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Krebs

„Darum sollte Darmkrebsvorsorge kein Tabuthema sein“

Veröffentlicht am:02.09.2022

7 Minuten Lesedauer

Jährlich erkranken rund 60.000 Menschen in Deutschland an Darmkrebs. Dennoch ist gerade Darmgesundheit oft ein Tabuthema. Früh erkannt ist Darmkrebs gut behandelbar – und meist heilbar. Umso wichtiger also, offen über dieses Thema zu sprechen.

Portraitfoto von Frau Dr. Hatun Karakaş.

© ps-art.de / iStock Spotmatik

Im Interview spricht Dr. Hatun Karakaş über Darmspiegelungen und ihren Umgang mit den Ängsten und Sorgen der Patientinnen und Patienten, die ihr im Klinikalltag begegnen. Sie erklärt, warum sie sich dafür einsetzt, dass mehr über Themen wie Vorsorgeuntersuchungen oder den richtigen Stuhlgang geredet wird.

Dr. Karakaş arbeitet als Ärztin in einer Klinik mit gastroenterologischem Schwerpunkt. Dort behandelt die angehende Fachärztin der Inneren Medizin regelmäßig Darmkrebspatientinnen und -patienten.  Seit 2017 macht sie sich in sozialen Medien für Gesundheitsthemen stark, schildert ihren Klinikalltag und berichtet aus dem Leben einer muslimischen Ärztin.

Vorsorgeuntersuchungen bereiten laut AOK-Umfrage jedem Vierten Unbehagen

Das sollte und muss so nicht sein. Die Darmspiegelung selbst ist nicht schmerzhaft, kann aber unangenehm sein. Sei es, weil Patientinnen und Patienten das Wandern des Schlauches im Darm spüren oder weil sie sich schämen oder Angst haben. Daher empfehlen wir in den meisten Fällen während der Untersuchung eine sogenannte Kurz-Narkose. So ist es für alle Beteiligten angenehmer, da die Untersuchung in Ruhe erfolgen kann. Denn: Eine sorgfältige Darmspiegelung ist entscheidend für die Prognose. Nach der Untersuchung wacht man schnell wieder auf. Ich habe aber auch schon Patientinnen und Patienten erlebt, die während der Untersuchung nicht schlafen, sondern miterleben wollten, wie es im eigenen Darm ausschaut. Man kann nämlich am Monitor alles „live“ mitverfolgen.

Wie gehen Sie mit den Ängsten der Patientinnen und Patienten um?

Mein Rezept: Aufklärung. Ich lasse die Patientin oder den Patienten die Informationsmaterialien erst einmal in Ruhe lesen und sprichwörtlich verdauen. Dann gehe ich Schritt für Schritt die Vorbereitung und Untersuchung mit ihnen durch. Ich kläre, ob der Ablauf verständlich ist, stelle Fragen und spreche ausführlich über den Nutzen für die Person.

In über 99 Prozent der Fälle läuft die Untersuchung komplikationsfrei ab. Daher kann man sie auch problemlos ambulant durchführen und muss dafür nicht ins Krankenhaus. Die Ärztinnen und Ärzte, die die Darmspiegelung durchführen, sind absolut routiniert und machen diese Untersuchung teilweise mehrmals am Tag. Was das Schamgefühl betrifft, achten die beteiligten Kolleginnen und Kollegen darauf, dass die zu behandelnde Person bedeckt ist, nicht zu viele Menschen im Raum sind und keiner den Genitalbereich anstarrt. Hierauf wird besonders Rücksicht genommen – vor allem bei Personen, die aufgrund von Religion und Kultur verstärkt darauf achten.

