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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

Anrechnung von Berufsschulzeiten - Jugendliche
Anrechnung von Berufsschulzeiten - Jugendliche
Inhaltsübersicht
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Information
1. Allgemeines
Der Auszubildende ist in vielen Fällen bei Ausbildungsbeginn noch keine 18 Jahre alt. Die Bestimmung seiner Rechte und Pflichten orientiert sich auch) am Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG). Das "Gesetz zum Schutze der arbeitenden Jugend" enthält detaillierte Regelungen für die Freistellung Jugendlicher aus Anlass des Besuchs der Berufsschule und die Anrechnung ihres Schulbesuchs auf die Ausbildungszeit. Es will damit eine Überforderung Jugendlicher durch die duale schulische und betriebliche Ausbildung verhindern.
Praxistipp:
Der richtige Kontakt zwischen Ausbilder und Schule ist sehr wichtig. Natürlich wird man als Ausbilder nie einen Stundenplan nach Wunsch bekommen, der sich an den betrieblichen Notwendigkeiten orientiert. Manche Probleme lassen sich jedoch vermeiden, wenn man offen über sie spricht. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass die Schulpflicht - anders als die Arbeits- und Ausbildungspflicht - eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung ist. Sie hat insoweit einen höheren Stellenwert und Vorrang gegenüber der betrieblichen Ausbildung.
Anlass, Dauer und Umfang der Freistellungspflicht Jugendlicher für den Berufsschulbesuch sind in § 9 JArbSchG geregelt. § 9 JArbSchG sagt auch, wie und mit welchen Zeiten der Berufsschulbesuch auf die betriebliche (Arbeits-)Ausbildungszeit anzurechnen ist. Diese betriebliche Ausbildungszeit wird durch § 8 Abs. 1 JArbSchG vorgegeben: "Jugendliche dürfen nicht mehr als acht Stunden täglich und nicht mehr als 40 Stunden wöchentlich beschäftigt werden". Die Frage, welche Berechnungsbasis maßgeblich ist, wenn die tarifliche Höchstarbeitszeit unter den 40 JArbSchG-Stunden liegt, wird zu Gunsten der 40-Stunden-Woche gelöst (s. dazu Gliederungspunkt 4.).
2. Freistellung nach § 9 Abs. 1 JArbSchG
§ 9 Abs. 1 Satz 1 JArbSchG sieht vor: "Der Arbeitgeber hat den Jugendlichen für die Teilnahme am Berufsschulunterricht freizustellen."
Der Arbeitgeber darf den Jugendlichen nicht beschäftigen
vor einem vor 09:00 Uhr beginnenden Unterricht, wobei das auch für Auszubildende gilt, die über 18 Jahre und noch berufsschulpflichtig sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JArbSchG),
an einem Berufsschultag mit mehr als fünf Unterrichtsstunden von mindestens 45 Minuten, einmal in der Woche (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 JArbSchG), und
in Berufsschulwochen mit einem planmäßigen Blockunterricht von mindestens 25 Stunden Dauer an mindestens fünf Tagen - wobei zusätzliche betriebliche Ausbildungsveranstaltungen bis zu zwei Stunden wöchentlich zulässig sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 JArbSchG).
Zudem müssen berufsschulpflichtige Jugendliche freigestellt werden
für die Teilnahme an Prüfungen (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 JArbSchG),
für Ausbildungsmaßnahmen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher oder vertraglicher Bestimmungen außerhalbderAusbildungsstätte durchzuführen sind (ebenfalls § 10 Abs. 1 Nr. 1 JArbSchG) und
an dem Arbeitstag, der der schriftlichen Abschlussprüfung unmittelbar vorangeht (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 JArbSchG)
Die Freistellung nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 JArbSchG wird mit der Zeit der Prüfungsteilnahme einschließlich der Pausen (§ 10 Abs. 2 Nr. 1 JArbSchG) auf die Ausbildungs-/Arbeitszeit angerechnet, während für die Freistellung für den der Prüfung vorhergehenden Tag mit der durchschnittlichen täglichen Ausbildungs-/Arbeitszeit auf die Arbeitszeit angerechnet werden (§ 10 Abs. 2 Nr. 2 JArbSchG). Ziel der Anrechnung ist nicht die Gewährung von Freizeit, sondern der Ausgleich der Doppelbelastung durch schulische und betriebliche Ausbildung. Der Besuch der Berufsschule hat eindeutig Vorrang vor der betrieblichen Ausbildung.
Mit der 2020er BBiG-Novelle ("Gesetz zur Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung" v. 12.12.2019, BGBl. I 2019, S. 2522 ff.) wurde mit § 15 BBiG für alle BBiG-Auszubildenden eine einheitliche Freistellungs- und Anrechnungsregelung eingeführt - allerdings mit der Maßgabe: "Für Auszubildende unter 18 Jahren gilt das Jugendarbeitsschutzgesetz" (§ 15 Abs. 3 BBiG).
