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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Kündigung - verhaltensbedingt: Allgemeines
Kündigung - verhaltensbedingt: Allgemeines
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.Mit fünf Prüfungsschritten zum Erfolg
- 4.1
- 4.2
- 4.3
- 4.4
- 4.5
- 5.
Information
1. Allgemeines
Der Arbeitgeber hat viele Anlässe, in ein Arbeitsverhältnis einzugreifen. Die Gründe für diesen Eingriff können betriebs-, personen- oder verhaltensbedingt sein. Das KSchG lässt Kündigungen wegen dieser Gründe allerdings nur zu, wenn die Beendigung des Arbeitsverhältnisses sozial gerechtfertigt ist. Dafür sieht es zwar selbst keine detaillierten Anforderungen vor. Diese Anforderungen wurden aber vom Bundesarbeitsgericht in jahrzehntelanger Rechtsprechung aufgestellt und werden von ihm immer weiter verfeinert - oft mit dem Ergebnis, dass der Ausgang eines Kündigungsrechtsstreits für den Arbeitgeber nicht voraussehbar ist - und für den Mitarbeiter auch nicht.
Praxistipp:
Haben Arbeitnehmer ihre vertraglichen Pflichten verletzt, denken viele Arbeitgeber gleich - und nur - in Richtung Kündigung. Dass das falsch ist, vermittelt ihnen irgendwann ein Arbeitsrichter. Die verhaltensbedingte Kündigung - egal ob ordentlich oder außerordentlich - ist immer das letzte Mittel, um einer negativen Entwicklung entgegenzusteuern. Solange noch mildere Mittel Erfolg versprechend sind und weitere Vertragsstörungen vermeiden können, muss der Arbeitgeber diese Mittel einsetzen. Wer voreilig kündigt, kann allein deswegen einen späteren Kündigungsschutzprozess verlieren.
Sinn und Zweck einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung ist es nicht, den auffällig gewordenen Mitarbeiter für sein Fehlverhalten zu bestrafen. Der Arbeitgeber darf mit der verhaltensbedingten Kündigung dafür sorgen, dass er zukünftig zu keine weiteren Vertragsstörungen mehr kommt. Das setzt unter anderem voraus, dass im Kündigungszeitpunkt die Prognose getroffen werden kann, dass der Arbeitnehmer weiterhin gegen seine vertraglichen Pflichten verstößt. So setzt die verhaltensbedingte Kündigung im Regelfall eine vorherige Abmahnung voraus. Sie ist Teil des Prognoseprinzips. Um bei einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung ein Maximum an Rechtssicherheit zu erzielen, wird hier ein Fünfstufiges Prüfungsschema empfohlen.
2. Sinn und Zweck einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung
Die ordentliche verhaltensbedingte Kündigung soll dem Arbeitgeber die Möglichkeit geben, sich von einem vertragsstörenden Arbeitnehmer zu trennen und damit weitere Vertragsstörungen zu vermeiden.
Beispiel:
Arbeitgeber A hat Mitarbeiter M schon zweimal abgemahnt, weil M während der Arbeitszeit zum nahe gelegenen Kiosk gegangen ist um Zigaretten zu holen. In der Zeit, in der M unterwegs ist, bleiben Kundenanfragen unbeantwortet. Außerdem verbraucht M von A bezahlte "Arbeitszeit". Der Zigarettenkauf ist Privatsache. Geht M nach der zweiten Abmahnung erneut Zigaretten hohlen, zeigt er damit, dass er sein Verhalten trotz Abmahnung nicht ändern wird. Eine weitere Vertragsstörung ist nach der zweiten Abmahnung bereits eingetreten. Das kann A nun zum Anlass nehmen, das Arbeitsverhältnis des M verhaltensbedingt zu kündigen.
