Solidarität stärken: Mit Fairness aus der Krise

Positionspapier zu den aktuellen Herausforderungen im Angesicht der SARS-CoV-2-Pandemie

1. Die SARS-CoV-2-Pandemie und ihre persönlichen Folgen für die Menschen, aber auch die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Krise stellen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vor Herausforderungen, wie sie große Teile unserer Bevölkerung noch nie erlebt haben. Den Risiken beim Umgang mit der Pandemie, insbesondere mit Maßnahmen, die im Nachhinein als unverhältnismäßig betrachtet werden könnten, stehen erhebliche Chancen für Fairness und Rücksichtnahme, Modernisierung und Nachhaltigkeit gegenüber. Diese Chancen sollten stärker betont werden.

2. Die Bekämpfung der Pandemie kann bloß solidarisch gelingen. Weil sich das Virus nur eindämmen lässt, wenn möglichst viele sich und zugleich ihre Mitmenschen schützen und auf sie schauen, erleben wir derzeit ein neues – wenn auch fragiles – „Wir-Gefühl“. Es wird deutlich, dass sich Fremdnützigkeit und Eigennützigkeit nicht ausschließen: Was den anderen schützt, nützt letztlich auch mir. Rücksichtnahme kann zudem mittelfristig die Ausgabenlast der Krankenkassen senken. Hinsichtlich der Einstufung gesellschaftlicher Aufgaben als „systemrelevant“ wird eine Neubewertung diskutiert. Ein funktionierendes Gesundheitswesen auf der Grundlage des solidarischen Systems der gesetzlichen Krankenkassen erweist sich in der Krise als entscheidender Stabilitätsfaktor. Sicherheit ist nämlich, wie schon Abraham Maslow in seiner Bedürfnishierarchie einstufte, eines der zentralen Bedürfnisse der Menschen. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Instabilität ist die jedermann zugängliche Gesundheitsversorgung von größter Bedeutung für das Sicherheitsgefühl und damit auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Diese Einsichten und Ansätze sollte man bewahren, um sie in der Post-Corona-Zeit für gesellschaftspolitische Fortschritte zu nutzen. Vor diesem Hintergrund täten die gesetzlichen Krankenversicherungen gut daran, den von ihnen gestifteten Nutzen stärker zu kommunizieren. So kann gerade im internationalen Vergleich die Überlegenheit eines Systems verdeutlicht werden, das in Deutschland zuweilen als selbstverständlich betrachtet und dessen Funktion als tragende Säule des Sozialstaats unterschätzt wurde.

3. Die Ungleichheiten in der Gesellschaft werden durch die Krise deutlich sichtbar: Prekär Beschäftigte und Menschen ohne Sicherheitsnetz trifft die Krise härter als andere. 75% der "systemrelevanten" Arbeitskräfte sind Frauen, die laut Statistischem Bundesamt im Schnitt 21% weniger verdienen als Männer und zudem einen Großteil der unbezahlten Haus- und Familienarbeit leisten. Entsprechend sind sie vom Ausfall der Kinderbetreuung deutlich härter betroffen. Dies schadet ihrem beruflichen Fortkommen noch stärker als das ohnehin auch vor der Pandemie der Fall war und wird noch mittel- und langfristig durch verpasste Karrierechancen in vielen Biografien eine Rolle spielen. So kann man bereits beobachten, wie verhältnismäßig wenige Beiträge von Wissenschaftlerinnen in der aktuellen Fachdiskussion zu den Pandemiefolgen publiziert oder ausgestrahlt werden.

Frauen sind in politischen Entscheidungsgremien weiterhin unterrepräsentiert. Bei der Gestaltung von Hilfsmaßnahmen ist es das Gebot einer solidarischen Gesellschaft, jede Maßnahme auf ihre Wirkung speziell auf die am stärksten betroffenen Gruppen zu prüfen und diese Gruppen in Entscheidungsprozesse zu involvieren.

