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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Insolvenzarbeitsrecht - Interessensausgleich und Kündigungsschutz
Insolvenzarbeitsrecht - Interessensausgleich und Kündigungsschutz
Inhaltsübersicht
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Information
1. Allgemeines
Der Interessenausgleich nach § 112 BetrVG über eine Betriebsänderung (z.B. Stilllegung des Betriebs oder Verlegung von Betriebsteilen) und einen Sozialplan bei Entlassungen befasst sich mit dem Umstand, ob und zu welchem Zeitpunkt, in welchem Umfang und in welcher Form eine geplante Betriebsänderung (§§ 111 BetrVG) durchgeführt werden soll. Dadurch sollen einerseits die Interessen des Unternehmens an der Betriebsänderung und andererseits die Interessen der Belegschaft an der Vermeidung von Nachteilen geregelt werden.
§ 125 InsO enthält eine Spezialregelung des Interessenausgleichs bezüglich derjenigen Betriebsänderungen, die mit einem Personalabbau einhergehen. In diesem Fall können Insolvenzverwalter und Betriebsrat in einem Interessenausgleich die zu kündigenden Arbeitnehmer namentlich bezeichnen, mit der Folge, dass der Kündigungsschutz dieser Arbeitnehmer im Rahmen einer Kündigungsschutzklage eingeschränkt wird.
2. Vermutungsfunktion des § 125 InsO
Nach dem ausschließlich im eröffneten Insolvenzverfahren anwendbaren § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO wird bei einem Interessenausgleich (Sozialplan) zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat vermutet, dass die Kündigung der Arbeitsverhältnisse der in dem Interessenausgleich per Namensliste bezeichneten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb oder eine Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist.
Die gerichtliche Überprüfung der Sozialauswahl ist insoweit eingeschränkt, dass die Sozialauswahl selbst allerdings hinsichtlich der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters und der Unterhaltsverpflichtungen nur auf eine grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO). Dagegen verbleibt die Darlegungs- und Beweislast beim Insolvenzverwalter. Er muss die Gründe angeben, die zur getroffenen Sozialauswahl geführt haben; ansonsten ist die Kündigung sozialwidrig (BAG, 10.02.1999 - 2 AZR 716/98).
Eine grobe Fehlerhaftigkeit wird in diesem Zusammenhang angenommen, wenn die Gewichtung der Sozialkriterien jede Ausgewogenheit vermissen lässt, sie also mit einem äußerst schweren und ins Auge springenden Fehler behaftet ist, der mit Blick auf die Funktion der Sozialauswahl nicht hingenommen werden kann (z.B. soziale Grunddaten wie z.B. Lebensalter werden überhaupt nicht beachtet). Die beschränkte gerichtliche Nachprüfbarkeit bezieht sich nicht nur auf die Bewertung der Sozialkriterien, sonder auch auf die Sozialauswahl insgesamt, also auch auf den Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer (BAG, 28.08.2003 - 2 AZR 368/02) sowie auf die Ermittlung der aus der Sozialauswahl herauszunehmenden Leistungsträger i.S.v. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG (BAG, 17.11.2005 - 6 AZR 107/05). Eine grobe Fehlerhaftigkeit wird dann nicht angenommen, wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen wird; dies unter der Voraussetzung, dass nicht sonstige grobe Fehler, z.B. bei der Betriebszugehörigkeit, vorliegen.
3. Grundsätze zum § 125 InsO
Der Insolvenzverwalter muss, um einen Betrieb fortführen oder veräußern zu können, in der Regel eine Betriebsänderung durchführen, die in der Regel mit Kündigungen (Personalabbau) verbunden sind.
Damit einher geht auch im Rahmen eines Insolvenzverfahrens der Umstand, dass insoweit das Kündigungsschutzgesetz zu berücksichtigen ist und sich daraus für die Beteiligten, insbesondere bei einer Betriebsveräußerung unter Berücksichtigung des § 613a BGB, erhebliche Unsicherheiten mit Blick auf den Übergang und vor allem die wirksame Beendigung von Arbeitsverhältnissen ergeben. Um die vorgenannten Umstände im Rahmen einer Sanierung zu regeln, sind in den §§ 125-127 InsO die Kriterien hierfür aufgestellt.