Die Möglichkeiten, arbeitsvertragliche Pflichten zu verletzen, sind vielfältig. Es gibt leichteste und schwerste Vertragsverstöße. Dazwischen existiert eine ganze Bandbreite unterschiedlich gravierender vertraglicher Pflichtverletzungen (s. dazu das Stichwörter Kündigung - verhaltensbedingt: betriebliche Beeinträchtigung und Kündigung - verhaltensbedingt: Verschulden).
Praxistipp:
Was ein Arbeitgeber in keinem Fall tun darf - die verhaltensbedingte Kündigung als Denkzettel für die Vertragsverletzung ansehen. Sie ist vom Gesetz nicht als Sanktion für vertragswidriges Verhalten vorgesehen. Die verhaltensbedingte Kündigung soll helfen, zukünftige Vertragsstörungen zu verhindern. Und das kann möglicherweise auch mit einem milderen Mittel als mit einer Kündigung passieren.
Die Schwere der Pflichtverletzung entscheidet, ob der Arbeitgeber
eine außerordentliche oder
ordentliche
verhaltensbedingte Kündigung aussprechen darf (s. dazu die Stichwörter: Kündigung - außerordentliche: Abgrenzung; Kündigung - ordentliche: Abgrenzung). Es gibt auch Kündigungssachverhalte, die eine Abgrenzung der
betriebs-,
personen- und
verhaltensbedingten
KSchG-Kündigungsgründe verlangen (s. dazu die Stichwörter Kündigung - betriebsbedingt: Allgemeines ff., Kündigung - personenbedingt: Abgrenzung; Kündigung - verhaltensbedingt: Abgrenzung). Nur selten wird ein Sachverhalt die Voraussetzungen aller drei KSchG-Kündigungsgründe gleichzeitig erfüllen.
3. Grundlegende Anforderungen an eine verhaltensbedingte Kündigung
Die ordentliche verhaltensbedingte Kündigung hat die gleichen Grundvoraussetzungen wie jede andere ordentliche Kündigung auch (s. dazu die Stichwörter Kündigung - ordentliche: Allgemeines ff.):
Die Kündigung muss ein Kündigungsberechtigter erklären (Kündigung - ordentliche: Erklärung).
Die Kündigungserklärung muss in Schriftform abgefasst sein (Kündigung - ordentliche: Schriftform).
Die schriftliche Kündigungserklärung muss dem Empfänger zugehen (Kündigung - ordentliche: Erklärung, Kündigung - ordentliche: Zustellung).
Auch wenn Arbeitgeber gerade bei verhaltensbedingten Kündigungen meinen, schnell reagieren zu müssen: Es gibt für die ordentliche verhaltensbedingte Kündigung keine Frist, in der sie nach Feststellung der Tatsachen erklärt sein muss. Die 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB gilt nur für die außerordentliche Kündigung (Kündigung - außerordentliche: Ausschlussfrist). Der Arbeitgeber sollte also nichts überstürzen.
Praxistipp:
Um einen markanten Anhaltspunkt zu haben, sollte der Arbeitgeber sich an dem Tag orientieren, an dem er die ordentliche verhaltensbedingte Kündigung spätestens erklären muss, um das Arbeitsverhältnis mit der maßgeblichen Kündigungsfrist zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden (Kündigungstermin). Hat er die maßgeblichen Tatsachen bis dahin (noch) nicht festgestellt, muss er sich entscheiden: Sachverhalt weiter aufklären und später kündigen oder jetzt kündigen und Sachverhalt später aufklären. Die Frage, was richtig oder falsch ist, kann nur im Einzelfall beantwortet werden.
In einem Betrieb mit Betriebsrat muss der Arbeitgeber vor jeder Kündigung den Betriebsrat anhören. Tut er das nicht, hat er ein unlösbares Problem: "Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam" - § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG (dazu mehr in den Stichwörtern Kündigung - ordentliche: Mitbestimmung und Kündigung - verhaltensbedingt - Mitbestimmung).
Für bestimmte Arbeitnehmer und Arbeitnehmergruppen besteht ein besonderer Kündigungsschutz. Dieser besondere Kündigungsschutz ist Arbeitgebern manchmal verborgen - oder wird von ihnen mehr oder weniger bewusst ignoriert.
