Alexithymie: Keine Worte für Gefühle

Die ernst gemeinte Frage „Wie geht es dir?“ ist für Menschen mit Gefühlsblindheit nicht so leicht zu beantworten. Denn sie haben wenig Zugang zu ihren Gefühlen. Die „Alexithymie“, so der Fachbegriff, ist keine Krankheit, aber kann das Leben kompliziert machen. Wie äußert sich dieses Phänomen? Was sind die Ursachen? Und wie kann man noch als Erwachsener lernen, die eigenen Gefühle zu erkennen?

Zwei Spielfiguren stehen sich gegenüber und haben Sprechblasen mit unklaren Zeichen über den Köpfen.

Empfindungen werden eher diffus gedeutet

Manche wirken distanziert, hölzern, nüchtern oder langweilig: Menschen mit Alexithymie haben große Schwierigkeiten, Gefühle wie Traurigkeit, Wut oder Freude bei sich wahrzunehmen und zu benennen. „Das bedeutet nicht, dass sie keine Gefühle haben“, sagt Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im AOK-Bundesverband. „Sie erleben Gefühle allerdings mehr als diffuse Erregungszustände, ohne diese einordnen oder mitteilen zu können.“ Betroffene könnten zum Beispiel bei Angst ein mulmiges Gefühl in der Magengegend haben, sich plötzlich schwach fühlen oder einen Druck im Kopf spüren – sie wissen diese körperlichen Empfindungen aber schlecht zu deuten und können einen Zusammenhang mit dem konkreten Gefühl weniger wahrnehmen als andere Menschen. Damit fehlt Betroffenen eine Funktion im Alltag: Wenn Menschen eigene Gefühle gut wahrnehmen und beschreiben können, hilft es ihnen enorm, zwischenmenschliche Konflikte oder stressbelastete Erlebnisse zu verarbeiten.

Etwa jeder Zehnte ist betroffen

Der Begriff Alexithymie, der in den 1970er-Jahren von den US-amerikanischen Psychiatern Peter Emanuel Sifneos und John Case Nemiah geprägt worden ist, kommt aus dem Griechischen und bedeutet etwa: „Fehlen von Worten für Gefühle“ oder „Unfähigkeit, die eigenen Gefühle zu erkennen“. Dabei handelt es sich nicht um eine Krankheit, sondern um ein Persönlichkeitsmerkmal, das bei manchen Menschen stark ausgeprägt sein kann. Klingen die Begriffe Alexithymie oder Gefühlsblindheit erst einmal ungewöhnlich, scheint dieses Phänomen in der Bevölkerung jedoch nicht so selten vorzukommen: Studien legen nahe, dass etwa zehn Prozent aller Erwachsenen in Deutschland ihre Gefühle nicht oder nur in Ansätzen gut identifizieren können. Bei Patientinnen und Patienten, die psychotherapeutische Hilfe suchen, scheint der Anteil höher zu sein und könnte bei etwa einem Viertel liegen.

Radio O-Töne von Dr. Astrid Maroß, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im AOK-Bundesverband

Risikofaktor für psychosomatische Beschwerden

Keinen Zugang zu den eigenen Emotionen zu haben, birgt für Betroffene das Risiko, krank zu werden: „Sie können ihre Gefühle oft nur über körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen zum Ausdruck bringen. Beschwerden, für die Ärztinnen und Ärzte keine eindeutige organische Ursache finden“, so Medizinerin Maroß. Es können sich dauerhafte psychosomatische Beschwerden und Krankheitsbilder, wie Essstörungen, Angst- oder Suchterkrankungen, chronische Schmerzen sowie Depressionen entwickeln. Auch bei Erkrankungen wie Bluthochdruck, Rheuma, entzündlichen Darmerkrankungen, Magengeschwüren, Diabetes und weiteren Erkrankungen macht Alexithymie das Leben schwerer.

