Frauen holen bei ADHS auf - Mädchen rutschen noch zu oft durchs Raster
In Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind die ADHS Diagnosen vor allem bei Frauen stark angestiegen. Das geht aus einer Datenanalyse der AOK Nordost hervor. Psychotherapeutin Dr. Lenka Staun erklärt, woran das liegt – und warum Mädchen in Kitas und Schulen immer noch deutlich zu selten diagnostiziert werden.
In Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind die ADHS‑Diagnosen vor allem bei Frauen stark angestiegen. Das geht aus einer Datenanalyse der AOK Nordost hervor. Psychotherapeutin Dr. Lenka Staun erklärt, woran das liegt – und warum Mädchen in Kitas und Schulen immer noch deutlich zu selten diagnostiziert werden.
Frau Dr. Staun, unsere Datenanalyse zeigt einen starken Anstieg der ADHS-Diagnosen bei 18–24‑ und 25–44‑Jährigen, besonders bei Frauen. Warum holen Frauen hier auf?
Dr. Lenka Staun: Das ist eine positive Entwicklung. In den vergangenen Jahren hat sich der Blick auf Frauen mit ADHS-ähnlichen Symptomen geschärft. Bei Frauen stehen oft die Unaufmerksamkeit und innere Unruhe im Vordergrund, nicht die motorische Hyperaktivität. Die Probleme werden häufig erst bei Lebensumbrüchen sichtbar, wie etwa einem Studienwechsel, dem Berufseinstieg oder nach der Geburt eines Kindes. In der Vergangenheit bekamen viele junge Frauen infolge solcher Probleme andere Diagnosen wie Depression, Angststörungen oder Borderline. Heute prüfen die Behandlerinnen und Behandler konsequenter, ob ADHS die bessere Erklärung ist – auch dank aktualisierter Leitlinien werden definiert als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten, die eine… und Fortbildungen. Allein in diesem Jahr haben sich fast 400 Berliner Ärztinnen und Therapeuten in unseren Workshops zu ADHS schulen lassen.
Wer ist eigentlich…
Dr. med. Lenka Staun ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychoanalytikerin. Sie betreibt eine Praxis in Berlin-Prenzlauer Berg mit den Schwerpunkten ADHS-Diagnostik und Therapie. Auch als Wissenschaftlerin hat sie sich intensiv mit ADHS beschäftigt und einen neuen Behandlungsansatz entwickelt.
Rund ein Prozent der Versicherten der AOK Nordost im Alter von 18 bis 44 hat inzwischen eine ADHS-Diagnose. Ist das hoch oder eher niedrig, wenn man die Studienlage daneben betrachtet?
Wir müssen immer noch davon ausgehen, dass ADHS bei Erwachsenen eine deutlich unterdiagnostizierte Erkrankung ist. In der Bevölkerung haben schätzungsweise 2,3 bis circa knapp 5 Prozent ADHS - je nachdem, welche Studien Sie heranziehen. Da ist also noch viel Luft nach oben. In Zukunft werden mehr Betroffene ärztliche und therapeutische Unterstützung benötigen.
Im Kindesalter wird bei Jungen rund dreimal häufiger ADHS diagnostiziert als bei Mädchen. Daran hat sich seit 2013 nichts geändert. Werden ADHS-Symptome bei Mädchen häufiger übersehen?
Im Kindesalter gibt es bei ADHS ein Gender‑Bias: Bei Mädchen wird ADHS viel seltener diagnostiziert, weil sie mit den klassischen, eher Jungen zugeschriebenen Symptomen – Hyperaktivität und Impulsivität – seltener auffallen. Viele Mädchen wirken nach außen ruhig, sind eher unaufmerksam oder ‚verträumt‘ – auch weil bei ihnen impulsives Verhalten gesellschaftlich viel stärker sanktioniert wird als bei Jungen. Bei einem Mädchen, das den Unterricht nicht stört, wird dann oft nicht erkannt, dass dieses Mädchen ADHS haben könnte.
Müssen wir denn Schulen und Kitas stärker einbinden?
Unbedingt. ADHS betrifft alle Systeme, mit denen Kinder in Kontakt sind: Kita, Schule, Familie und die medizinische Versorgung. Wo Lehrkräfte und Personen aus dem Umfeld wissen, wie sie auf ein Kind mit ADHS eingehen können, reduziert sich die Symptomatik oft deutlich. Wenn die jeweilige Person dann nicht bestraft und dem Kind nicht das Gefühl gibt, falsch zu sein, und sich stattdessen verständnisvoll und zugewandt gibt, macht das einen riesengroßen Unterschied.