Beispiel:
Arbeitgeber A entdeckt, dass Mitarbeiterin M zwei Laptops entwendet hat. M hatte A erst vor drei Wochen mitgeteilt, dass sie schwanger ist. A hält den Diebstahl für eine Ungeheuerlichkeit und meint, dass der besondere Kündigungsschutz Schwangerer in diesem Fall ja wohl nicht greifen könne. Er müsse es sich als Arbeitgeber nicht gefallen lassen, von Mitarbeitern bestohlen zu werden. Im letzten Punkt hat A zwar Recht, aber das relative Kündigungsverbot des § 9 Abs. 1 MuSchG greift auch hier (wobei A in diesem Fall die Möglichkeit hat, bei der zuständigen Arbeitsschutzbehörde die Zustimmung zur Kündigung zu beantragen).
4. Mit fünf Prüfungsschritten zum Erfolg
Vorab: Es gibt keine allgemein gültige Anleitung, die jeden Fall einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung zu einer Maßnahme macht, die im Kündigungsschutzprozess 100-prozentig Bestand hat. Dafür ist das Leben viel zu erfinderisch und der Arbeitsgerichtsprozess nach § 54 ArbGG zu sehr auf eine gütliche Einigung ausgelegt. Diese gütliche Einigung sieht dann in der Regel so aus, dass das Arbeitsverhältnis durch Zahlung einer Abfindung aufgelöst wird. Es gibt aber eine Möglichkeit, ein Maximum an Rechtssicherheit zu erreichen. Dazu wird hier ein 5-stufiges Prüfungsschema empfohlen:
4.1 1. Schritt: Feststellung der Vertragsstörung
Dieser Punkt wird von Arbeitgebern häufig vernachlässigt. Warum die Feststellung der Vertragsstörung so wichtig ist, zeigt § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG: "Der Arbeitgeber hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen".
Beispiel:
Arbeitgeber A hat Arbeitnehmer N ordentlich verhaltensbedingt gekündigt, weil er Geld unterschlagen hat. Wenn A die Unterschlagung im Kündigungsschutzprozess nur behauptet, wird das allein nicht reichen. Er muss die Unterschlagung auch beweisen. Das Arbeitsgericht wird ihm dabei nicht helfen. Der Kündigungsschutzprozess ist ein Parteiprozess. Das Gericht urteilt nur über die Tatsachen, die ihm die Parteien bringen. Kann A dem Gericht diese Tatsachen nicht nachweisen, verliert er den Prozess.
Die Ermittlung der Tatsachen ist manchmal sehr aufwändig. Trotzdem hängt viel davon ab. So mancher Kündigungsschutzprozess scheitert nicht an Rechts-, sondern an Tatsachenfragen (mehr dazu in den Stichwörtern Kündigung - verhaltensbedingt: Darlegungs- und Beweislast, Kündigung - verhaltensbedingt: Prüfungsschema und Kündigung - verhaltensbedingt: Tatsachenfeststellung).
Eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung kommt übrigens nicht nur dann in Betracht, wenn der Arbeitnehmer die Pflichtverletzung tatsächlich begangen hat. Unter besonderen Voraussetzungen ist auch eine Verdachtskündigung zulässig (s. dazu das Stichwort Kündigung - Verdachtskündigung).
4.2 2. Schritt: Feststellung zukünftiger Vertragsstörungen
Die ordentliche Kündigung ist kein Denkzettel für die Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten. Der Arbeitgeber darf ein Arbeitsverhältnis sozial gerechtfertigt ordentlich verhaltensbedingt kündigen, wenn er damit zukünftige Vertragsstörungen vermeiden will. Das setzt in der Regel eine Negativprognose voraus. Der Arbeitgeber muss auf Grund der geschehenen Tatsachen den Schluss ziehen dürfen, dass der auffällig gewordene Arbeitnehmer sein Verhalten nicht ändern und es deswegen zu weiteren Vertragsstörungen kommen wird.