Diagnose

Psychologen und Psychiaterinnen können eine Alexithymie unter anderem mithilfe von Interviews und Fragebögen diagnostizieren. Die Antwort einer Betroffenen auf die Frage: „Wie ist es, sich wütend zu fühlen?“ lautet dann zum Beispiel: „Nun, es ist ein Ausdruck, den ich benutze, aber in Wirklichkeit ist es schwierig, es in Worte zu fassen.“ Oder bei der Frage, „Wissen Sie, wie Traurigkeit ist?“ heißt es: „Ja, ich glaube schon. Ich habe mich bestimmt um einige Leute gekümmert, die traurig waren.“ Die Antworten fallen also eher ausweichend, kurz und farblos aus, weil die Menschen mit Alexithymie das jeweilige Gefühl nicht beschreiben können. „Auffällig ist, dass Menschen mit Alexithymie auf die Frage nach konkreten Gefühlen mit Beschreibungen von Körpersymptomen oder von äußeren Situationen reagieren. Manche benutzen nur ‚schlecht‘ oder ‚gut‘ als Gefühlsbeschreibung“, sagt Ärztin Maroß.

Ursachen wenig erforscht

Die Ursachen für diese Gefühlsblindheit sind weiterhin recht wenig erforscht. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten frühe Kindheitserfahrungen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Eltern wenig feinfühlig und liebevoll auf das Baby reagiert haben, sodass das Kind nicht gelernt hat, seine eigenen Empfindungen zu deuten. Das wäre der Fall, wenn wenig emotionaler Austausch mit den Bezugspersonen stattfand. Bei Erwachsenen kann eine Traumatisierung dazu beitragen, dass das Gefühlsleben erstarrt: Betroffene haben so viel körperliche oder seelische Gewalt erfahren, dass sie „verlernt“ haben, ihre Gefühle wahrzunehmen, um sich vor unaushaltbaren Emotionen zu schützen.

Gefühle (wieder) lernen – nach langem Leidensdruck

Die Betroffenen sind oft belastet, auch weil sie merken, dass sie Probleme im Kontakt mit anderen haben. Denn wer seine eigenen Gefühle nicht kennt, kann auch schwerer mit anderen mitfühlen und sich in sie hineinversetzen. So wundern oder beklagen sich ihre Mitmenschen über ihr mangelndes Einfühlungsvermögen und über ihren sparsamen Gefühlsausdruck. Die emotionale Kommunikation ist reduzierter, als die meisten Bezugspersonen sie sich wünschen. Eine abweisend wirkende Art oder extreme Sachlichkeit, die wenig Zärtlichkeit zulässt, belasten Kinder, Partnerschaften und Freundschaften. Viele Menschen mit Alexithymie versuchen sich anzupassen, indem sie Mimik und emotionale Reaktionen der anderen kopieren, ein bestimmtes Verhalten quasi auswendig lernen. Diese Strategie wird aber von der Umwelt nicht als authentisch erlebt und führt zu weiteren Irritationen.

Eine Psychotherapie kann dabei helfen, in das Reich der Gefühle (wieder) einzutreten. Oft ist eine psychische oder psychosomatische Erkrankung der Anlass für eine Therapie, bei der dann eine Alexithymie festgestellt wird. Die Betroffenen sind zu einer Behandlung oft bereit, denn aufgrund körperlicher Beschwerden und ständiger Konflikte liegt hinter den meisten ein langjähriger Leidensdruck. Besser mit chronischen körperlichen Beschwerden umzugehen und eine bestehende seelische Erkrankung zu lindern, sind wichtige Ziele.

„In einer Psychotherapie lernen die Betroffenen, Gefühle besser wahrzunehmen, zu differenzieren und angemessen zu verarbeiten“, erklärt Maroß. „Hilfreich sind gerade erlebnisorientierte Verfahren wie eine Gruppentherapie.“

Tipps für Angehörige

Menschen mit Alexithymie belasten mit ihrem Verhalten gerade auch nahestehende Bezugspersonen.  Angehörigen, Freundinnen und Freunden Betroffener empfiehlt Medizinerin Maroß:

  • Machen Sie sich bewusst, dass der oder die Betroffene selbstverständlich Ge-fühle hat, auch wenn sie diese nicht deuten und zeigen kann. Sie handelt nicht böswillig.
  • Haben Sie nicht zu hohe Erwartungen. Auch wenn Sie sich schon lange kennen, können Personen mit Alexithymie Ihre Gefühle nicht so gut wahrnehmen.
  • Haben Sie Geduld und erklären Sie Ihre eigenen Gefühle immer wieder.
  • Fragen Sie bei körperlichen Beschwerden der betroffenen Person nach, was passiert ist und was die Beschwerden ausgelöst haben könnte