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Schwerbehinderte Menschen - Gleichgestellte
Schwerbehinderte Menschen - Gleichgestellte
Inhaltsübersicht
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Information
1. Information
Die meisten Sonderregelungen der Teilhabe im Beruf erfassen Menschen, deren Grad der Behinderung (GdB) mindestens 50 beträgt, die also schwerbehindert sind. Unter bestimmten Voraussetzungen können nahezu die gleichen Rechte auch Menschen zustehen, deren GdB mindestens 30 beträgt.
2. Begriff, Voraussetzungen
Gleichgestellte i.S.d. Schwerbehindertenrechts (SGB IX) sind Personen mit einem GdB von weniger als 50, aber mindestens 30 und bei denen die Voraussetzungen der §§ 2 Abs. 3 SGB XI und 151 Abs. 2 SGB IX vorliegen.
Voraussetzungen für die Gleichstellung:
1. Es muss ein GdB von wenigstens 30 durch die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständige Behörde, einen Rentenbescheid oder eine andere amtliche Entscheidung festgestellt sein;
2. der Behinderte hat seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt (§ 30 Abs. 2 SGB I) in der Bundesrepublik Deutschland oder
3. der Behinderte hat seinen Arbeitsplatz (§ 156 SGB IX) rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland und
4. der Behinderte kann ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten.
Zu den Punkten 2. und 3. siehe Schwerbehinderte Menschen – Allgemeines, Abschn. 2.4.
Zu Punkt 4: Voraussetzung für die Gleichstellung ist, dass der zu dem genannten Personenkreis gehörende behinderte Mensch infolge seiner Behinderung ohne die Gleichstellung und die damit verbundene Rechtsstellung eines schwerbehinderten Menschen überhaupt keinen oder keinen geeigneten Arbeitsplatz i.S.d. § 156 Abs. 1 SGB IX erlangen oder auf Dauer behalten kann, obwohl er arbeitsfähig ist. Nach § 2 Abs. 3 SGB IX muss zwischen der Behinderung und der Erforderlichkeit der Gleichstellung ein Ursachenzusammenhang bestehen, der gegeben ist, wenn bei wertender Betrachtung in der Art und Schwere der Behinderung die Schwierigkeit begründet ist, den geeigneten Arbeitsplatz zu erlangen oder zu behalten. Der behinderte Mensch muss bei seinem Antrag konkrete Anhaltspunkte dafür nennen, dass ein für ihn geeigneter Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Geeignet ist ein Arbeitsplatz, der für gesunde Personen mit gleicher Vorbildung und Voraussetzungen am Arbeitsmarkt zur Verfügung steht bzw. den sie sich erhalten könnten.
Entscheidend ist danach, ob sich der Arbeitnehmer infolge seiner Behinderung nicht gegen gesunde Konkurrenten im Wettbewerb um einen Arbeitsplatz behaupten kann. Dabei genügt nicht die abstrakte Gefährdung des Arbeitsplatzes. Erforderlich ist vielmehr eine konkrete Gefährdung des Arbeitsplatzes. Eine Gleichstellung ist möglich, wenn der Arbeitnehmer ernstlich mit dem Verlust des Arbeitsplatzes rechnen muss und er sich sonst nicht gegen Gesunde im Wettbewerb um einen anderen Arbeitsplatz behaupten kann. Ein konkretes Arbeitsplatzangebot ist aber nicht erforderlich (BSG, 02.03.2000 - B 7 AL 46/99 R - ebenso: Knittel, SGB IX-Kommentar, § 2 SGB IX, Rn. 122; a.M. Hans Peter Schell in Schell, SGB IX, § 151 SGB IX, Rn. 12ff.).