4. Die bereits bestehende „2-Klassen-Gesellschaft“ von besser und weniger gut informierten Menschen ist nicht weniger kritisch zu sehen. Die aktuelle Pandemie zeigt mehr denn je die Notwendigkeit der nachhaltigen Entwicklung von Gesundheitskompetenz in der Breite der Zivilgesellschaft. Die in diesem Kontext neu aufbrandende Diskussion um Mittel und Methoden für digitale Bildung sollte für eine breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagne zu zentralen Gesundheitsthemen genutzt werden, die sich dann in weiteren geeigneten dezentralen Formaten fortsetzen muss. Gerade wenn es um erhebliche Gesundheitsrisiken und unter Umständen gar lebenswichtige Informationen zur Gesundheitsvorsorge geht, ist es ein zentrales Gebot der Fairness und Solidarität, Gesundheitskompetenz nach neuesten Erkenntnissen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vermitteln. Digitale, innovative Formate und Übermittlungswege können hier sehr hilfreich sein. Krankenkassen sind an dieser Stelle als Adressaten neben anderen Akteuren (z.B. Schulen, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) inhaltliche Partner, aber auch Systemtreiber. In der Kommunikation mit ihren Kunden sind sie immer schon auf ein die Gesundheit und Versorgung förderndes Lernen und Kommunizieren hin ausgerichtet. Diese Kompetenzen und Strukturen sollten als digitale Initiativen noch stärker in Kooperation mit den Projekten der digitalen Weiterentwicklung von kompetenzbildenden Strukturen genutzt werden („lernen des Gesundheitssystem“). Dabei sollen auch Zielgruppen in den Fokus genommen werden, die bisher weniger mit digitalen Bildungswegen angesprochen wurden. Gerade ältere Menschen können mit Hilfe der Begleitung lokaler Träger enorm an gesundheitlicher Mündigkeit mit digitalen Hilfsmitteln dazugewinnen. Mit den eigenen Gesundheitsdaten souverän umgehen, als Patient eine aufgeklärte Rolle einnehmen können und als professioneller Akteur auf der Höhe der Zeit ausgebildet sein - diese Stoßrichtungen können und sollten einen wesentlichen Teil zukünftiger Gesundheitskompetenzentwicklung bilden. 

5. Sowohl bei der Bewältigung der Pandemie als auch für das Gelingen der Digitalen Transformation spielen „Grundwahrheiten“ und gesicherte Erkenntnisse, aber auch das ehrliche Eingestehen von Erkenntnisdefiziten eine entscheidende Rolle: Was genau wissen wir? Welche neuen Erkenntnisse benötigen wir, und wie können wir sie gewinnen? Wann und wo haben wir uns getäuscht, und was hat den Irrtum verursacht? Ohne valide Daten fehlt politischen Konzepten vielfach die belastbare Entscheidungsgrundlage. Ferner kann ohne empirische Daten die Wirksamkeit getroffener Entscheidungen häufig nicht objektiviert überprüft werden. Irrtümer einzugestehen und ein wissenschaftsorientiertes, lernendes politisches System zu etablieren, setzt eine Fehlerkultur voraus, die Perfektionismus „Made in Germany“ überwindet.

Bei der Gewinnung gesicherter Erkenntnisse und ihrer Weitergabe an die Gesellschaft spielt die Wissenschaft mit ihrer Sachkompetenz, ihrem Erkenntnisinteresse und ihrer Gemeinwohlorientierung eine besondere Rolle. Die sie in der Öffentlichkeit repräsentierenden Wissenschaftler tragen eine große Verantwortung, sowohl hinsichtlich ihrer inhaltlichen Aussagen als auch in der öffentlichen Kommunikation. Politische und wissenschaftliche Verantwortung bedingen einander, sind aber getrennt zu betrachten. Die demokratisch gewählten Repräsentanten staatlicher Institutionen wie Regierungen und Parlamente haben die Letztentscheidungsmacht, die es im Einklang mit der aus dessen grundrechtlich gewährleisteter Freiheit resultierenden Selbstverantwortung des Einzelnen zu entfalten gilt. Der solidarische Kraftakt, den große Teile der Bevölkerung derzeit leisten, wird konterkariert, wenn Politik oder auch Medien die Krise für die eigene Profilierung missbrauchen, anstatt sich auf das Gemeinwohl zu konzentrieren und die Bevölkerung sachorientiert zu informieren.

