Gesundheitsversorgung im Krisenmodus - Digitalisierung hilft Kriegsflüchtlingen und uns

Positionspapier des Wissenschaftlichen Beirates für Digitale Transformation

März 2022, Krieg in Europa. Knapp sieben Jahre nach der letzten großen Fluchtmigration und rund zwei Jahre nach Beginn der COVID-19-Pandemie möchte man meinen, dass der Hightech-Standort Deutschland gelernt hat, mit Krisen umzugehen und dies nicht nur durch (erhebliche) finanzielle Mittel und (mehr als tröstliche) humanitäre Hilfe, sondern auch durch ein Gesamtkonzept, wie man das Erwartbare erwartet und das Machbare macht: mit Hilfe digitaler Technologien und auf der Basis in Echtzeit erfasster Daten die vor dem Krieg aus der Ukraine Fliehenden mit dem Notwendigen zu versorgen. Private Initiativen machen vor, wie schnell und pragmatisch Lösungen entwickelt werden können, um den Bedarf zu decken. Die an vielen Stellen sichtbare Selbstwirksamkeit der Zivilgesellschaft gilt es – auch und gerade staatlicherseits – zu fördern. Sie ist in Krisen unverzichtbar.

Was wir stattdessen erleben, sind Zuständigkeitsfragen (etwa die Abgrenzung zwischen dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten und dem Landesamt für Einwanderung in Berlin) und schwer überwindbare Hürden (z.B. das Erfordernis, als Geflüchteter eine Wohnungsgeberbescheinigung für eine garantierte langfristige Wohnmöglichkeit beizubringen). Demgegenüber werden einfache und schnelle Lösungen dringend gebraucht. So gilt es, vollständig elektronische Verwaltungsverfahren (z.B. zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis oder zur Wohnsitzmeldung) mit passenden Apps, Authentifizierungsmechanismen und Schnittstellen anzubieten. Diese Lösungen fehlen – wohlgemerkt auf deutscher Seite, denn viele der Geflüchteten haben eine digitale Identität. Schon 2015 wurde eine Beschleunigung der Digitalisierung gefordert. Was ist seitdem passiert? Das hierfür zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt sich in seiner Digitalisierungsagenda 2022[1] zwar viele seit 2016 in Angriff genommene Modernisierungsprojekte auf die Fahnen, ein strukturiertes Vorgehen bei der Lenkung der Flüchtlingsströme aus der Ukraine und der Steuerung der Hilfsangebote ist derzeit aber noch nicht sichtbar. So sind es eher private Initiativen[2] wie unterkunft-ukraine.de, jobkraftwerk.com oder die Sachspenden-App „WasWohin“, die zeigen, welchen unmittelbaren Nutzen digitale Tools für die Schutzsuchenden stiften.

[1] https://www.bamf-digitalisierungsagenda.de.

[2] Vgl. die Übersicht bei https://www.vdz.org/gesellschaft-und-politik/digitalisierung-als-begleiter-der-integration.

Fehlende Digitalisierung rächt sich auch im Gesundheitswesen. Nicht nur, weil die Folgen der Pandemie schlechter bewältigt werden, als dies der Fall sein müsste. Man denke etwa an den Rückstau in der ärztlichen Behandlung, der durch Telemedizin zwar nicht beseitigt, aber doch verringert worden wäre, oder die in der letzten Legislaturperiode zwar auf den Weg gebrachte, aber bisher kaum genutzte elektronische Patientenakte. Auch die Impfkampagne hätte besser gesteuert werden können, wenn die Zahl der Geimpften, Genesenen und Getesteten genau erfasst worden wäre. Dazu kommt, dass nun eine hohe Zahl neuer Mitbürgerinnen und Mitbürger in die Impfstatistiken und Impfstrategien überführt werden muss. Derzeit scheint die Datenlage zur Pandemie weniger denn je aussagekräftig zu sein. Auch dies spricht für die bessere Verwendung bestehender Schnittstellen bei der Datenerhebung (z.B. die elektronische Datenerhebung und Datenübertragung mithilfe der elektronischen Identität des Reisepasses), die es einfach zu nutzen gilt.

Es geht aber auch um die Versorgung der vor dem Krieg geflüchteten Menschen, die nicht nur vielfach traumatisiert sind, sondern auch ihre Krankengeschichte aus der Heimat mitbringen. In der Tat ist es nur ihre Geschichte, keine (elektronische) Patientenakte. Denn auch wenn alle Schutzsuchenden – mehr oder weniger unbürokratisch (man denke nur an die Erforderlichkeit von Behandlungsscheinen in manchen Bundesländern) – krankenversichert sind, muss unser ohnehin schon belastetes Gesundheitssystem nun zahllose Befunde verkraften, die neu zu erheben sind, um die Menschen angemessen behandeln zu können. Mit einer funktionierenden Telematikinfrastruktur und international standardisierten Schnittstellen wäre das Gesundheitssystem viel besser in der Lage, bis zu einer Million potenziell zusätzlich zu behandelnde Menschen entsprechend zu versorgen. Telekonsultationen über Plattformen etwa würden dem Umstand Rechnung tragen, dass die aufgenommenen Menschen ungleich über Deutschland verteilt sind, indem die Versorgung zu einem guten Teil ortsunabhängig wäre. Überdies ließe sich durch telemedizinische, mit den Systemen der Ukraine interoperable Instrumente die Patientenversorgung von Deutschland aus direkt im Kriegsgebiet verbessern. Darüber hinaus sind digitale Angebote zur psychosozialen Unterstützung im Rahmen der Krisenintervention (auch hier gibt es private Initiativen wie krisenchat.de, die innerhalb weniger Tage eine leicht zugängliche psychologische Betreuung via Chat für Kinder und Jugendliche aus der Ukraine eingerichtet haben) in Deutschland unterrepräsentiert, obwohl hierdurch die psychische Gesundheit traumatisierter Geflüchteter gestützt werden könnte. Schließlich finden sich zwar vielfältige ukrainisch-sprachige Informationsangebote zur Gesundheitsversorgung in Deutschland im Internet, jedoch sind diese nicht immer verständlich genug aufbereitet oder nicht in inländisch nutzbare Apps integriert, oder sie holen die Geflüchteten erst gar nicht dort ab, wo sie nach Informationen suchen (z.B. in sozialen Netzwerken). Portale wie „germany4ukraine“ (https://www.germany4ukraine.de/hilfeportal-de) zeigen, dass vieles möglich ist, wenn niedrigschwellige Angebote von Menschen mit verschiedenen Bildungshintergründen genutzt werden können.