Bei Zustandekommen eines Interessenausgleichs mit Namensliste beschränkt sich die Darlegungs- und Beweislast auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschriften des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO.
Der Insolvenzverwalter muss deshalb - so das LAG Hamm im Urteil vom 27.11.2003 - 4 Sa 767/03 - nur darlegen,
dass der Interessenausgleich wegen einer bestimmten Betriebsänderung i.S.d. § 111 BetrVG
rechtswirksam zustande gekommen ist (vgl. BAG, 17.09.1991 – 1 ABR 23/91),
dass der Arbeitnehmer wegen der diesem Interessenausgleich zugrunde liegenden Betriebsänderung entlassen wird/ worden ist,
dass der gekündigte Arbeitnehmer in diesem Interessenausgleich namentlich bezeichnet ist.
Bei Zustandekommen eines Interessenausgleichs mit Namensliste hat der Arbeitnehmer bei einer Betriebsveräußerung im Insolvenzverfahren im Hinblick auf die Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes eine "doppelte" Vermutung zu entkräften, dass die Kündigung mit Blick auf die Sozialauswahl bereits "grob fehlerhaft" war (§ 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO) und dass die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO).
4. Beweislastumkehr
Bei Zustandekommen eines Interessenausgleichs mit Namensliste kehrt sich im Kündigungsschutzprozess, in dem der Insolvenzverwalter ansonsten gem. § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG für das Vorliegen von dringenden betrieblichen Erfordernissen darlegungs- und beweispflichtig ist, mithin die Darlegungs- und Beweislast um. Danach genügt es nicht, dass der Arbeitnehmer das Vorbringen des Arbeitgebers bloß substantiiert bestreitet. Er muss hinsichtlich der gesetzlichen Vermutung vielmehr den Gegenbeweis erbringen, diese also begründet widerlegen (vgl. BAG, 26.04.2007 – 8 AZR 695/05).
Bei einer Betriebsveräußerung erstreckt sich gem. § 128 Abs. 2 InsO die gesetzliche Vermutung in § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO wonach die Kündigung durch dringende betriebliche Gründe bedingt ist, auch darauf, dass die Kündigung nicht wegen des Betriebsübergangs (§ 613a Abs. 4 Satz 1 BGB) erfolgt ist. Den Gegenbeweis hat der Arbeitnehmer zu führen.
5. Wirksamkeit des Interessenausgleichs
Für die Wirksamkeit eines Interessenausgleichs i.S.v. § 125 InsO ist es erforderlich, dass eine schriftliche Namensliste der betroffenen Arbeitnehmer beigefügt wird.
Die Namensliste bedarf der Schriftform und muss vom Unternehmer und vom Betriebsrat unterschrieben sein. Die betroffenen Arbeitnehmer müssen zweifelsfrei identifizierbar bezeichnet sein. Die Namensliste muss im Interessenausgleich vereinbart sein, eine entsprechende Namensliste im Sozialplan genügt nicht. Die Namensliste kann auch in einer Anlage enthalten sein, sofern in dem Interessenausgleich darauf Bezug genommen wird und die Namensliste vom Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat unterschrieben ist oder die Namensliste mit dem Interessenausgleich fest verbunden ist; die erst nach Unterzeichnung erfolgte Zusammenheftung genügt nicht (BAG, 06.07.2006 - 2 AZR 520/05). Der zunächst vereinbarte Interessenausgleich kann auch um eine unterschriebene Namensliste ergänzt werden (BAG, 19.06.2007 - 2 AZR 304/06). Sofern die Urkunde über den Interessenausgleich aus mehreren Blättern besteht, muss eine feste Verbindung der Namensliste mit dem Interessenausgleich erfolgen, welche die Namensliste und Interessenausgleich als zusammengehörige (eine) Urkunde erscheinen lässt (BAG, 06.07.2006 – 2 AZR 520/05; BAG, 07.05.1998 - AZR 55/98).