Beispiel:
Arbeitnehmer N hat von seinem Arbeitgeber A entwickelte und vertriebene Software zum Gratisdownload ins Internet gestellt. N kann dabei völlig schuldlos als Menschenfreund gehandelt haben. N kann die Programme aber auch in der Absicht ins Netz gestellt haben, A zu schädigen. Je nach Anzahl der Downloads und der User, die die Programme verwenden, kann der Markt für A bis zum nächsten Update bzw. Upgrade geschlossen sein. Im ersten Fall mag man vielleicht noch annehmen, dass es nach einer entsprechenden Abmahnung bei einer einmaligen Pflichtverletzung bleibt. Im zweiten Fall wird man möglicherweise sagen können, dass hier das Vertrauen in die Rechtschaffenheit des N unwiederbringlich zerstört ist.
Ein wichtiger Bestandteil des Prognoseprinzips ist die Abmahnung. Sie wird einer Kündigung in der Regel vorausgehen müssen - wenn sie denn Erfolg verspricht. Die Frage, ob in Zukunft tatsächlich weitere Vertragsstörungen zu erwarten sind, ist immer einer Frage des Einzelfalls. Mehrere Entscheidungshilfen zu diesem Prüfungspunkt gibt es in den Stichwörtern Kündigung - verhaltensbedingt: betriebliche Beeinträchtigung und Kündigung - verhaltensbedingt: Prüfungsschema.
4.3 3. Schritt: Feststellung betrieblicher Auswirkungen
Liegt eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung vor, bei der die Gefahr künftiger Wiederholungen besteht, kommt es darauf an, ob in dieser Hinsicht eine betriebliche Beeinträchtigung vorliegt.
Beispiel:
Im Arbeitsvertrag von Mitarbeiter M steht die Klausel: "Der/Die Arbeitnehmer/in hat dem Arbeitgeber eine etwaige Nebentätigkeit rechtzeitig vor ihrer Aufnahme schriftlich anzuzeigen. Der Arbeitgeber wird dem/der Arbeitnehmer/in diese Nebentätigkeit verbieten, wenn sie geeignet ist, das Arbeitsverhältnis oder das Ansehen des Arbeitgebers in der Öffentlichkeit zu beeinträchtigen". M ist Mitglied des örtlichen Schützenvereins. Am Wochenende 25.09. bis 27.09. findet das alljährliche Schützenfest statt. Der Wirt des Festzelts sucht einige kurzfristig Beschäftigte, die an den drei Festtagen Theken- und Kellnerarbeiten machen. M meldet sich spontan am Donnerstag zum Thekendienst - ohne Arbeitgeber A dies vorher mitzuteilen. Am 28.09. nimmt M die Arbeit bei A ordnungsgemäß wieder auf. M's Nebentätigkeit verursachte keine betriebliche Beeinträchtigung.
In Fällen, in denen eine betriebliche Beeinträchtigung nicht direkt greifbar ist, muss man davon ausgehen, dass die Vertragsverletzung selbst die betriebliche Beeinträchtigung ist.
Beispiel:
Arbeitnehmer N hat in seinem Arbeitsvertrag das Verbot, von Dritten, Geschäftspartnern und Lieferanten Geschenke anzunehmen. Lieferant L schenkt N einen Laptop - einfach so: ohne Gegenleistung und ohne dafür von N ein bestimmtes Verhalten zu fordern. Die Annahme des Geschenks hat keine betrieblichen Auswirkungen. L hat an das Geschenk keine Erwartungen geknüpft. Aber: N hat gegen seinen Arbeitsvertrag verstoßen. Das reicht für die Feststellung einer betrieblichen Beeinträchtigung.
Ob eine Vertragsverletzung ohne betriebliche Beeinträchtigung geeignet ist, eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung sozial zu rechtfertigen, ist eine Frage, die dann im Rahmen des 5. Prüfungsschritts - der Interessenabwägung - zu klären ist. Mehr zur betrieblichen Beeinträchtigung im gleichnamigen Beitrag.