Die mit der Digitalisierung einhergehende Vernetzung, Automatisierung und Prozessoptimierung und die damit einhergehende Nutzerorientierung zeigen ihre Stärken gerade bei einer großen Zahl von Anwendungsfällen. Dies gilt um so mehr, als nunmehr eine Vielzahl von der Pandemie direkt und indirekt Betroffener auf eine Vielzahl von vor dem Krieg geflüchteter Menschen trifft, denen eine angemessene Gesundheitsversorgung zu eröffnen unsere rechtliche und moralische Pflicht ist. Wir kommen nur dann in angemessener Zeit aus dieser Krise heraus, wenn wir alle Chancen, die uns die Digitalisierung eröffnet, nutzen und unsere informationstechnologischen Instrumente für eine grenzüberschreitende Nutzung öffnen.

1. Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) gilt für alle Menschen. Die diesbezügliche staatliche Schutzpflicht erfasst alle technisch, organisatorisch und wirtschaftlich möglichen Maßnahmen, mithin auch digitale Anwendungen – unabhängig von ihrem Urheber. Das Mögliche und Zumutbare zu unterlassen oder nicht zu veranlassen, verletzt das Untermaßverbot.

2. Alle sinnvollen, eben auch digitalen Maßnahmen zu erheben und in einem Gesamtkonzept zu konsolidieren, ist eine staatliche Aufgabe. Teil dieses Konzepts sollten die privaten Initiativen sein, die erfolgreich in Windeseile digitale Hilfsangebote entwickelt und damit Fakten geschaffen haben. Dieses Vorgehen offen zu kommunizieren, schafft Vertrauen, weckt Hoffnung bei den Betroffenen und motiviert staatliche und private Akteure, sich weiter überobligatorisch zur gemeinsamen Bewältigung der Krise einzusetzen und koordiniert an einem Strang zu ziehen. Das ist gelebte Selbstwirksamkeit der Zivilgesellschaft.

3. Das Gesamtkonzept sollte modular in einer Weise aufgebaut sein, dass es bei bestehenden Lücken Wege aufzeigt, in welchen Bereichen und wie diese auch von Privaten geschlossen werden können. Ein Monitoring der geplanten und laufenden Maßnahmen erhöht die Umsetzungschancen.

4. Soweit in diesem Kontext personenbezogene Daten verarbeitet werden müssen, kann dies im Rahmen einer Güterabwägung in großem Umfang gerechtfertigt werden. Schnelle und wirksame Hilfe bewirkt in solchen dramatischen Bedrohungslagen eine hohe Legitimation.

5. Die bereits angestoßene Digitalisierung im Gesundheitssektor ist zu beschleunigen und mit hoher Priorität voranzutreiben. Sie sollte stärker als bisher darauf ausgerichtet sein, auch grenzüberschreitend zum Einsatz zu kommen, und europäische sowie internationale Standards berücksichtigen. Sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig werden sich diesbezügliche Bemühungen und Investitionen amortisieren.

6. Die Schutzsuchenden brauchen vieles, aber bestimmt kein organisatorisches Chaos, kein Zuständigkeitsgerangel und keine Ineffizienz. Digitalisierung bringt Transparenz, Zugänglichkeit, Ordnung und Planbarkeit in ein ohnehin aufgewühltes Leben und hilft bei den nächsten Schritten – nämlich Deutsch zu lernen, den Bildungsweg fortzusetzen sowie Arbeit und Unterkunft zu finden – und das ist nicht zuletzt auch im Sinne des Sozialsystems, das entlastet wird, wenn die Schutzsuchenden schnell in einen geregelten Alltag finden können. Die Krankenkassen leisten hierfür einen wertvollen Beitrag. Sie stehen sinnbildlich für das, wie sich derzeit die Zivilgesellschaft in Deutschland und weit darüber hinaus zeigt: als Solidargemeinschaft.

Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Digitale Transformation der AOK Nordost

  • Dipl.-Pol. Inga Bergen
  • Prof. Dr. Wilfried Bernhardt
  • Prof. Dr. Dr. Walter Blocher
  • Prof. Dr. Stefan Heinemann
  • Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Jähnichen
  • Prof. Dr. Anne Paschke
  • Dipl.-Psychologin Marina Weisband