Der behinderte Mensch muss bei wertender Betrachtung (im Sinne einer wesentlichen Bedingung) in seiner Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Nichtbehinderten in besonderer Weise beeinträchtigt und deshalb nur schwer vermittelbar sein. Hierfür ist es einerseits ausreichend, wenn die Behinderung zumindest eine wesentliche Mitursache für die Arbeitsmarktprobleme des behinderten Menschen ist, andererseits genügt es nicht, wenn lediglich betriebliche Defizite bestehen, die nicht auf der Behinderung beruhen. Für die Bejahung eines Kausalzusammenhangs genügt es, dass der Arbeitsplatz durch die Gleichstellung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sicherer gemacht werden kann. Anknüpfungstatsachen für die Kausalitätsprüfung können sich durch die Befragung des Arbeitgebers, Betriebsrat oder Personalvertretungen, aus behinderungsbedingten Fehlzeiten, die Rückschlüsse auf die Gefährdung der Teilhabe am Arbeitsleben zulassen, dem Ob und dem Umfang des Bedarfs an technischen Hilfen, aus Abmahnungen oder Abfindungsangeboten im Zusammenhang mit behinderungsbedingt verminderter Leistungsfähigkeit oder notwendigen Hilfeleistungen anderer Mitarbeiter sowie einer eingeschränkten beruflichen Mobilität ergeben (LSG Bayern, 25.10.2017 - L 10 AL 107/16).
Ob sich die Prüfung der Gleichstellung auf die Erlangung oder die Erhaltung eines geeigneten Arbeitsplatzes bezieht, ist von der tatsächlichen Situation des behinderten Menschen abhängig. "Behalten" kann der behinderte Mensch immer nur den Arbeitsplatz, den er konkret innehat, so dass die Frage nach der Eignung "eines" Arbeitsplatzes für den behinderten Menschen nicht abstrakt für alle Arbeitsplätze geprüft werden kann (BSG, 06.08.2014 - B 11 AL 16/13 R).
I.S.v. § 2 Abs. 3 SGB IX "geeignet" ist ein Arbeitsplatz, wenn der behinderte Mensch grundsätzlich durch die geschuldete Arbeitsleistung nicht gesundheitlich überfordert wird. Auf der anderen Seite führt das Auftreten oder Hinzutreten einer behinderungsbedingten Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens für sich genommen noch nicht zum Wegfall der Geeignetheit des Arbeitsplatzes (BSG, 06.08.2014 – B 11 AL 16/13 R).
Die Gleichstellung kann nicht zur Förderung des Aufstiegs erfolgen, wenn der Arbeitsplatz des behinderten Menschen gesichert ist. Die Gleichstellung scheidet nicht generell wegen der Unkündbarkeit eines Beamten aus. Sie setzt jedoch eine besonders begründete Gefährdung des Arbeitsplatzes voraus. Eine Gleichstellung im Hinblick auf Beförderungswünsche kann nicht verlangt werden (LSG Saarland, 22.02.2019 – L 6 AL 4/17).
Auch behinderte (i.S.v. § 2 Abs. 1 SGB IX) Jugendliche und junge Erwachsene können während der Zeit einer Berufsausbildung in Betrieben oder Dienststellen oder einer beruflichen Orientierung gleichgestellt werden, wenn der GdB weniger als 30 beträgt oder ein GdB noch nicht festgestellt ist. Der Nachweis der Behinderung wird durch eine Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit oder durch einen Bescheid über Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht (§ 151 Abs. 4 Satz 2 SGB IX). Die Gleichstellung gilt in diesen Fällen nur für Leistungen des Integrationsamtes im Rahmen der beruflichen Orientierung und Berufsausbildung (Prämien und Zuschüsse i.S.v. § 185 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. c SGB IX).
3. Verfahren
Die Gleichstellung ist ein mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt. Ihm kommt nach § 151 Abs. 2 SGB IX konstitutive, d.h. rechtsbegründende Wirkung zu. Der Bescheid der Bundesagentur für Arbeit ist daher auch für andere Behörden und die Gerichte bindend.
Erforderlich ist ein Antrag an die örtlich zuständige Agentur für Arbeit. Eine Gleichstellung von Amts wegen, ohne einen entsprechenden Antrag ist nicht zulässig. Es besteht keine Pflicht zur Antragstellung.
