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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Tarifvertrag - Allgemeinverbindlicherklärung
Tarifvertrag - Allgemeinverbindlicherklärung
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.
- 5.Rechtsprechungs-ABC
- 5.1
- 5.2
- 5.3
- 5.4
- 5.5
- 5.6
- 5.7
- 5.8
- 5.9
- 5.10
- 5.11
- 5.12
- 5.13
- 5.14
Information
1. Allgemeines
Der Arbeitgeber ist entweder an einen Tarifvertrag gebunden oder er ist es nicht. Die Tarifbindung - so will es § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG - besteht allerdings nur "zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen." Das heißt für Nichtorganisierte: Sie sind nicht tarifgebunden (s. dazu Gliederungspunkt 2.). Tarifverträge, die sonst nur kraft Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband und in der Gewerkschaft gelten, können jedoch vom Bundesminister für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt werden, § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG. Die Allgemeinverbindlicherklärung setzt allerdings voraus, dass sie "im öffentlichen Interesse geboten erscheint" (s. dazu Gliederungspunkt 2.), z.B. in einer für Lohndumping anfälligen Branche.
Praxistipp:
Allgemeinverbindlichkeit ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite sorgt sie in der Branche für eine gewisse Ordnung und schafft gleiche Mindestlöhne und -gehälter für alle Betroffenen. Auf der anderen Seite belastet sie die Unternehmen, die bisher keinen Zugang zu ihrem Arbeitgeberverband gefunden haben oder nicht finden wollten. Nach einer Allgemeinverbindlicherklärung stellt sich die Frage Organisationszugehörigkeit nicht mehr. Vielleicht ein Grund, jetzt doch über eine Verbandsmitgliedschaft nachzudenken und von seinem Leistungsangebot zu profitieren (s. dazu auch die Stichwörter Tarifvertrag - OT-Arbeitgeber und Tarifvertrag - Tarifflucht: Allgemeines).
Das bei der Allgemeinverbindlicherklärung zu beachtende Verfahren ist in § 5 Abs. 2 ff. TVG und in der Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes - TVGDV - geregelt (s. dazu Gliederungspunkt 3.). Wichtig ist die Wirkung der Allgemeinverbindlicherklärung: Mit ihr erfassen die Rechtsnormen des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags "in seinem Geltungsbereich" nämlich gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG auch "die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer" (s. dazu Gliederungspunkt 4.). Bei der Allgemeinverbindlicherklärung kommt es nicht darauf an, ob die Nichtorganisierten mit der Tarifgeltung einverstanden sind. Sie erstreckt sich nach der Allgemeinverbindlicherklärung kraft Hoheitsaktes auf sie. Die Rechtsprechung hat daher immer wieder mal Anlass, sich mit der Rechtmäßigkeit von Allgemeinverbindlicherklärungen und deren Folgen zu befassen (s. dazu Gliederungspunkt 5.).
2. Die rechtlichen Grundlagen
Tarifverträge entfalten ihre normative Wirkung in der Regel nur "zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen" (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG; s. dazu auch das Stichwort Tarifvertrag - normative Wirkung). Nichtorganisierte - so genannte Außenseiter - sind von der gesetzlichen Tarifbindung ausgenommen.
Beispiel:
Arbeitgeber A ist Mitglied des Arbeitgeberverbandes, Arbeitnehmer N ist Mitglied der Gewerkschaft. Der von Arbeitgeberverband und Gewerkschaft geschlossene Tarifvertrag ist auf ihr Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit anzuwenden. Arbeitgeber B ist kein Mitglied des Branchenverbandes, Mitarbeiter M ist nicht in der Gewerkschaft. Für B und M gelten die Branchentarifverträge nicht. Sie sind nicht organisiert.
Das Tarifvertragsgesetz sieht in § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG die Möglichkeit vor, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
einen Tarifvertrag
im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss)
auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien
für allgemeinverbindlich
erklären kann. Die Allgemeinverbindlicherklärung erscheint in der Regel im öffentlichen Interesse geboten, wenn
der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Beutung erlangt hat (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG) oder
die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG).
Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen (z.B. betriebliche Altersversorgung, Urlaubskasse) zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit ist nach Maßgabe des § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG möglich. Tarifverträge i.S.d. § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG können
alle mit dem Beitragseinzug und der Leistungsgewährung im Zusammenhang stehenden Rechte und Pflichten einschließlich der dem Verfahren zugrunde liegenden Ansprüche der Arbeitnehmer und Pflichten der Arbeitgeber regeln" (§ 5 Abs. 1a Satz 2 TVG).
Die Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes - TVGDO - sieht weitere Vorschriften zur Allgemeinverbindlicherklärung vor.
Die Tarifpartner erfüllen mit der Vereinbarung von Tarifnormen, die einer Allgemeinverbindlicherklärung zugänglich sind, "in besonderem Maß die ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG zugewiesene öffentliche Aufgabe, die Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme zu gestalten" (BAG, 20.11.2018 - 10 AZR 121/18 - mit Hinweis auf BVerfG, 15.07.1980 - 1 BvR 24/74 u. 1 BvR 439/79).
3. Das zu beachtende Verfahren
Die Allgemeinverbindlicherklärung erfolgt nur auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG). Vor der Entscheidung über den Antrag ist
Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffen werden würden,
den am Ausgang des Verfahrens interessierten Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeitgeber sowie
den obersten Arbeitsbehörden der Länder, auf deren Bereich sich der Tarifvertrag erstreckt,
Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung zu geben (§ 5 Abs. 2 TVG).
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales macht einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrags im Bundesanzeiger bekannt und weist in seiner Bekanntmachung darauf hin, dass die Allgemeinverbindlicherklärung auch mit Rückwirkung ergehen kann (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVGDV).
Praxistipp:
Wenn eine rückwirkende Allgemeinverbindlicherklärung absehbar ist, sollten betroffene Arbeitgeber diese Rückwirkung rechtzeitig einkalkulieren. Mit der Rückwirkung kann es nämlich passieren, dass Arbeitnehmer rückwirkend Anspruch auf ein höheres Arbeitsentgelt haben, das dann - möglicherweise über mehrere Monate - nachgezahlt werden muss und so die Liquidität und das Betriebsergebnis belasten kann.
Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 TVGDV beruft das Ministerium den Tarifausschuss zu einer Verhandlung über den Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung ein und macht den Zeitpunkt der Verhandlung im Bundesanzeiger bekannt. Den in § 5 Abs. 2 TVG Genannten ist in der Verhandlung Gelegenheit zur Äußerung zu geben - wobei eine Äußerung in der Verhandlung nicht davon abhängt, dass zuvor eine schriftliche Stellungnahme abgegeben wurde (§ 6 Abs. 3 Satz 2 TVGDV).
Praxistipp:
Der Kreis von Personen und Institutionen, die vor der Entscheidung über einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung angehört werden müssen, wird in § 5 Abs. 2 TVG festgeschrieben. In § 5 Abs. 2 TVG nicht genannte Dritte bleiben eigentlich außen vor. § 6 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 TVGDV sieht jedoch die Möglichkeit vor, dass der Tarifausschuss auch "Äußerungen anderer zulassen" kann - nicht muss.
Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Hoheitsakt. Sie kann "sowohl nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG als auch nach § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss erfolgen." Die Zustimmung des Tarifausschusses ist notwendig, weil sonst keine Allgemeinverbindlicherklärung ergehen kann. Wegen der Verdrängungwirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG muss der Ausschuss die Allgemeinverbindlicherklärung ausdrücklich billigen. "Nur so ist sichergestellt, dass der Erlass der AVE vollständig vom Einvernehmen des Tarifausschusses gedeckt ist" (BAG, 20.11.2018 - 10 ABR 12/18 - mit Hinweis auf BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16).