Durch die größere Sichtbarkeit von ADHS in Medien und sozialen Netzwerken gibt es bei manchen Menschen die Wahrnehmung, ADHS sei eine Modediagnose, Wie sehen Sie das?
Wir können definitiv sagen, dass es sich bei ADHS nicht um eine Modediagnose handelt. ADHS verstehen wir in der neueren Forschung als neurobiologische Entwicklungsvarianz. Es bedeutet, dass die `Hardware´ im Gehirn von der Kindheit an ein bisschen anders ist. Das führt zu Störungen der Regulation, nicht nur bei der Aufmerksamkeit: Für Menschen mit ADHS ist es herausfordernder, Emotionen zu regulieren, die Qualität ist ein zentrales Versorgungsziel der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Im Rahmen der… des Schlafes ist schlechter, und auch Hunger‑ und Sättigungsgefühl sowie die Körperwahrnehmung sind beeinträchtigt. Der Leidensdruck ist oft hoch, und die Erkrankung verläuft chronisch, sodass die Betroffenen ein Leben lang mit den Symptomen umgehen müssen. Wer von einer Modediagnose spricht, verkennt das Leid, das mit ADHS oft einhergeht.
Wie läuft der Weg zur Diagnose idealerweise ab?
Ein wichtiges Kriterium ist, dass die Symptome schon seit der Kindheit bestehen und nicht akut auftreten. Dann braucht es eine gründliche, klinische Diagnostik, um abzuklären, wann Angststörungen oder Depressionen die Symptome erklären – und wann eine ADHS dahintersteckt. Die Diagnostik sollte dabei nicht nur online und per Fragebögen erfolgen, sondern auch im klinischen Interview und von Angesicht zu Angesicht. Online‑Schnelldiagnosen in wenigen Sitzung, wie sie zum Teil manche Privatpraxen anbieten, halte ich für problematisch.
Was hilft Betroffenen nach der Diagnose am meisten?
Psychoedukation, also eine Aufklärung von Patientinnen und Patienten über ihre Besonderheiten– am besten in der Gruppe. In wenigen Sitzungen verbessern sich Symptomatik, Lebensqualität und Beziehungen spürbar, weil Betroffene sich und ihre Symptome besser verstehen und selbstwirksam werden können. Was jeder ADHS-Betroffene umsetzen sollte: mindestens zweimal die Woche 30 Minuten Sport, regelmäßiger, ausreichender Schlaf, regelmäßige Mahlzeiten, die Bildschirmzeit begrenzen und Pausen machen. Das ist das Fundament jeder ADHS-Behandlung. Damit sinkt der Medikationsbedarf oft deutlich.
Und wann ist eine medikamentöse Behandlung ratsam?
Die ist insbesondere dann ratsam, wenn Betroffene leicht ablenkbar sind, Probleme damit haben, den Fokus zu halten und nicht gut priorisieren können. Bei diesen Aufmerksamkeitsthemen hilft Medikation oft sehr gut. Wenn Nebenwirkungen auftreten, kann die Medikation dabei auch herunterdosiert werden. Medikation hilft aber wenig bis gar nicht bei Themen der Emotionsregulation – also bei Stimmungsschwankungen, Wutausbrüchen und hoher Reizbarkeit.
Und was hilft ADHS-Betroffenen, die eigenen Emotionen besser zu regulieren?
Dafür haben wir die sogenannte mentalisierungsbasierte Gruppentherapie entwickelt, die besonders auf die Schwierigkeiten der Emotionsregulation und des Mentalisierens fokussiert. Mentalisieren bedeutet dabei, seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse, und eben auch Gefühle und Bedürfnisse von anderen zu lesen. Bei der Gruppentherapie sind die Teilnehmenden wie in einem Gym gefordert, die eigenen Gefühle im Kontext von Beziehungen zu hinterfragen, zu erleben und da in Resonanz zu gehen. Dadurch verbessert sich die Emotionsregulation deutlich, und auch die privaten Beziehungen, die ADHS-Betroffene führen.
Welche Stärken sehen Sie bei Ihren Patientinnen und Patienten mit ADHS?
Wir sprechen in Bezug auf ADHS bewusst nicht von einer Störung, sondern von einer Entwicklungsvarianz. Denn mit einer ADHS gehen oft auch besondere Fähigkeiten einher: assoziatives, kreatives Denken, Spontaneität und eine feine Wahrnehmung für Details. Wir wollen unsere Patientinnen und Patienten befähigen, sich selbst zu Experten für ihre ADHS zu machen. Denn wenn Betroffene gelernt haben, selbst gut für sich zu sorgen, können sie auch ein reiches, erfülltes Leben führen.
Vielen Dank für das Interview.