4.4 4. Schritt: Feststellung des richtigen Mittels
Die ordentliche verhaltensbedingte Kündigung muss nicht immer der richtige Schritt sein. Der Arbeitgeber hat in der Regel mehrere Möglichkeiten zur Auswahl, mit denen er auf eine Vertragsstörung reagieren kann. Das schwerste Mittel einer Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten zu begegnen, ist die außerordentliche Kündigung. Danach folgt die ordentliche Kündigung als weniger einschneidende Maßnahme. Aber auch sie muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein, wenn es noch andere geeignete mildere Mittel gibt. Die Rechtsprechung hat dazu das Ultima-Ratio-Prinzip entwickelt.
Beispiel:
Arbeitgeber A fällt auf, dass die Produktivität in der beta-Abteilung merklich nachgelassen hat. Er führt deswegen mit den Arbeitnehmern dieser Abteilung Gespräche. Mehrere Mitarbeiter sagen ihm, dass die geringere Produktivität mit dem Verhalten des neuen Gruppenleiters G zusammenhänge. Er kritisiere sie oft zu Unrecht und ersticke jede Selbstständigkeit im Keim. A muss handeln, wenn er die Produktivität der beta-Abteilung wieder steigern will. Die verhaltensbedingte Kündigung des G wäre allerdings das letzte Mittel, zu dem A greifen kann. Er kann mit G in der Hoffnung sprechen, dass der seinen Führungsstil nach diesem Gespräch ändert. Er kann G aber auch förmlich abmahnen oder ihn in eine andere Abteilung versetzen (wobei fraglich ist, ob dadurch eine Änderung des Führungsstils eintritt...).
Auch für die Wahl des richtigen Mittels gibt es kein allgemein gültiges Rezept. Es muss allerdings
objektiv machbar und
subjektiv zumutbar
sein. Welches Mittel das ist, lässt sich nur im Einzelfall entscheiden - Hilfen dazu gibt es in den Stichwörtern Kündigung - verhaltensbedingt: Prüfungsschema und Kündigung - verhaltensbedingt: Ultima-Ratio-Prinzip).
4.5 5. Schritt: Feststellung des überwiegenden Interesses
Der letzte Prüfungsschritt beschäftigt sich mit der Interessenabwägung. Dabei müssen
das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers und
das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers
miteinander abgewogen werden. Nur dann, wenn das Arbeitnehmer- hinter dem Arbeitgeberinteresse zurücktreten muss, ist eine verhaltensbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt.
Bei der Interessenabwägung stehen zunächst beide Interessen grundsätzlich gleichwertig gegenüber. Weder hat das Beendigungsinteresse von Anfang an Vorrang gegenüber dem Bestandsinteresse noch lässt sich das Interesse des Arbeitnehmers am Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses im Vorhinein höher bewerten als das des Arbeitgebers an dessen Beendigung.
Praxistipp:
Die richtige Interessenabwägung ist schwierig. Das ist sie vor allem deswegen, weil der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung nicht weiß, welche Interessen der Kündigungskandidat im (möglichen) späteren Kündigungsschutzverfahren aufzeigen und welche das Arbeitsgericht in den Vordergrund stellen wird. Ganz wichtig ist es in jedem Fall, den bisherigen störungsfreien Verlauf der Beschäftigung zu beachten. Hinzu kommen Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und eine etwaige Schwerbehinderung. Auf Seiten des Arbeitgebers sind insbesondere das Gewicht der Pflichtverletzung, die Schwere des Verschuldens und die betriebliche Beeinträchtigung der Vertragsstörung zu berücksichtigen.
Die ordentliche verhaltensbedingte Kündigung setzt - bis auf wenige Ausnahmefälle - Verschulden voraus. Der Arbeitnehmer muss seine arbeitsvertraglichen Pflichten in vorwerfbarer Weise - fahrlässig oder vorsätzlich - verletzt haben. Dazu mehr im Stichwort Kündigung - verhaltensbedingt: Verschulden.
