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Gesundheitsmagazin

Psychologie

Binge Eating: Essen bis zum Exzess

Veröffentlicht am:04.06.2021

7 Minuten Lesedauer

Die Binge-Eating-Störung ist die häufigste Essstörung in Deutschland. Betroffene verlieren die Kontrolle über ihr Essverhalten und nehmen große Mengen an Nahrungsmitteln zu sich. Das englische „binge“ bedeutet soviel wie „Gelage“. In der Folge sind die meisten Betroffenen übergewichtig oder adipös. Am Universitätsklinikum Leipzig betreut Prof. Dr. Anja Hilbert Patienten mit Binge-Eating-Störung. Im Interview klärt sie darüber auf, wie die Störung entsteht, welche Folgen auftreten können und welche Therapie erfolgsversprechend ist.

Frau mit Binge Eating ist zu viele Süßigkeiten.

© iStock / Hakase_

Prof. Dr. Anja Hilbert, Professorin für Verhaltensmedizin am Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen der Universitätsmedizin Leipzig

© Stefan Straube

Prof. Dr. Anja Hilbert ist Professorin für Verhaltensmedizin am Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen der Universitätsmedizin Leipzig und hat langjährige Erfahrung in der Behandlung von Patienten mit Binge-Eating-Störung.

Frau Prof. Dr. Hilbert, was ist mit „Binge Eating“ gemeint?

Mit dem Begriff „Binge Eating“ werden Essanfälle bezeichnet. Zwei Hauptkriterien sind notwendig, um die Diagnose „Binge-Eating-Störung“ zu stellen:

  1. Betroffene nehmen große Nahrungsmengen in kurzer Zeit zu sich. Sie essen dabei in der Regel deutlich mehr, als gesunde, nicht essgestörte Menschen in diesem Zeitraum essen würden.
  2. Sie verlieren dabei die Kontrolle über das Essen, haben also das Gefühl, nicht mehr mit dem Essen aufhören zu können.

Kehren die Essanfälle häufig wieder, besteht ein erhöhter Leidensdruck und liegt keine Anorexia nervosa (Magersucht) oder Bulimia nervosa (Ess-Brecht-Sucht) vor, kann die Diagnose einer Binge-Eating-Störung gestellt werden. Im Vergleich zu Betroffenen mit Anorexia nervosa und Bulimia nervosa greifen Menschen mit einer Binge-Eating-Störung selten zu extremen Maßnahmen wie Fasten, selbst herbeigeführtem Erbrechen oder exzessivem Sport, um ihr Gewicht zu reduzieren. Sie haben aber ebenfalls einen starken Wunsch abzunehmen und leiden sehr unter ihrem Gewicht.

Welche Anzeichen deuten außerdem auf eine Binge-Eating-Störung hin?

  • Emotionales Essen: Nahrungsmittel werden zum „Freund“. Sie helfen dabei, mit negativen Gefühlen zurechtzukommen.
  • Lustvolle Qualität des Essens: Menschen mit Binge-Eating-Störung lieben Essen – manchmal so sehr, dass sie ihre Essanfälle genießen. Danach folgen aber nicht nur ein unangenehmes Völlegefühl, sondern auch negative psychische Zustände wie Deprimiertheit, Schuld- oder Ekelgefühle.
  • Schnelles Essen ohne Hungergefühl: Die Essanfälle finden unabhängig von körperlichem Hungergefühl statt. Die Betroffenen essen meist schneller als normal, wenn sie einen Essanfall haben.
  • Heimlichkeit: Menschen mit Binge-Eating-Störung essen in der Regel alleine und verschweigen ihre Störung aus Scham vor ihren Mitmenschen.

Führen die Essanfälle immer zu Übergewicht?

Etwa 90 Prozent der Betroffenen sind übergewichtig (Body-Mass-Index zwischen 25 und 30 kg/m2) oder adipös (Body-Mass-Index ab 30 kg/m2). Viele Betroffene haben eine lange Diätgeschichte hinter sich, bevor sie eine Psychotherapie für die Binge-Eating-Störung aufsuchen. Teilweise schaffen sie es, kurzfristig ihr Gewicht zu reduzieren, aber langfristig gelingt dies zumeist nicht. Durch die Essanfälle steigt das Gewicht in der Regel wieder deutlich an.

Wer ist von Binge Eating betroffen?

Essanfälle beginnen meist in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter. Die Betroffenen begeben sich aber erst sehr viel später in Behandlung. Sie sind also im Vergleich zu Patienten mit Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa deutlich älter, wenn sie sich Hilfe suchen. Das liegt daran, dass Binge Eating als Essstörung noch nicht so lange bekannt ist und Betroffene denken, sie müssten sich nur einfach zusammenreißen, um ihr Problem in den Griff zu bekommen.