Eine bestimmte Form des Antrags ist nicht vorgeschrieben. Der Antrag kann mündlich oder schriftlich gestellt werden; die Arbeitsagentur stellt auf Anforderung ein Formular zur Verfügung. Für die Feststellung der Gleichstellung ist die Bundesagentur für Arbeit zuständig (§ 187 Abs. 1 Nr. 5 SGB IX). Die praktische Durchführung ist auf die Arbeitsagentur delegiert, in deren Bezirk der Antragsteller seinen Wohnsitz, Aufenthalt oder Arbeitsplatz hat. Antragsberechtigt ist nur der Behinderte. Der Arbeitgeber ist ebenso wie der Betriebs- bzw. Personalrat oder die Gewerkschaft bzw. der Arbeitgeberverband nicht antragsberechtigt. Dies gilt, obwohl der Arbeitgeber z.B. wegen der Beschäftigungspflicht (§ 154 Abs. 1 SGB IX) ein Interesse an einer solchen Feststellung haben könnte. Zulässig ist aber, dass z.B. der Arbeitgeber den Antrag mit Vollmacht des Beschäftigten stellt. Unterlässt der Arbeitgeber trotz Beauftragung durch den Beschäftigten die Stellung des Antrags, so kann hieraus allein ein Kündigungsschutz nach den §§ 168ff. SGB IX zugunsten des behinderten Menschen nicht hergeleitet werden.
Bei der Durchführung des § 2 Abs. 3 bzw. des § 151 SGB IX hat die Agentur für Arbeit kein freies Ermessen; es handelt sich vielmehr um eine "Soll-Bestimmung". Bei solchen Vorschriften kann die Behörde nur ausnahmsweise, bei Vorliegen besonderer Gründe (atypische Sachverhalte), von der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge abweichen. Dem Antrag ist daher in der Regel zu entsprechen, wenn die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 SGB IX vorliegen. Der Antragsteller hat die Darlegungs- und Beweislast, dass dies der Fall ist.
Die Gleichstellung kann befristet werden (§ 151 Abs. 2 SGB IX).
Wird der Antrag abgelehnt, kann der Betroffene innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen, über den der Widerspruchsausschuss der Bundesagentur für Arbeit entscheidet (§ 201 Abs. 2 SGB IX).
Der Arbeitgeber kann die Entscheidung der Agentur für Arbeit, seinen Arbeitnehmer einem Schwerbehinderten nach § 151 SGB IX gleichzustellen, nicht anfechten (vgl. u.a. BSG, 19.12.2001 - B 11 AL 57/01 R; BVerwG, 17.05.1973 - V C 60/72 u. BSG, 22.10.1986 - 9a RVs 3/84):
Eine Anfechtungsbefugnis ist nur dann gegeben, wenn die betreffenden Normen zumindest auch den Individualinteressen des Anfechtenden dienen. Nicht ausreichend ist dagegen eine Reflexwirkung in dem Sinne, dass sich aus einer im Interesse eines bestimmten Personenkreises erlassenen Norm zugleich auch eine Begünstigung einzelner Dritter ergibt. Entgegen der überwiegenden Auffassung in der Literatur ist daher eine Berechtigung des Arbeitgebers, die Gleichstellung anzufechten, zu verneinen. Denn die die Gleichstellung regelnde Norm des § 2 Abs. 3 SGB IX ist nicht dazu bestimmt, zumindest auch den Individualinteressen der von einer Gleichstellung mittelbar betroffenen Arbeitgeber gerecht zu werden. Bei den sich aus § 151 SGB IX für die Arbeitgeber ergebenden Konsequenzen handelt es sich nur um Reflexwirkungen, die nach Sinn und Zweck der Norm nicht einer Anfechtung durch den Arbeitgeber unterliegen.
4. Erlöschen der Gleichstellung
Die Gleichstellung erlischt nach § 199 Abs. 2 SGB IX mit dem Widerruf oder der Rücknahme der Gleichstellung. Der Widerruf der Gleichstellung ist zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 SGB IX i.V.m. § 151 Abs. 2 SGB IX weggefallen sind. Er wird erst am Ende des dritten Kalendermonats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit wirksam.