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Viele glauben, Darmkrebsvorsorge sei für sie nicht relevant, weil sie keine Beschwerden haben

Das ist gerade das Tückische daran: Darmkrebs ist lange unbemerkt im Körper. Er entwickelt sich langsam über Jahre und verursacht oft sehr lange Zeit keine Beschwerden. Einige Patientinnen und Patienten haben aber auch unspezifische Beschwerden wie Schlappheit, Müdigkeit oder veränderten Stuhlgang, was nicht sofort Anzeichen für eine Erkrankung sein müssen. Erst wenn der Darmkrebs schon fortgeschritten ist, machen sich Symptome wie Blut im Stuhl, Blutarmut, Gewichtsverlust bis hin zum Darmverschluss bemerkbar. Daher gilt: vorbeugend handeln, bevor es zu spät ist. Das sollten die Menschen wissen. In erster Linie mangelt es an Aufklärung. Die Einsicht wird häufig erst in den Gesprächen klar: „Ach, Frau Doktor, wenn ich das gewusst hätte, dann ...“

Wie sollten wir das gemeinsam angehen?

Ich würde mir von allen Beteiligten des Gesundheitssystems – von den Hausärztinnen und Hausärzten bis hin zu den Krankenkassen – noch mehr Aufklärung wünschen und freue mich daher über Kampagnen wie „Deutschland, wir müssen über Gesundheit reden“ der AOK, die ich gerne unterstütze. Wenn man Darmkrebs und seine Vorstufen, die Polypen, rechtzeitig entdeckt, ist die Krebserkrankung in 90 Prozent der Fälle heilbar, was man leider nicht von allen Krebsarten sagen kann.

Laut einer AOK-Umfrage sind besonders Männer Vorsorgemuffel

Ja, nur 54 Prozent gehen demnach regelmäßig oder eher regelmäßig zur Vorsorge. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Frauen erscheinen mir oft vorsichtiger und umsichtiger als Männer. Sie scheinen sich mehr Gedanken um die Zukunft zu machen und gehen eher zur Ärztin oder zum Arzt, wenn sie Beschwerden haben. Männer hingegen erwecken oft den Eindruck, als ob sie sich nicht so gerne mit unbeliebten Themen wie Krankheit befassen möchten. Ich merke in Patientengesprächen, dass sie nicht gerne über Gefühle sprechen – man möchte nicht der „Schwache“ oder „Kranke“ sein. Ich habe männliche Patienten erlebt, die lange Zeit Beschwerden hatten und nicht zum Arzt oder zur Ärztin gegangen sind. Oft wurden Beschwerden oder Warnsignale als „nicht schlimm“ gewertet. Als Grund für das Versäumnis der Vorsorgeuntersuchungen werden auch Verantwortlichkeiten wie Zeit, Arbeit, Familie genannt. Oft merke ich in den Gesprächen, dass große Angst dahintersteckt – Verlustängste, Ängste vor Krankheiten und dem Tod.

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Warum sind der Darm und Darmaktivitäten so schambehaftete Themen?

Weil es an Informationen fehlt. Ausscheidungen wie Urin oder Stuhlgang, aber auch Geschlechtsverkehr – das sind Dinge, die man im geschützten Rahmen tut. Je früher wir die Menschen aufklären, desto normaler werden diese Dinge. Aus meiner Sicht sollten diese Dinge auch weiterhin geschützt ablaufen, aber sie anzusprechen – das sollte keine Scham hervorrufen. Wenn wir in der Grundschule über Sexualität sprechen können, warum dann nicht auch über andere vermeintlich schambehaftete Dinge? Also: Welche Farben und Beschaffenheit hat ein gesunder Stuhl? Wie oft am Tag sollte ich auf die Toilette gehen?

Wie kann der Umgang damit normaler, weniger schambehaftet werden?

Mein Wunsch wäre, dass wir früher damit beginnen, Menschen an diese Themen heranzuführen. Ich selbst habe erst im Rahmen meiner Ausbildung gelernt, dass ein gesunder Stuhlgang einmal am Tag stattfindet, mehr als dreimal am Tag ist zu viel und jeden dritten Tag ist noch okay. Und dass er von geschmeidiger Konsistenz und braunfarben sein sollte. Und was man dafür tun kann, dass das so bleibt. Viel zu spät, meiner Meinung nach, und ich denke, dass ich nicht die Einzige bin. Dieses Tabuisieren führt dazu, dass sich die meisten Menschen schämen, solche Themen selbst vor den engsten Bezugspersonen anzusprechen – vor einer fremden Person, wie Ärztin oder Krankenpfleger, fällt es meist noch schwerer.