Wenn ein beteiligtes Bundesland Einspruch gegen die beantragte Allgemeinverbindlicherklärung erhebt, kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nicht mehr allein entscheiden. Dann darf es dem Antrag nur mit Zustimmung der Bundesregierung stattgeben (§ 5 Abs. 3 TVG). Für die Entscheidung über die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG sind nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG ausschließlich die Arbeitsgerichte zuständig.
Damit die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG über eine verlässliche und ausreichende demokratische Legitimation verfügt, muss sich der jeweilige Minister/Staatssekretär "vor ihrem Erlass zustimmend mit der AVE befasst haben" (BAG, 20.11.2018 - 10 ABR 12/18 - mit Hinweis auf BAG, 21.09.2016 - 10 ABR 33/15) - woran auch die Neufassung des § 5 TVG nichts geändert hat (BAG, 20.11.2018 - 10 ABR 12/18 - mit Hinweis auf BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16).
Ein kurzer Blick zurück: § 5 Abs. 1 Satz 1 steht in seiner aktuellen Fassung erst seit dem 16.08.2014 (Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes vom 11.08.2014, BGBl. I 2014, S. 1348) im TVG. Zuvor reichte es aus, dass nur eine Tarifvertragspartei den Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung stellte. Zudem war die Zulässigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung daran geknüpft, dass die "die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen". Die 50-Prozent-Klausel wird in vielen Entscheidungen, in denen es um die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen aus dem Zeitraum vor dem 16.08.2014 geht, immer wieder angesprochen.
4. Die Wirkung der Allgemeinverbindlicherklärung
Die TVG-Durchführungsverordnung sieht in § 11 Satz 1 TVGDV vor:
"Die Allgemeinverbindlicherklärung, die Rücknahme oder Ablehnung des Antrages auf Allgemeinverbindlicherklärung, die Aufhebung der Allgemeinverbindlichkeit sowie Mitteilungen der Tarifvertragsparteien über das Außerkrafttreten und über die Änderung allgemeinverbindlicher Tarifverträge werden vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Bundesanzeiger bekanntgemacht."
Die Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrages beginnt zu dem in der Erklärung bestimmten Zeitpunkt. Sie kann auch rückwirkend erfolgen, insbesondere dann, wenn es sich um die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages handelt, der schon zuvor für allgemeinverbindlich erklärt worden war (BAG, 25.09.1996 - 10 AZR 311/96).
"Mit der Allgemeinverbindlicherklärung", sagt § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG, "erfassen die Rechtsnormen des Tarifvertrags in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer."
Beispiel:
Arbeitgeber A und Mitarbeiter M sind nicht organisiert und daher nicht tarifgebunden. Der Branchentarifvertrage wird vom Bundesministerium ab dem 01.04. für allgemeinverbindlich erklärt. Das bedeutet nun für A und M: Sie sind ab dem 01.04. kraft Allgemeinverbindlicherklärung an die Branchentarifverträge gebunden. M hat nun Anspruch auf den Tariflohn, A muss M einen etwaigen tariflichen Mehrurlaub gewähren und ihm eine tarifliche Sonderzuwendung zahlen - ob er will oder nicht. Das ist ja gerade das Ziel der Allgemeinverbindlicherklärung, die nun dafür sorgt, dass auch Außenseiter vom Branchentarifvertrag erfasst werden.
Der zeitliche Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklärung muss sich nicht zwingend mit der Laufzeit des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags decken.
Beispiel:
Der Branchen-Entgelttarifvertrag ist für die Zeit vom 01.07. des laufenden bis zum 30.06. des folgenden Jahres vereinbart. Die Allgemeinverbindlicherklärung erfolgt mit Wirkung ab 01.09. des laufenden Jahres. Außenseiter werden nun erst ab dem 01.09. von dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag erfasst.
Das Ende der Allgemeinverbindlichkeit kann in der Allgemeinverbindlicherklärung bestimmt werden, kann sich aber auch nach der Laufzeit des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags richten. Zudem besteht die Möglichkeit, die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nach Maßgabe des § 5 Abs. 5 TVG aufzuheben, "wenn die Aufhebung im öffentlichen Interesse geboten erscheint."