Eine Interessenabwägung ist immer mit gewissen Risiken und Unwägbarkeiten verbunden. Dabei gibt es oft kein klares Richtig und kein klares Falsch. Das BAG hilft mit der Formel, dass "die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile billigenswert und angemessen" erscheinen muss (BAG, 23.06.2009 - 2 AZR 283/08). Das lässt auch Lösungen zu, die "nur" vertretbar sind. Letzten Endes ist alles immer eine Frage des Einzelfalls - mit dem Ergebnis, dass es für Arbeitgeber keine 100-prozentige Verlässlichkeit gibt. Weitere Informationen zu diesem Punkt sind im Stichwort Kündigung - verhaltensbedingt: Interessenabwägung hinterlegt.
5. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zu allgemeinen Fragen bei einer verhaltensbedingten Kündigung in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet hinterlegt.
5.1 Abmahnung
Wer als Arbeitgeber verhaltensbedingt kündigen will, muss sich entscheiden. Das Kündigungsrecht ist verzichtbar - und dieser Verzicht kann ausdrücklich oder durch schlüssiges Verhalten - konkludent - erfolgen. So liegt im Ausspruch einer Abmahnung der konkludente Verzicht, wegen der mit ihr gerügten Gründe eine Kündigung auszusprechen. Mit seiner Abmahnung gibt der Arbeitgeber nämlich zu erkennen, dass er das Arbeitsverhältnis noch nicht als so gestört ansieht, dass er es nicht mehr fortsetzen könnte (BAG, 26.11.2009 - 2 AZR 751/08).
5.2 Aussetzung wg. Strafverfahrens?
Behindertenhilfe-Mitarbeiterin M war in Verdacht geraten, vier Bewohner der Einrichtung getötet zu haben. Arbeitgeber G hat M’s Arbeitsverhältnis daraufhin fristlos – und zwar verhaltens- und personenbedingt – gekündigt, M eine Kündigungsschutzklage erhoben. Parallel dazu lief ein Strafverfahren gegen M. Das Arbeitsgericht hat das Kündigungsschutzverfahren wegen dieses Strafverfahrens und der dort veranlassten Begutachtung der Gekündigten ausgesetzt. Das missfiel G und er griff den Aussetzungsbeschluss des Arbeitsgerichts mit der dafür vorgesehenen Beschwerde an.
Das Beschwerdegericht sah den Sachverhalt anders als die erste Instanz und hob den Aussetzungsbeschluss auf. Begründung u.a.: Es liegt nur dann ein Aussetzungsgrund vor, wenn die strafrechtlichen Ermittlungen für die Entscheidung des Arbeitsgerichts maßgeblich sind. Für die Frage der Schuldfähigkeit der Mitarbeiterin kann diese Maßgeblichkeit hier nicht festgestellt werden. Soweit auf den personenbedingten Anlass abgestellt wird, ist die fachliche Eignung der Arbeitnehmerin auch dann zu verneinen, wenn sie nicht schuldfähig war. Eine weitere Zusammenarbeit mit ihr ist nicht mehr zumutbar (LAG Berlin-Brandenburg, 06.10.2021 – 11 Ta 1120/21 – mit dem Hinweis, dass es nicht auf das strafrechtliche Urteil, sondern die arbeitsvertragliche Pflichtverletzung und den damit verbundenen Vertrauensbruch ankommt).
5.3 "Bedingt" i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG
"Eine Kündigung ist durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG 'bedingt', wenn dieser seine vertragliche Haupt- oder Nebenpflicht erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat und eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht. Dann kann dem Risiko künftiger Störungen nur durch die (fristgemäße) Beendigung des Arbeitsverhältnisses begegnet werden, Das wiederum ist nicht der Fall, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers - etwa eine Abmahnung oder eine Versetzung - geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken" (BAG, 23.01.2014 - 2 AZR 638/13).