5. Rechtsfolgen der Gleichstellung
Die Gleichstellung durch die Agentur für Arbeit hat nicht nur deklaratorische Wirkung, sondern ist ein konstitutiver Akt (BVerwG, 15.12.1988 - 5 C 67/85; BAG, 28.06.1995 - 7 AZR 555/94). Die Gleichstellung wird rückwirkend mit dem Tag des Eingangs des Antrags bei der Agentur für Arbeit wirksam (§ 151 Abs. 2 SGB IX). Ob und wann der Arbeitgeber Kenntnis der Gleichstellung erlangt, ist für den Zeitpunkt der Wirksamkeit unerheblich. Entscheidend ist der Zeitpunkt der Wirksamkeit aber z.B. bei der Anwendung der Vorschriften über den Kündigungsschutz (§§ 168ff. SGB IX). Der Sonderkündigungsschutz aufgrund des § 173 Abs. 3 i.V.m. § 152 Abs. 1 S. 3 SGB IX beginnt frühestens drei Wochen, nachdem der Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt wurde (LAG Rheinland-Pfalz, 12.10.2005 – 10 Sa 502/05). Die Frist wird auch durch mündliche bzw. telefonische Stellung des Antrages auf Gleichstellung gewahrt (LAG Niedersachsen, 23.10.2018 – 11 Sa 225/18).
Die Gleichstellung ist nicht auf einzelne Betriebe oder Unternehmen beschränkt, sondern gilt generell. Grundsätzlich wirkt die Gleichstellung unbefristet; nach § 151 Abs. 2 Satz 3 SGB IX kann sie aber befristet werden. Ob und für welchen Zeitraum eine Befristung der Gleichstellung erfolgt, ist eine Ermessensentscheidung der Agentur für Arbeit. Eine Befristung kommt u.a. dann in Betracht, wenn zu erwarten ist, dass Schwierigkeiten am Arbeitsplatz nach einer Einarbeitungsphase in absehbarer Zeit überwunden werden können. Der behinderte Mensch kann vor Ablauf der Frist einen Antrag auf Verlängerung bzw. einen neuen Antrag stellen.
Bei einer Gleichstellung sind – bis auf wenige Ausnahmen - alle Regelungen des 3. Teils des SGB IX (Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen - §§ 151 – 241 SGB IX) anzuwenden (siehe insbesondere Schwerbehinderte Menschen – Allgemeines). Ausnahmen bestehen bei folgenden Vorschriften:
Der Gleichgestellte hat keinen Anspruch auf Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX.
Gleichgestellte haben keinen Anspruch auf die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (§§ 228ff. SGB IX).
Ein Schwerbehindertenausweis wird dem Gleichgestellten nicht ausgestellt (§ 152 Abs. 5 SGB IX).
151 Abs. 4 Satz 3 SGB IX stellt klar, dass die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen, also die §§ 151 - 241 SGB IX mit Ausnahme von § 185 Abs. 3 Nr. 2c SGB IX, bei den behinderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die während der Zeit ihrer Berufsausbildung oder der beruflichen Orientierung gleichgestellt sind, nicht angewandt werden. Nach § 185 Abs. 3 Nr. 2c SGB IX können Leistungen an Arbeitgeber in Form von Prämien und Zuschüssen zu den Kosten der Berufsausbildung gewährt werden für behinderte Jugendliche und junge Erwachsene, die für die Zeit der Berufsausbildung schwerbehinderten Menschen nach § 151 Abs. 4 SGB IX gleichgestellt sind.
Die Schwerbehindertenvertretung hat keinen kollektivrechtlichen Anspruch auf ihre vorsorgliche Beteiligung bei einer Umsetzung gem. § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX i.V.m. § 151 Abs. 2 S. 2 SGB IX, solange über die Gleichstellung des betroffenen Arbeitnehmers mit einem schwerbehinderten Menschen noch nicht konstitutiv entschieden worden ist. Obwohl die Entscheidung der Agentur für Arbeit auf den Tag zurückwirkt, an dem der Antrag bei ihr eingegangen ist, wirkt sich dies auf die Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung nicht aus (BAG, 22.01.2020 – 7 ABR 18/18).