Viele Patientinnen und Patienten erzählen nicht so gerne detailliert, erst wenn ich gezielt nachfrage. Dann entschuldigen sie sich abermals, dass sie mir das erzählen müssen, weil es ihnen peinlich ist. Obwohl es für mich keine schambehafteten Themen gibt. Wir sind als Medizinerinnen und Mediziner Vertrauenspersonen. Nur so können wir helfen und die Diagnose besser einordnen.

Wie erleben Sie das Thema auf Ihren Social-Media-Kanälen?

In den sozialen Medien und per E-Mail bekomme ich regelmäßig Anfragen, in denen die Personen detailliert über Verstopfung, Blähungen und ihren Stuhlgang sprechen. Ich glaube, im realen Leben hätten sie Scheu, das so offen anzusprechen. Das Internet bietet massig Informationen, die aber ein Laie manchmal nicht filtern kann. Umso wichtiger, mit den betreuenden Ärztinnen und Ärzten zu sprechen. Aber auch die eigene Krankenkasse ist eine gute Anlaufstelle für zuverlässige Informationen.

„Man sollte nicht erst zu Ärztinnen oder Ärzten gehen, wenn man Beschwerden hat, und Vorsorge auf die lange Bank schieben.“

Dr. Karakaş
angehende Fachärztin der Inneren Medizin

Zwei ältere Menschen gehen wandern, denn Bewegung kann das Risiko einer Darmkrebserkrankung senken.

© iStock / SolStock

Tägliche Bewegung kann das Risiko für eine Darmkrebserkrankung senken.

Mit welchem Darmkrebsvorsorge-Missverständnis möchten Sie aufräumen?

Neben Schamhaftigkeit, Unwissenheit und fehlender Aufklärung ist oft folgender Gedanke ein Problem: „Mir geht es gut und mich wird es sowieso nicht treffen.“ Aber: Scheinbar gesunde Menschen können auch Krebs entwickeln. Man kann und sollte Prävention betreiben wie gesundes Essen, also ballaststoffreiche Kost, wenig Fleisch und viel Flüssigkeit zu sich nehmen. Bewegung, Rauchverzicht und Gewichtsreduktion sind ebenfalls wichtige Punkte. Dadurch wird das Risiko geringer, aber einen hundertprozentigen Schutz haben wir dadurch nicht. Auch Genetik und Umweltfaktoren können eine Rolle spielen, die man nicht beeinflussen kann.

Sich für Gesundheit Zeit zu nehmen oder Checklisten zu machen – das in den Alltag zu integrieren, fällt Menschen schwer. Der Mensch neigt oft dazu, „Hätte ich doch…“ zu sagen. Späte Reue kann aber Lebensjahre kosten. Man sollte nicht erst zu Ärztinnen oder Ärzten gehen, wenn man Beschwerden hat, und Vorsorge auf die lange Bank schieben. Positiv ist doch: Die Heilungschancen bei Darmkrebs sind, wenn früh entdeckt, wirklich gut. Deswegen: Nehmen Sie das Angebot der Früherkennung wahr.

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Die AOK-Kampagne „Deutschland, wir müssen über Gesundheit reden“

Darmkrebs entsteht vergleichsweise langsam und symptomfrei. Deshalb sind regelmäßige Untersuchungen für die Früherkennung sehr wichtig – und wirksam, denn die noch gutartigen Vorstufen können dabei gut erkannt und behandelt werden. Die AOK übernimmt die Kosten für die Darmkrebsfrüherkennung bei Männern ab dem 50. Lebensjahr, bei Frauen ab dem 55. Lebensjahr.

Um die Aufmerksamkeit für das Thema Krebs-Früherkennung zu erhöhen und anspruchsberechtigte Menschen zu motivieren, das Vorsorgeangebot wahrzunehmen, hat die AOK die Kampagne „Deutschland, wir müssen über Gesundheit reden“ ins Leben gerufen. Das Interview mit Frau Dr. Karakaş entstand als Teil einer Expertinnen- und Experten-Interviewreihe im Rahmen dieser Kampagne und soll dabei helfen, Gespräche über Gesundheit und Krebsvorsorge zu fördern und vermeintliche Tabus zu brechen.

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