Praxistipp:
Auf der Netzseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ist ein Verzeichnis aller allgemeinverbindlichen Tarifverträge abrufbar. In der Regel sind dort auch Beginn und Ende der Allgemeinverbindlichkeit angegeben.
Mit dem Ende der Allgemeinverbindlichkeit gelten die Tarifnormen wie bei jedem abgelaufenen Tarifvertrag kraft Nachwirkung weiter. Mit dem Abschluss eines neuen Tarifvertrages, der die Nachwirkung für die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien beendet, werden auch die Außenseiter von der Nachwirkung frei (BAG, 27.11.1991 - 4 AZR 211/91). Die Nachwirkung besteht aber auch dann weiter fort, wenn für die durch Mitgliedschaft bei den Tarifvertragsparteien gebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bereits ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen wurde, dieser aber nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden ist.
Beispiel:
Das zuständige Landesministerium erklärt den 2018er Entgelttarifvertrag für allgemeinverbindlich. Nichtorganisierte Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind nun wegen der Allgemeinverbindlicherklärung an diesen Entgelttarifvertrag gebunden. Der 2019er Entgelttarifvertrag wird nicht mehr für allgemeinverbindlich erklärt, weil sich Verband und Gewerkschaft nicht über einen gemeinsamen Antrag verständigen können. Die tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind an den 2019er Entgelttarifvertrag gebunden, die Nichtorganisierten nicht. In ihren Arbeitsverhältnissen wirkt der allgemeinverbindlich erklärte 2018er Entgelttarifvertrag nach.
Zu beachten: Ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag ist vom Arbeitgeber auch dann einzuhalten, wenn er nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist (§ 5 Abs. 4 Satz 2 TVG). Soweit ein Tarifvertrag für eine gemeinsame Einrichtung einen anderen als die in den Nr. 1 bis Nr. 5 des § 5 Abs. 1a TVG genannten Gegenstände vorsieht, ist weiterhin eine Allgemeinverbindlicherklärung über § 5 Abs. 1 TVG möglich. Ihr kommt dann aber nicht die Wirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG zu.
5. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet vorgestellt:
5.1 Demokratische Legitimation
"1. Die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags bedarf als Akt der Normsetzung der demokratischen Legitimation in Form der zustimmenden Befassung des zuständigen Ministers oder seines Staatssekretärs mit der Angelegenheit. Dieses Erfordernis besteht unabhängig von konkreten Inhalten des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags. 2. Für die Ermittlung der sog. Großen Zahl kam es nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF [mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmer, seit dem 16.08.2014 überholt] auf die Anzahl der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer an. Unerheblich war hingegen, ob die Allgemeinverbindlicherklärung mit Einschränkungen hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs ergangen ist" (BAG, 21.09.2016 - 10 ABR 33/15 - Leitsätze).
5.2 EU-Recht
Die Mitgliedsstaaten sorgen nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71EG (= Entsenderichtlinie), dass die dort bezeichneten Aspekte – u.a. Gesundheitsschutz, Höchstarbeitszeiten, Mindestlöhne – "durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge … im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen, festgelegt sind." Das bedeutet: "Art. 3 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 96/71 ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt worden ist, anhand des anwendbaren nationalen Rechts zu beurteilen ist. Dem in diesen Bestimmungen enthaltenen Begriff entspricht ein Tarifvertrag, der nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist, aber dessen Einhaltung für die ihm unterliegenden Unternehmen die Voraussetzung für die Befreiung von der Anwendung eines anderen, seinerseits für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrags darstellt, dessen Bestimmungen im Wesentlichen mit jenen dieses anderen Tarifvertrags identisch sind" (EuGH, 01.12.2020 – C-815/18 – 5- Leitsatz – Niederlande).