3. Anrechnung nach § 9 Abs. 2 JArbSchG
Für berufsschulpflichtige Jugendliche gilt § 9 Abs. 2 JArbSchG: Danach wird ein langer Berufsschultag mit mehr als fünf Unterrichtsstunden von mindestens je 45 Minuten Dauer mit der "durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit" auf die Arbeitszeit angerechnet (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 2 JArbSchG). Diese Anrechnung kann jedoch nur "einmal in der Woche" erfolgen, wie § 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 JArbSchG deutlich vorgibt.
Beispiel:
Sportartikelhändler Armin A. Bielefeldt bildet mehrere Auszubildende aus. Der jugendliche Auszubildende Werner Brehm hat dienstags immer sechs und donnerstags immer sieben Schulstunden. Er hat damit zwei "lange" Berufsschultage, von denen allerdings nur einer "mit der durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit" anzurechnen ist (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 2 JArbSchG). Welcher dieser beiden Tage der Tag X nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 JArbSchG ist, bleibt Armin A. Bielefeldt und Werner Brehm überlassen. Das Gesetz schreibt ihnen in diesem Punkt nichts vor. Die Festlegung sollte im Rahmen der betrieblichen Notwendigkeiten erfolgen, weil Armin seinen Auszubildenden für diesen einen Tag nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 JArbSchG ja freistellen muss.
Praxistipp:
§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JArbSchG sieht ein Beschäftigungsverbot für Jugendliche und erwachsene Berufsschulpflichtige vor einem vor 09:00 Uhr beginnenden Unterricht vor. Wegen dieses Beschäftigungsverbots brauchen Wegezeiten, die vor 09:00 Uhr für den Schulbesuch zurückgelegt werden, nicht in die Freistellung nach § 9 Abs. 2 JArbSchG einbezogen werden. In dieser Zeit hätte ja gar keine Beschäftigung erfolgen dürfen.
Berufsschulwochen mit einem planmäßigen Blockunterricht von mindestens 25 Stunden an mindestens 5 Tagen werden bei Jugendlichen "mit der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit" auf die Arbeitszeit angerechnet (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 JArbSchG). Im Übrigen zählt die Unterrichtszeit einschließlich der Pausen (§ 9 Abs. 2 Nr. 3 JArbSchG).
Beispiel:
Werner und Armin haben sich im vorangehenden Beispielsfall für den Donnerstag als "langen" Berufsschultag entschieden. Dieser Tag wird nun mit "der durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit" angerechnet. Der Dienstag zählt mit 4,5 Stunden "Unterrichtszeit einschließlich der Pausen" - hier angenommenen 30 Minuten (§ 9 Abs. 2 Nr. 3 JArbSchG).
4. Arbeits- und Ausbildungszeit, auf die angerechnet wird
Lange Zeit war streitig, auf welche Arbeitszeit der Berufsschulunterricht anzurechnen ist. Für Jugendliche gilt die gesetzliche Obergrenze aus § 8 JArbSchG, d.h. ihre wöchentliche Arbeitszeit darf nicht mehr als 40Stunden betragen. Darüber hinaus sind kollektivvertraglich festgelegte Höchstarbeitszeiten zu beachten, die unter den 40 Stunden des § 8 JArbSchG liegen können. Je nach Ausrichtung - Gewerkschaft/Arbeitgeberverband - werden unterschiedliche Lösungsansätze für das Problem vertreten. Die Interessenvertretung der Arbeitnehmer versucht, die kollektivvertraglich vereinbarte niedrigere Arbeitszeit durchzudrücken.
4.1 Lösung nach der BAG-Rechtsprechung
Das BAG hat zum damals geltenden Recht (der in § 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 JArbSchG angesprochene lange Berufsschultag wurde früher immer mit acht Stunden angerechnet) entschieden, dass Berufsschultage mit mehr als fünf Unterrichtsstunden von mindestens je 45 Minuten Dauer nur auf die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 40 Stunden nach § 8 Abs. 1 JArbSchG und nicht auf eine kürzere tarifliche Arbeits- oder Ausbildungszeit anzurechnen sind, wenn es keine anders lautende tarifliche Anrechnungsregelung gibt (BAG, 27.05.1992 - 5 AZR 252/91).
Beispiel:
Die Jugendliche Heike Reyne beginnt ihre Ausbildung im nordrhein-westfälischen Einzelhandel. Die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit beträgt dort 37,5 Wochenstunden. Die Tarifvertragsparteien haben keine Anrechnungsregelung für den Berufsschulbesuch vereinbart. Heike hat 2 Berufsschultage in der Woche, Dienstag und Donnerstag. Am Dienstag hat sie 6 Unterrichtsstunden mit je 45 Minuten Dauer, am Donnerstag beginnt ihr Unterricht morgens um 8 Uhr und endet mittags um 12 Uhr 30. In dieser Zeit liegen 5 Unterrichtsstunden und 45 Minuten Pausen. Hier zählt der Dienstag nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 JArbSchG "mit der durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit", der Donnerstag nach § 9 Abs. 2 Nr. 3 JArbSchG mit 4,5 (= Unterrichtszeit + Pausen). Beträgt die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit Heikes 7,5 Stunden, kann Heikes Ausbilder nun 12 Stunden Schulbesuch (= 7,5 + 4,5) auf die Höchstarbeitszeit von 40 Stunden nach § 8 Abs. 1 JArbSchG anrechnen. Damit bleiben (40 - 12 =) 28 Stunden übrig, die er und Heike noch für die Ausbildung im Betrieb nutzen können.