Nach § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO greift eine gesetzliche Vermutung für die dringende betriebliche Erforderlichkeit der Kündigung ein. Darüber hinaus kann die Sozialauswahl nur im Hinblick auf die sozialen Grunddaten (Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten) und auch diesbezüglich nur auf grobe Fehlerhaftigkeit hin überprüft werden (§ 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO).
Die durch § 125 Abs.1 Satz 1 Nr.2 InsO gegebene Möglichkeit, eine "ausgewogene Personalstruktur" durch eine Sozialauswahl mit Altersgruppen bzw. durch einen entsprechenden Interessenausgleich mit Namensliste zu schaffen, ist nach dem Urteil des BAG vom 19.12.2013 (6 AZR 790/12) mit dem Europarecht zu vereinbaren. Ein Verstoß gegen das europarechtliche Verbot der altersbedingten Diskriminierung liegt hier nicht vor, denn die Schlechterstellung älterer Arbeitnehmer ist - so das BAG -durch das legitime Ziel der Sanierung eines insolventen Unternehmens gerechtfertigt. Jedoch müssen die Arbeitsgerichte im Einzelfall überprüfen, ob die Altersgruppenbildung im konkreten Interessenausgleich gemäß § 10 AGG gerechtfertigt ist. Der Insolvenzverwalter muss daher darlegen und ggf. beweisen, dass die Altersgruppenbildung bzw. die damit erreichte Verjüngung der Belegschaft aufgrund der Sanierung erforderlich war.
6. Weitere Voraussetzungen
Das Zustandekommen des Interessenausgleichs nach § 125 InsO richtet sich nach den oben genannten Grundsätzen. Der in § 125 InsO geregelte Interessenausgleich ist nicht mit dem Interessenausgleich nach § 112 BetrVG identisch, sondern stellt vielmehr einen Interessenausgleich sui generis dar.
Wenn sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert hat, gelten die Regelungen in § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO (gesetzliche Vermutung dringender betrieblicher Gründe für die Kündigung und eingeschränkte gerichtliche Überprüfung der Sozialauswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit) nicht. Wesentlich ist eine Änderung nur dann, wenn sich nachträglich ergibt, dass keine oder eine andere Betriebsänderung durchgeführt werden soll oder erheblich weniger Mitarbeiter entlassen werden sollen.
Im Falle von Massenentlassungen ist die nach § 17 Abs. 3 KSchG erforderliche Stellungnahme des Betriebsrats für die Agentur für Arbeit entbehrlich, wenn sich Insolvenzverwalter und Betriebsrat zuvor auf einen Interessenausgleich nach § 125 InsO geeinigt haben (§ 125 Abs. 2 InsO).
Hat der Betrieb keinen Betriebsrat oder kommt aus anderen Gründen innerhalb von drei Wochen nach Verhandlungsbeginn oder schriftlicher Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen ein Interessenausgleich nach § 125 InsO nicht zustande, obwohl der Insolvenzverwalter den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend unterrichtet hat, dann kann der Insolvenzverwalter gem. § 126 Abs. 1 InsO beim Arbeitsgericht beantragen festzustellen, dass die Kündigung bestimmter, im Antrag bezeichneter Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und sozial gerechtfertigt ist.
Siehe auch
BetriebsänderungInsolvenzarbeitsrecht - BetriebsveräußerungInsolvenzarbeitsrecht - Kündigung besonders geschützter GruppenInsolvenzarbeitsrecht - Kündigung durch InsolvenzverwalterInsolvenzarbeitsrecht - Kündigung von BetriebsvereinbarungenInsolvenzarbeitsrecht - KündigungsfristenInsolvenzarbeitsrecht - KündigungsschutzInteressenausgleich