5.4 Behinderung <50 GdB
"Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf steht einer nationalen Regelung entgegen, nach der ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer aufgrund gerechtfertigter, aber wiederkehrender Abwesenheiten vom Arbeitsplatz auch dann entlassen darf, wenn die Fehlzeiten die Folge von Krankheiten sind, die auf eine Behinderung des Arbeitnehmers [hier: Adipositas mit einem Einzel-GdB von 32 %, keine Schwerbehinderung i.S.d. nationalen SGB IX, Anm. d. Verf.] zurückzuführen sind, es sei denn, diese Regelung geht unter Verfolgung des legitimen Ziels der Bekämpfung von Absentismus nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts" (EuGH, 18.01.2018 - C-270/16 - Leitsatz - Spanien).
5.5 Betrug
Ein Grund für eine verhaltensbedingte Kündigung im Sinn des § 1 Abs. 2 KSchG liegt vor, "wenn der Arbeitnehmer unter Vorlage eines Attests der Arbeit fernbleibt und sich Lohnfortzahlung gewähren lässt, obwohl es sich in Wahrheit nur um eine vorgetäuschte Krankheit handelt. Der Arbeitnehmer wird in solchen Fällen regelmäßig auch einen vollendeten Betrug begangen haben. Durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat der Arbeitnehmer den Arbeitgeber unter Vortäuschung falscher Tatsachen dazu veranlasst, ihm unberechtigterweise Lohnfortzahlung zu gewähren" (BAG, 23.06.2009 - 2 AZR 532/08).
5.6 Corona-Anhuster
Mitarbeiter M hatte sich mehrfach über die von seinem Arbeitgeber via Pandemieplan eingeführten Corona-Regeln - u.a. Abstandhalten, Bedecken von Mund und Nase, Einhalten von Hygienemaßnahmen etc. - hinweggesetzt. Der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, war das - angebliche - vorsätzliche Anhusten eines Kollegen aus kurzer Entfernung. Sinngemäß noch von dem Spruch begleitet: "Ich hoffe, dass du jetzt Corona kriegst!" Die Folge: außerordentliche Kündigung mit Zustimmung des Betriebsrats (weil M auch noch Mitglied der Jugend- und Auszubildendenvertretung war). Würde als Kündigungsgrund ausreichen - auch ohne Abmahnung. Bloß: M's Arbeitgeber konnte den von ihm behaupteten Vorfall jedoch trotz Zeugenvernehmung vor Gericht nicht beweisen. Das wiederum führte zu einem Beweislasturteil mit dem Erfolg, dass M's Kündigung scheiterte (LAG Düsseldorf, 27.04.2021 - 3 Sa 646/20 - mit dem Hinweis, dass allein wegen der Verletzung von Abstandsregeln eine Abmahnung ausgereicht hätte).
5.7 "Corona"-Kündigung
"1. In einem Dienstleistungsbetrieb, in dem ein physischer Kundenkontakt besteht, kann der Arbeitgeber das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (MNS) verpflichtend anordnen. 2. Aus einem Attest zur Befreiung von der Pflicht zum Tragen eines MNS muss hervorgehen, welche konkret zu benennenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund eines MNS zu erwarten sind. 3. Besteht aufgrund einer wirksamen Befreiung von der MNS-Pflicht oder aufgrund der Weigerung des Tragens keine andere Möglichkeit des Einsatzes im Betrieb, ist eine Kündigung i. d. R. gerechtfertigt" (ArbG Cottbus, 17.06.2021 - 11 Ca 10390/20 - Leitsätze - mit dem Hinweis: betriebsbedingter Kündigungsgrund bei fehlender Einsatzmöglichkeit, personenbedingter Kündigungsgrund bei fehlender Eignung und verhaltensbedingter Kündigungsgrund bei Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten).