5.3 Formelle Anforderungen
Genau wie § 5 TVG a.F. verlangt § 5 TVG n.F., dass die Tarifverträge, die für allgemeinverbindlich erklärt werden sollen, wirksame Tarifverträge i.S.d. TVG sind. Sie müssen also zum einen formell wirksam, zum anderen von tariffähigen und tarifzuständigen Tarifvertragsparteien geschlossen worden sein (s. dazu BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16). "Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrags oder des jeweils letzten Änderungstarifvertrags" (s. dazu BAG, 25.01.2017 - 10 ABR 34/15). Sind möglicherweise einzelne Tarifnormen nach Einschätzung eines Beteiligten unwirksam, stellt das - selbst wenn die Annahme berechtigt ist - die Allgemeinverbindlicherklärung des gesamten Tarifvertrags nicht in Frage. Die Unwirksamkeit einzelner Tarifnormen führt nicht zur Unwirksamkeit des ganzen betroffenen Tarifvertrags (BAG, 20.11.2018 - 10 ABR 12/18 - mit Hinweis auf BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16).
5.4 Gemeinsame Einrichtung
"Nach § 5 Abs. 1a TVG kann nur ein Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung für allgemeinverbindlich erklärt werden und die besondere Rechtswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG auslösen. Auch die Allgemeinverbindlicherklärung eines solchen Tarifvertrags verlangt - neben dem Ziel der Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung - das Bestehen eines öffentlichen Interesses. Dieses kann nur verneint werden, wenn besonders gewichtige Umstände oder überragende entgegenstehende Interessen gegen den Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung sprechen" (BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16- 2. Leitsatz).
5.5 Gemeinsamer Antrag
Für den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung setzt § 5 TVG n.F. einen gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien voraus. Das Erfordernis des gemeinsamen Antrags soll sicherstellen, "dass die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrags erforderlich erscheint (BT-Drs. 18/1558 S. 48)." Der Begriff ist trotzdem nicht formell-rechtlich, sondern materiell-rechtlich zu verstehen. So reicht es aus, wenn nur ein Tarifpartner "gleichzeitig in Vertretung für die andere(n) Tarifvertragspartei(en) den Antrag stellt". Auch dadurch wird gewährleistet, "dass der Antrag von allen tarifvertragsschließenden Parteien inhaltlich getragen wird" (BAG, 20.11.2018 - 10 ABR 12/18 - mit Hinweis auf BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16).
5.6 "Heilungserklärung"
Soll ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden, ist dabei ein von § 5 TVG und der TVG-DVO vorgegebenes Verfahren zu beachten. Verfahrensfehler können zwar im Nachhinein geheilt werden, aber auch dabei muss alles korrekt zugehen: "Eine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags, die zur Heilung einer vorherigen, unwirksamen Allgemeinverbindlicherklärung desselben Tarifvertrags erlassen wird, setzt mangels eines gesetzlichen Heilungsverfahrens für ihre Wirksamkeit grundsätzlich voraus, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen im Zeitpunkt ihres Erlasses ebenso gegeben sind wie die Einhaltung der erforderlichen Verfahrensschritte. Der Rückgriff auf Teile des vorherigen Verfahrens scheidet regelmäßig aus" (BAG, 23.02.2022 - 10 ABR 33/20 - mit dem Ergebnis, dass die 2019er AVE des Entgelttarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe vom 16.09.2009 unwirksam war).
5.7 Materielle Voraussetzung
"Einzige materielle Voraussetzung für den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1 TVG ist, dass diese im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Dabei wird der Grundtatbestand des § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG durch die Regelbeispiele in Satz 2 konkretisiert. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen eines Regelbeispiels erfüllt, wird das Bestehen eines öffentlichen Interesses gesetzlich vermutet. In einem solchen Fall müssen besondere Umstände oder gewichtige entgegenstehende Interessen vorliegen, um ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung zu verneinen" (BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16 - 1. Leitsatz).