Jedoch: Wer denkt, er sei selbst schuld an seinen Essanfällen, nimmt die Störung als solche nicht ernst. Oder er trifft im Gesundheitswesen auf Behandler, die dazu raten, sich zusammenzureißen und weniger zu essen. Das führt leider dazu, dass die Betroffenen die Behandlung erst aufsuchen, wenn sie bereits völlig verzweifelt sind und merken, dass sie kontinuierlich jedes Jahr stark zunehmen (zum Beispiel acht Kilogramm pro Jahr).

Betrifft Binge Eating viele Menschen?

Binge Eating ist die häufigste Essstörung in Deutschland. Die Angaben zur Häufigkeit gehen allerdings weit auseinander, je nach Erhebungsmethode. Die Punktprävalenz (Erkrankung an bestimmten Stichtag in der Bevölkerung) liegt in der Bevölkerung zwischen einem und sechs Prozent. Ich gehe davon aus, dass sie etwa bei drei Prozent liegt.

Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern liegt bei drei zu zwei. Es erkranken also mehr Frauen – es sind aber deutlich mehr Männer betroffen als bei den Essstörungen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa. Bei Männern bleibt Binge Eating meist unbehandelt, weil sie sich bei psychischen Problemen deutlich seltener Hilfe suchen als Frauen.

Wie entsteht die Binge-Eating-Störung?

Bei der Binge-Eating-Störung handelt es sich um eine multifaktorielle Störung. Bei der Entstehung können also verschiedene Faktoren zusammenwirken und sich gegenseitig beeinflussen. Etwa diese:

  • negative Gestimmtheit, Depressionen, Ängste
  • negatives Körperbild, niedriges Selbstwertgefühl
  • häufige Diäten
  • erhöhter Body-Mass-Index (BMI)
  • Kritik an der Figur oder am Gewicht von Freunden oder der Familie
  • familiäre Konflikte: Beispielsweise sind viele Betroffene im Jugendalter Trennungs- oder Scheidungskinder, die negative Gefühle mit Trostessen kompensieren.
  • Essverhalten in der Familie: Zwillingsstudien haben gezeigt, dass die Erblichkeit von Essanfällen bei 40 bis 60 Prozent liegt.

Wie verläuft die Binge-Eating-Störung?

Ein wechselhafter Verlauf ist typisch: Betroffene befinden sich einmal in einer stabilen Phase, weil ihre Lebensumstände gerade besser sind und sie zum Beispiel eine neue Beziehung eingegangen sind. Dann können sie monatelang symptomfrei sein. In Krisen erleben sie dann wieder ein unkontrolliertes Essverhalten.

Frau mit Binge Eating ist verzweifelt, weil sie nicht aufhören kann zu essen.

© iStock / bymuratdeniz

Betroffene einer Binge-Eating-Störung verlieren die Kontrolle über das Essen und nehmen so deutlich mehr Nahrung zu sich als gewöhnlich.

Welche Folgen kann eine Binge-Eating-Störung haben?

Häufig sind Menschen mit einer Binge-Eating-Störung auch von anderen psychischen Erkrankungen und Beschwerden betroffen. Dazu zählen:

  • Angststörungen
  • Depressionen
  • niedriges Selbstwertgefühl
  • Schlafprobleme
  • Stress
  • zwischenmenschliche Probleme: häufig Konflikte oder auch Kontaktschwierigkeiten
  • erhöhtes Suizidrisiko, vor allem wenn neben der Essstörung eine weitere psychische Erkrankung wie Depression vorliegt

Weil die Binge-Eating-Störung meist mit Übergewicht und Adipositas verbunden ist, können zum Beispiel diese körperlichen Erkrankungen auftreten:

  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie Bluthochdruck oder Herzinfarkt
  • Diabetes mellitus Typ 2
  • muskuloskelettale Beschwerden wie Gelenkprobleme
  • erhöhtes Risiko, an bestimmten Krebsarten zu erkranken (unter anderem: Speiseröhrenkrebs, Dick- und Enddarmkrebs, Nierenkrebs, Brustkrebs)

Wie wird Binge Eating therapiert?

In der Regel wird eine Binge-Eating-Störung ambulant behandelt. Stationär wird in diesen Fällen therapiert,

  • wenn eine ambulante Therapie nicht ausreichend war,
  • wenn die Symptomschwere hoch ist, etwa wenn die Essanfälle sehr häufig auftreten oder der psychosoziale Leidensdruck sehr stark erhöht ist.