5.8 Erhebliche Pflichtverletzung
Wenn ein Mitarbeiter seinem Arbeitgeber mit einem empfindlichen Übel droht, um damit streitige Forderungen durchzudrücken, kann das nach den Umständen des Einzelfalls "ein erheblicher, gegebenenfalls sogar die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigender Verstoß gegen seine Pflicht zur Rücksichtnahme" auf die Interessen des Arbeitgebers sein. Will der Arbeitgeber die Drohung dann als Anlass für eine Kündigung nutzen, wird regelmäßig weiter vorausgesetzt, dass die Drohung auch widerrechtlich ist - sie muss allerdings nicht den Tatbestand der Nötigung aus § 240 StGB erfüllen (s. dazu BAG, 19.11.2015 - 2 AZR 217/15; BAG, 13.05.2015 - 2 AZR 531/14 u. BAG, 08.05.2014 - 2 AZR 249/13). Für bewusst falsche Tatsachenbehauptungen kann sich ein Arbeitnehmer nicht auf sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung berufen (BAG, 05.12.2019 - 2 AZR 240/19 - zu einer verhaltensbedingten Kündigung wegen angeblicher Schmähkritik).
5.9 Fingieren von Kündigungsgründen
Der vereinfachte Fall: Arbeitgeber A, Betreiber einer Senioreneinrichtung, hatte versucht, mit seinem Rechtsberater ein Strategiekonzept zu entwickeln, um sich von der stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden V zu trennen. Über einen eingeschleusten Lockspitzel sollte versucht werden, Betriebsratsmitglieder in Verruf zu bringen, Kündigungsgründe zu provozieren und zu erfinden. So habe man V einen Verstoß gegen das betriebliche Alkoholverbot untergeschoben, um daraus gerichtlich V's außerordentliche Kündigung betreiben zu können. Das Vorgehen von Arbeitgeber und Rechtsberater stellt eine schwere Verletzung des Persönlichkeitsrechts (§§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1, 840 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) dar - mit der Folge, dass Arbeitgeber und Rechtsberater wegen der Persönlichkeitsrechtsverletzung als Gesamtschuldner zur Zahlung einer Entschädigung von 20.000 EUR verurteilt wurden (ArbG Gießen, 10.05.2019 - 3 Ca 433/17).
5.10 Verstoß gegen Corona-Testpflicht
Arbeitgeber A ist Dienstleister im Bereich öffentlicher Personenbeförderung. Er stellt seinen Mitarbeitern ein ausführliches Fahrer-Handbuch zur Verfügung, das er im April 2021 um eine regelmäßige Corona-Testpflicht seiner Fahrer ergänzt hat. Mitarbeiter M verweigerte die Tests – und A sprach wegen dieser Verweigerung eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung aus. Grundsätzlich ist es so, dass A's Anordnung, erstmalig vor Antritt der Fahrt unter Aufsicht auf dem Betriebsgelände einen von ihm bereitgestellten Corona-Schnelltest durchzuführen, vom Weisungsrecht nach §106 GewO gedeckt war und die Grenzen billigen Ermessens nicht überschritt. Als Arbeitgeber im Bereich der Personenbeförderung war er auch berechtigt, seinen Fahrern die regelmäßige Durchführung von Corona-Schnelltests anzuweisen. Verstößt ein Arbeitnehmer dann gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten, kann das eine ordentliche Kündigung rechtfertigen – in diesem Fall jedoch nicht ohne voraufgehende Abmahnung (ArbG Hamburg, 24.11.2021 – 27 Ca 208/21).
Siehe auch
Abmahnung - AllgemeinesKündigung - betriebsbedingt: AllgemeinesKündigung - ordentliche: AllgemeinesKündigung - VerdachtskündigungKündigung - verhaltensbedingt: besonderer KündigungsschutzKündigung - verhaltensbedingt: MitbestimmungKündigung - betriebsbedingt: UnkündbarkeitKündigung - verhaltensbedingt: TatsachenfeststellungKündigung - verhaltensbedingt: Verschulden