziehungskonflikte, Langeweile oder Einsamkeit an. Die meisten Patientinnen und Patienten mit einer Binge-Eating-Störung haben vor allem den Wunsch, abzunehmen. „Die Gewichtsreduktion steht bei einer Therapie jedoch nicht an erster Stelle. Zunächst wird daran gearbeitet, Essattacken zu verhindern. Dabei geht es auch um einen anderen Umgang mit negativen Gefühlen und um eine Verbesserung der seelischen Begleitumstände, wie beispielsweise depressiver Symptome oder des Selbstwertgefühls. Mit einer Therapie können viele Betroffene die Essstörung überwinden“, sagt Dr. Maroß.
Gute Erfahrungen mit kognitiver Verhaltenstherapie
Als wirksame Therapie hat sich hierbei die kognitive Verhaltenstherapie erwiesen. Dabei können die Betroffenen zum Beispiel mithilfe eines Tagebuches herausfinden, in welchen Stimmungen sie unkontrolliert essen. Sie trainieren, solche Situationen ohne Essattacken zu bewältigen und sich besser zu kontrollieren. Außerdem lernen sie, Hunger und Sättigung wahrzunehmen, regelmäßig zu essen und sich gesünder zu ernähren. Sie werden zudem angeregt, sich mehr zu bewegen, und setzen sich mit ihrem Bild vom eigenen Körper auseinander. Bei Menschen mit einer leichten Binge-Eating-Störung haben sich auch angeleitete Selbsthilfeprogramme, die auf kognitiver Verhaltenstherapie beruhen, als hilfreich erwiesen.
Langfristig Ernährung ändern
Haben die Patientinnen und Patienten ihr Essverhalten im Griff, können sie mit einer Gewichtsabnahme beginnen. „Dabei sollten sie allerdings keine zu großen Erwartungen aufbauen und auf kurzfristige Diäten verzichten, da bei diesen das Risiko besteht, dass der Teufelskreis einer Essstörung aufrechterhalten wird“, betont Ärztin Maroß. „Erfolgversprechend ist eher, langfristig den Lebensstil und die Ernährung zu ändern.“ Aber schon ein Leben ohne Essattacken bedeutet für viele Betroffene eine deutlich verbesserte Lebensqualität – auch dann, wenn sie ihr Übergewicht nicht loswerden.