Das wirksamste Verfahren für die Binge-Eating-Störung ist die Kognitive Verhaltenstherapie. Die Effekte sind durch Studien gut belegt. Sie setzt bei drei Aspekten an:

  1. Das Essverhalten normalisieren: In der Therapie wird ein regelmäßiges, gesundes Essverhalten erlernt, das vor Essanfällen schützt. Bei Patienten mit Adipositas geht es auch darum, das Gewicht zu reduzieren oder zumindest zu stabilisieren. Dafür ist auch die Komponente Bewegung wichtig: Sie hilft das Gewicht zumindest zu stabilisieren, hebt die Stimmung und stärkt das Selbstwertgefühl.
  2. Die Körper- und Selbstakzeptanz stärken: Die Betroffenen sind zumeist sehr unzufrieden mit ihrem Körper und ihrem Gewicht. Um sich unabhängig vom Gewicht wohler mit sich selbst zu fühlen, lernen sie, ein positives Körperbild aufzubauen und sich von dem gesellschaftlichen Schlankheitsideal sowie der Stigmatisierung von Übergewicht abzugrenzen.
  3. Auslöser von Essanfällen erkennen und vermeiden: Betroffene lernen zu beobachten, wann Essanfälle auftreten und das Essbedürfnis hoch ist. Um dies abzuschwächen, lernen Betroffene, mit negativen Gefühlen umzugehen und Konflikte zielführend zu lösen. Außerdem lernen sie, ihre Bedürfnisse zu äußern und nein zu sagen.

Es gibt außerdem noch ein weiteres Verfahren, dessen Wirksamkeit durch Studien nachgewiesen ist: Die Interpersonelle Psychotherapie. Hier wird rein interpersonell (zwischenmenschlich) gearbeitet. In welchem interpersonellen Kontext ist die Essstörung entstanden? Wie wird sie aufrechterhalten? Das Ziel ist dabei, die Interaktions- und Kommunikationsmuster des Patienten mit seinen Bezugspersonen zu verbessern und zwischenmenschlichen Stress zu reduzieren, um so die Essanfälle zu verringern.

Kann man Binge Eating heilen?

Um die 50 Prozent der Patienten sind nach einer Psychotherapie wie der Kognitiven Verhaltenstherapie oder der Interpersonellen Psychotherapie symptomfrei. Im Vergleich zu anderen Essstörungen ist dies eine sehr gute Heilungschance. Auch die restlichen 50 Prozent haben ihre Symptomatik deutlich oder immerhin etwas verbessert. Rückfälle liegen durchschnittlich bei unter zehn Prozent. Die meisten Patienten lernen durch die Therapie, ihr Essverhalten langfristig stabil zu regulieren.

Verlieren Betroffene durch die Therapie an Gewicht?

Die Betroffenen können ihr Körpergewicht stabilisieren und auch einige Kilogramm abnehmen – vor allem wenn es ihnen gelingt, ihre Essanfälle vollständig in den Griff zu bekommen. Einige Studien weisen außerdem darauf hin, dass nach erfolgreicher Behandlung der Essanfälle eine Gewichtsreduktionsbehandlung umso erfolgreicher durchgeführt werden kann.

An wen können sich Betroffen wenden?

Wer glaubt, betroffen zu sein, findet im Internet viele Informationen zur Binge-Eating-Störung. Etwa in der Patientenleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen oder bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Hat man sich informiert, bieten Beratungsstellen, die es flächendeckend in Deutschland gibt, gute Möglichkeiten zur weiteren persönlichen Information und Beratung. Niedergelassene Psychotherapeuten sind Ansprechpartner für die Diagnostik und Behandlung.

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Was können Angehörige oder Freunde von Betroffenen tun?

Sie können sich ebenfalls auf den eben genannten Internetseiten informieren und ihre Sorge dann bei der betroffenen Person freundlich ansprechen. Direktes Konfrontieren ist meist nicht sinnvoll, da Betroffene dann schnell abwehren. Ich empfehle, eine verständnisvolle Haltung einnehmen. Sie können etwa die Perspektive der betroffenen Person auf ihr Essverhalten erfragen und nachhaken, ob sie einen Kontrollverlust beim Essen empfindet. Eine wichtige Information, die man bei vorhandenen Essanfällen zur Motivation erwähnen kann: Wie schon erwähnt sind nach der Therapie 50 Prozent mit Binge-Eating-Störung völlig symptomfrei. Und auch die restlichen 50 Prozent können ihre Symptome reduzieren.

Ist die Corona-Pandemie eine besondere Herausforderung für Essgestörte?

Ja definitiv, man muss davon ausgehen, dass viele Betroffene unter einer Verschlechterung der Symptomatik leiden. Sie haben weniger soziale Kontakte, die Struktur fehlt und auch das Gewichtsmanagement ist erschwert. Der tatsächliche, durch die Pandemie bedingte Anstieg der Binge Eating-Störung lässt sich noch nicht klar benennen, aber schaut man sich die Erfahrungsberichte von Experten aus den Kliniken an, müssen wir davon ausgehen. In Kinder- und Jugendpsychiatrien gibt es aktuell vermutlich ein Drittel mehr Patienten mit der Anorexia nervosa (Magersucht).

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