4.2 Lösung nach tariflichen Vorgaben
Wenn es eine verbindliche tariflicheAnrechnungsregel gibt, ist diese selbstverständlich vorrangig. Die 40-Stunden-Messlatte des BAG gilt dann nicht.
Beispiel:
Der Branchentarifvertrag sieht vor: "Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt 35 Stunden. Diese Arbeitszeit gilt auch für Auszubildende und stellt für sie die einschließlich des Besuchs der Berufsschule, der Teilnahme an anderen Ausbildungsmaßnahmen und Prüfungen höchstzulässige Ausbildungszeit je Woche dar." Hier kann sich der Ausbilder nicht auf die o.g. BAG-Entscheidung berufen und den Schulbesuch seiner jugendlichen Auszubildenden auf die 40-Stunden-Woche anrechnen. Hier muss der Ausbilder die anzurechnende Schulzeit von den 36 Stunden der tariflichen Arbeitszeit abziehen. Seinem Auszubildenden stehen damit für die betriebliche Ausbildung bei anzurechnenden 11,5 Stunden nur noch (35 - 11,5 =) 23,5 Stunden zur Verfügung.
Natürlich darf eine Regelung zugunsten der Auszubildenden auch einvernehmlich oder in einer Betriebsvereinbarung getroffen werden (mehr zur Mitbestimmung im Stichwort Anrechnung von Berufsschulzeiten - Allgemeines).
5. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema Anrechnung von Berufsschulzeiten Jugendlicher in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet vorgestellt:
5.1 Berechnungsbasis
Ohne besondere tarifliche Vorgabe sind bei jugendlichen Auszubildenden allein die Regelungen des JArbSchG ausschlaggebend. Dabei folgt aus der Systematik und dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung, dass die Berufsschulzeiten auf die gesetzliche JArbSchG-Höchstarbeitszeit und nicht auf die betriebliche Arbeitszeit anzurechnen ist. § 8 JArbSchG legt die Höchstarbeitszeiten Jugendlicher fest, § 9 JArbSchG bestimmt die Anrechnung. "Diese Reihenfolge der gesetzlichen Bestimmungen und die fehlende Umschreibung des im Gesetzestext verwendeten Begriffs 'Arbeitszeit' lassen erkennen, dass der Gesetzgeber an den Begriff der Höchstarbeitszeit anknüpfen wollte" (BAG, 27.05.1992 - 5 AZR 252/91).
5.2 Freistellungsumfang - 1
Auszubildende sind zwar für die zum Besuch der Berufsschule notwendige Wegezeit freizustellen, diese Wegezeit ist aber nicht auf die gesetzlich zulässige Arbeitszeit anzurechnen ist. Das ergibt sich für Jugendliche aus § 9 Abs. 2 Nr. 3 JArbSchG - mit dem Hinweise, dass für volljährige Auszubildende nichts anderes gelten kann. Eine andere Frage ist es, ob der Ausbilder die in Rede stehende Wegezeit zu bezahlen hat. Das ist allgemein anerkannt - für Auszubildende darf durch den Besuch der Berufsschule eben kein Entgeltausfall eintreten (LAG Köln, 18.09.1998 - 12 Sa 549/98).
5.3 Freistellungsumfang - 2
Der Auszubildende ist für die Teilnahme am Unterricht und an Prüfungen freizustellen. Nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 BBiG a. F. (heute: § 19 Abs. 1 Nr. 1 BBiG) ist dem Auszubildenden für die Zeit der Freistellung nach § 7 BBiG (heute: § 15 BBiG) die Ausbildungsvergütung fortzuzahlen. Zu den Zeiten der Teilnahme am Berufsschulunterricht gehören auch die Zeiten des notwendigen Verbleibs in der Berufsschule während der unterrichtsfreien Zeit und der notwendigen Wegezeiten zwischen Berufsschule und Ausbildungsbetrieb (BAG, 26.03.2001 - 5 AZR 413/99 - mit dem Hinweis, dass die Freistellung auch die Zeiträume erfasst, "in denen der Auszubildende zwar nicht am Berufsschulunterricht teilnehmen muss, aber aus tatsächlichen Gründen gehindert ist, im Ausbildungsbetrieb an der betrieblichen Ausbildung teilzunehmen").
Siehe auch
Anrechnung von Berufsschulzeiten - AllgemeinesAnrechnung von Berufsschulzeiten - ErwachseneAnrechnung von Berufsschulzeiten - VergütungArbeitgeberAusbildungsvergütungAuszubildende - AllgemeinesBerufsschuleBetriebsvereinbarungFreistellung - AllgemeinesFreistellung - Berufsschulunterricht