5.8 Nichtige AVE
Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Rechtssetzungsakt sui generis. Bei einer Rechtssetzung führen Fehler im Verfahren grundsätzlich dazu, dass die gesamte Rechtsvorschrift unwirksam ist. Das gilt auch in Fällen, in denen es sich lediglich um objektiv materielle Fehler wie Verfahrensfehler handelt. Das bedeutet auf die AVE bezogen: Alle materiellen und formellen Mängel im AV-Erklärungsverfahren führen zur Nichtigkeit der AVE (s. dazu BAG, 21,09.2016 - 10 ABR 33/15). Das Recht sieht zwar keine besonderen Heilungsbestimmungen oder -verfahren für unwirksame AVE vor. Möglich ist aber der Neuerlass einer AVE – der Fehler aber nur heilt, "wenn eine Beseitigung des Unwirksamkeitsgrundes - wie zB bei einem Verfahrensfehler – grundsätzlich möglich ist. Sie scheidet hingegen aus, wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass nicht vorliegen" (BAG, 23.02.2022 - 10 ABR 33/20).
5.9 Öffentliches Interesse
Als öffentliches Interesse i.S.d. § 5 Abs. 1 TVG ist der Kampf gegen Lohndrückerei und Schmutzkonkurrenz" seit Jahren anerkannt (s. dazu BAG, 12.10.1988 - 4 AZR 244/88 - und BVerwG, 03.11.1988 - 7 C 115/86). So wurden in den zurückliegenden Jahren wiederholt Tarifverträge des Hotel- und Gaststättengewerbes für allgemeinverbindlich erklärt, weil ohne Allgemeinverbindlicherklärung die Gefahr weitergehender geringer und geringster Bezahlung noch größer würde (s. dazu BAG, 12.10.1988 - 4 AZR 244/88 u. BAG, 24.01.1979 - 4 AZR 377/77). Personalkosten sind im Gastgewerbe ein wesentlicher Faktor - sodass der Wettbewerbsvorteil durch Unterbieten tarifvertraglicher Vergütung auf der Hand liegt. Hinzu kommt: Niedrige Löhne belasten das soziale Sicherungssystem. "Der Schutz der finanziellen Stabilität der Systeme der sozialen Sicherung, die bei hoher Arbeitslosigkeit oder bei niedrigen Löhnen verstärkt in Anspruch genommen werden, ist ein Gemeinwohlbelang von hoher Bedeutung" (s. dazu BVerfG, 11.07.2006 - 1 BvL 4/00). Dahinter muss das Interesse nicht organisierter Arbeitgeber, die Löhne unternehmensbezogen festzulegen, zurücktreten (BAG, 20.09.2017 - 10 ABR 42/16).
5.10 Rechtmäßigkeitsprüfung
Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) ist ein Rechtssetzungsakt eigener Art und die Rechtmäßigkeit einer AVE ist grundsätzlich von Amts wegen zu überprüfen (s. dazu BAG, 21.09.2016 - 10 ABR 33/15 - und BAG, 10.09.2014 - 10 AZR 959/13). In dem hier entschiedenen Fall - Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG - lagen bereits rechtskräftige Beschlüsse über die Wirksamkeit aller AVE der von § 7 Abs. 1 bis Abs. 10 SokaSiG in Bezug genommenen Verfahrenstarifverträge vor - und das "mit Wirkung für und gegen jedermann vor ('erga omnes'; § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG). Davon unberührt bleibt die - ebenfalls von Amts wegen zu prüfende - Aussetzung nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG bis zu der Erledigung des Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG bei vernünftigen Zweifeln an der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit einer Vereinigung" (BAG, 20.11.2018 - 10 AZR 121/18 - mit Hinweis auf BAG, 31.01.2018 - 10 AZR 695/16 (A)).
5.11 Rückwirkende Allgemeinverbindlicherklärung
Wird eine Allgemeinverbindlicherklärung mit Rückwirkung erlassen, sind dabei "die Grundsätze über die Rückwirkung von Gesetzen, wie sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind, entsprechend anzuwenden." Mussten betroffene Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit einer rückwirkenden Allgemeinverbindlicherklärung rechnen, verletzt diese Erklärung "nicht die vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) umfassten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes". So ein Fall "liegt vor, wenn ein Tarifvertrag rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärt wird, der einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag erneuert oder ändert. Bei dieser Sachlage müssen die Tarifgebundenen nicht nur mit einer AVE des Folgetarifvertrags, sondern auch mit der Rückbeziehung der AVE auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechnen" (BAG, 20.11.2018 - 10 ABR 12/18 - mit Hinweis auf BAG, 13.11.2013 - 10 AZR 1058/12 u. BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16).