6. Selbst wenn Klarheit über die Wirkung des Virus und das Infektionsgeschehen sowie gesicherte Erkenntnisse über den Immunstatus nach erfolgter Infektion bestehen, wären die Ausstellung und Nutzung eines „Immun-Ausweises“ kritisch zu betrachten. Zwar könnten mithilfe eines Immun-Ausweises oder einer entsprechenden App für einen größeren Personenkreis Kontaktbeschränkungen gelockert werden. Auch wäre es möglich, ohne Eigen- und Fremdgefährdung medizinisches Personal mit Immun-Ausweis in kritischen medizinischen Situationen einzusetzen, wenn entsprechenden Personen ohne Immunschutz ein Einsatz nicht zuzumuten wäre. Eine unreflektierte Einführung und Nutzung als „Eintrittskarte“ zu öffentlichen Veranstaltungen, Gastronomie, Kultureinrichtungen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder auch an den Arbeitsplatz könnte aber zu einer „2-Klassen-Gesellschaft“ der Privilegierten (mit überstandener Erkrankung) und potentiellen Gefährdern führen. Der Immunausweis könnte ferner Personen, bei denen kein schwieriger Krankheitsverlauf zu erwarten ist, dazu verleiten, sich bewusst mit Covid 19 anstecken zu lassen, um in den Genuss des Ausweises und dessen Vorteilen zu kommen. Eine zur Erlangung eines Immun-Status absichtlich herbeigeführte Ansteckung kann aber verheerende Folgen haben und sogar zur Verbreitung der Krankheit beitragen. Dies trägt auch die WHO als Bedenken gegen solche Ausweise vor. Vermutlich würden die Vorteile eines Immunausweises auch dazu führen, dass viele sich auf eine unentdeckte, überwundene Infektion testen lassen wollen. Völlig unklar ist aber, wer die Kosten für solche Massen-Tests zu tragen hätte. Allemal bedürfte es erst einer klaren Strategie, valide Antikörpertestungen durchzuführen, die mit hoher Spezifität (minimal falsch-negative Ergebnisse) und Sensitivität (minimal falsch-positive Ergebnisse) auch bei niedriger Prävalenz überzeugen.

Ein „Immun-Ausweis“ und/oder sogar staatliche Anordnungen zur Ausstellung solcher Bescheinigungen würden bereits bestehende Probleme einer Spaltung der Gesellschaft und unsolidarisches Verhalten verstärken. Es wäre zukünftig auch schwierig, allgemein wirkende kontaktbeschränkende Maßnahmen etwa bei größeren Versammlungen anzuordnen, wenn einzelne Personen mit Immunausweis zunächst von den Maßnahmen auszunehmen wären.

Vor der Einführung eines Immunausweises sollten daher Rahmenbedingungen zur Vermeidung von Diskriminierung und Ausgrenzung festgelegt werden – und das möglichst auf europäischer Ebene, um Benachteiligungen von Personen anderer europäischer Nationalitäten zu verhindern.

Sollte ein wirksamer und risikoarmer Impfstoff zur Vermeidung einer Ansteckung mit Covid 19 flächendeckend zur Verfügung stehen, stünden einem Immunausweis (ähnlich dem derzeitigen Impfpass) weniger Bedenken entgegen. Denn dann könnte jeder durch die Impfung für seine Immunität sorgen und müsste keine Diskriminierung befürchten. Schon jetzt wird ein Impfpass von einigen Staaten verlangt, um die Einreise in das Staatsgebiet auf Menschen mit erfolgter Impfung zu beschränken und damit sowohl die inländische Bevölkerung vor der Ansteckung mit infektiösen Erkrankungen als auch den Einreisenden selbst zu schützen.

 

* Dieses Positionspapier der Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates für Digitale Transformation der AOK Nordost wurde am 15.6.2020 beschlossen und beruht auf dem bis Mitte Juni 2020 veröffentlichten Kenntnisstand zur SARS-CoV-2-Pandemie. Es soll in regelmäßigen Abständen überprüft und ggf. redigiert werden. Das verwendete generische Maskulinum umfasst alle Geschlechter.

Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost

  • Dipl.-Pol. Inga Bergen, Sprecherin
  • Prof. Dr. Dirk Heckmann, Geschäftsführer
  • Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
  • Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
  • Prof. Dr. Stefan Heinemann
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
  • Prof. Dr. Anne Paschke
  • Dipl.-Psychologin Marina Weisband