5.12 SoKa-Bau
§ 7 SokaSiG erstreckt den Anwendungsbereich der Rechtsnormen von Tarifverträgen über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ihren Geltungsbereichen. "1. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts hält es für verfassungsrechtlich unbedenklich, dass § 7 SokaSiG die Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe rückwirkend auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber erstreckt."
"2. Das SokaSiG verletzt aus Sicht des Senats nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen der sog. Außenseiter darauf, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden. Die tariffreien Arbeitgeber mussten damit rechnen, dass die tariflichen Rechtsnormen durch Gesetz rückwirkend wieder auf sie erstreckt werden würden" (BAG, 20.11.2018 - 10 AZR 121/18 - Leitsätze - mit dem Hinweis, dass der Gesetzgeber mit § 7 SokaSiG "statt anfechtbaren Rechts unanfechtbares Recht" gesetzt hat; bestätigt durch BVerfG, 11.08.2020 – 1 BvR 2654/17; s. dazu auch BAG, 22.01.2020 – 10 AZR 323/18).
5.13 Vertrauen auf höchstrichterliche Rechtsprechung - 1
Selbst die höchstrichterliche Rechtsprechung bewirkt keine dem Gesetzesrecht entsprechende Rechtsbindung. Das führt dazu, dass ein schutzwürdiges Vertrauen in eine bestimmte Rechtslage aufgrund höchstrichterlicher Entscheidungen regelmäßig bloß bei Hinzutreten weiterer Umstände entstehen kann (s. dazu BVerfG, 02.05.2012 - 2 BvL 5/10). Zudem gilt: "Das Vertrauen auf die geltende Rechtslage ist ohnehin nur schutzwürdig, wenn sie generell geeignet ist, ein Vertrauen auf ihr Fortbestehen zu begründen und darauf gegründete Entscheidungen - insbesondere Vermögensdispositionen - herbeizuführen, die sich bei einer Änderung der Rechtslage als nachteilig erweisen" (BAG, 20.11.2018 - 10 AZR 121/18 - mit Hinweis auf BVerfG, 02.05.2012 - 2 BvL 5/10; bestätigt durch BVerfG, 11.08.2020 – 1 BvR 2654/17; s. dazu auch BAG, 22.01.2020 – 10 AZR 323/18).
5.14 Vertrauen auf höchstrichterliche Rechtsprechung - 2
Gibt es für eine bestimmte Rechtsfrage eine langjährige, gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, scheidet bei einem Betroffenen, der eine davon abweichende Rechtsansicht vertritt und seine betrieblichen Dispositionen daran ausrichtet, die Annahme eines schützenswerten Vertrauens aus, wenn es nachträglich zu einer rückwirkenden gesetzlichen Festschreibung dieser Rechtsanwendungspraxis kommt (s. dazu BVerfG, 15.10.2008 - 1 BvR 1138/06). Selbst mit Blick auf den von einer letztlich als ungültig erkannten Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) gesetzten Rechtsschein und mit Rücksicht auf den in der AVE zum Ausdruck gekommenen Rechtsetzungswillen des Normgebers können sich nicht tarifgebundene Arbeitgeber "nicht darauf verlassen, von einer entsprechenden Regelung jedenfalls für den Zeitraum dieses Rechtsscheins verschont zu bleiben" (BAG, 20.11.2018 - 10 AZR 121/18 - mit Hinweis auf BVerfG, 03.09.2009 - 1 BvR 2384/08; bestätigt durch BVerfG, 11.08.2020 – 1 BvR 2654/17; s. dazu auch BAG, 22.01.2020 – 10 AZR 323/18).
Siehe auch