Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Die Inhalte des Bereichs „Fachwissen SV“ geben Ihnen kostenlos Auskunft zu allen Themen der Sozialversicherung. Sie sind ein exklusives Angebot für eingeloggte Nutzer.
Jetzt einloggen:
Sie sind noch nicht registriert?
Kündigungsschutzprozess - Beweiswürdigung
Kündigungsschutzprozess - Beweiswürdigung
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.Rechtsprechungs-ABC
- 4.1
- 4.2
- 4.3
- 4.4
- 4.5
- 4.6
- 4.7
- 4.8
- 4.9
- 4.10
- 4.11
- 4.12
- 4.13
- 4.14
- 4.15
- 4.16
- 4.17
- 4.18
- 4.19
- 4.20
- 4.21
- 4.22
- 4.23
- 4.24
- 4.25
- 4.26
- 4.27
- 4.28
- 4.29
- 4.30
- 4.31
- 4.32
- 4.33
- 4.34
- 4.35
Information
1. Allgemeines
Der Kündigungsschutzprozess steckt voller Überraschungen. Die Hürden auf dem Weg zu einer erfolgreichen sozial gerechtfertigten Kündigung sind vielzählig und hoch. Das bekommen Arbeitgeber vor allem dann zu spüren, wenn sie mit den Tücken des Beweisrechts konfrontiert sind. Während sie selbst alles für "wahr" und "stimmig" halten, kann ein Arbeitsgericht ihren Fall ganz anders sehen. Ein Gericht darf einer Partei nämlich nicht einfach glauben. Ist eine Tatsache streitig, muss das Gericht über diese streitige Tatsache Beweis erheben. Dazu hat es die Beweisangebote der beweisbelasteten Partei aufzugreifen und diesen Beweisen nachzugehen. Es gelten die Regeln der prozessualen Darlegungs- und Beweislast. Wer für seine streitentscheidende(n) Tatsache(n) keinen Beweis anbietet verliert den Prozess. Wer eine streitentscheidende Tatsache nicht bewiesen bekommt, verliert auch - selbst dann, wenn diese Tatsache an sich wahr ist.
Praxistipp:
Der Kündigungsschutzprozess ist ein Zivilprozess. Zivilprozesse sind Parteiprozesse. Anders als im Straf- oder Verwaltungsrecht sucht das Gericht in einem Zivilprozess nicht von Amts wegen nach der Wahrheit. Die Parteien müssen das Arbeitsgericht daher mit den Tatsachen versorgen, über die es am Ende entscheiden soll. Wer was liefern muss, wird durch die jeweilige Darlegungs- und Beweislast bestimmt. Für den Arbeitgeber ist es wichtig, dass er die Tatsachen, die seine Kündigung sozial rechtfertigen sollen (s. dazu § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG), lückenlos vorträgt und unter Beweis stellt.
Hat das Arbeitsgericht die angebotenen Beweise erhoben, entscheidet es nach seiner freien Überzeugung, ob es eine Tatsache für wahr oder für nicht wahr hält. Freie Überzeugung heißt nicht Entscheidung im luftleeren Raum. Die Überzeugungsbildung des Gerichts muss in sich widerspruchsfrei sein. Das Gericht darf weder gegen allgemeine Erfahrungsgrundsätze noch gegen anerkannte Denkgesetze verstoßen. Darüber hinaus gibt es Beweis(last)regeln, die das Arbeitsgericht bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigen muss. So sagt § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG beispielsweise, dass der Arbeitgeber die Kündigungstatsachen beweisen muss. Kann er das nicht oder reichen seine Beweise nicht aus, wird das Gericht bei seiner Beweiswürdigung zu dem Ergebnis kommen, dass diese - streitigen und entscheidungserheblichen - Tatsachen nicht bewiesen sind. Und damit verliert der Arbeitgeber den Kündigungsschutzprozess. Es ist nicht Aufgabe des gekündigten Mitarbeiters nachzuweisen, dass kein Kündigungsgrund vorliegt.
2. Rechtliche Grundlagen
Sind im Kündigungsschutzprozess zwischen den Parteien Tatsachen streitig, muss das Gericht über diese streitigen Tatsachen Beweis erheben. Über das Ergebnis der Beweisaufnahme haben die Parteien unter Darlegung des Streitverhältnisses zu verhandeln, § 285 Abs. 1 ZPO. Danach ist es Aufgabe des Gerichts, die erhobenen Beweise zu würdigen. Dazu sagt § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO
"Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei."
In seinem Urteil muss das Gericht die Gründe angeben, die für seine Überzeugung leitend gewesen sind (§ 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO). An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur in den von der ZPO bezeichneten Fällen gebunden (§ 286 Abs. 2 ZPO) - zum Beispiel:
Das Gericht braucht keinen Beweis zu erheben, wenn der Prozessgegner eine behauptete/streitige Tatsache im Lauf des Rechtsstreits gesteht, § 288 Abs. 1 ZPO.
Tatsachen, die offenkundig sind, brauchen ebenfalls nicht bewiesen zu werden, § 291 ZPO.
Stellt das Gesetz für das Vorhandensein bestimmter Tatsachen eine Vermutung auf, so ist - wenn das Gesetz nichts anderes vorschreibt - der Beweis des Gegenteils zulässig, § 292 Satz 1 ZPO.
Fremdes Recht aus anderen Staaten, Gewohnheitsrecht und Statuten brauchen nur dann bewiesen zu werden, wenn sie dem Gericht unbekannt sind, § 293 Satz 1 ZPO.
Natürlich gibt es auch in anderen Gesetzen Beweis(last)regeln, beispielsweise in § 22 AGG:
"Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat."
Tatsachenrichter - das sind die Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte - sind bei der Würdigung der von ihnen erhobenen Beweise relativ frei. Das BAG kann die vom Berufungsgericht vorgenommene Beweiswürdigung daher nur eingeschränkt überprüfen. Es darf aber feststellen, ob die vom LAG vorgenommene Beweiswürdigung
in sich widerspruchsfrei,
ohne Verletzung von Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungsgrundsätzen erfolgt
und rechtlich möglich
ist (BAG, 08.05.2014 - 2 AZR 1005/12). Genügt die LAG-Beweiswürdigung diesen Grundsätzen, sind Revisionsrügen unbegründet. Im Ergebnis reicht es schon aus, wenn das Berufungsgericht insgesamt ohne Widerspruch und umfassend hinsichtlich aller wesentlichen Gesichtspunkte zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung genommen hat (BAG, 18.10.2012 - 6 AZR 289/11). Dass eine Partei die vorgebrachten Beweise selbst anders würdigt und ihre eigene Beweiswürdigung an die Stelle der gerichtlichen setzt, reicht nicht aus, um Fehler des Berufungsgerichts bei der Beweiswürdigung anzunehmen (BAG, 02.05.2014 - 2 AZR 490/13).
Die ZPO sieht für rechtswidrig erlangte
Beweismittel oder
Informationen
kein ausdrückliches prozessuales
Verwertungs- oder
Verwendungsverbot
vor. Im Gegenteil: Aus Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. § 286 ZPO folgt sogar die grundsätzliche Verpflichtung der Gerichte, den von den Parteien vorgetragenen Sachverhalt mit den von ihnen angebotenen Beweisen zu berücksichtigen (BAG, 20.06.2013 - 2 AZR 546/12 - mit Hinweis auf BVerfG, 09.10.2002 - 1 BvR 1611/96). Sogar wenn sich eine Prozesspartei ihre Erkenntnisse durch einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht eines anderen verschafft hat, dürfen diese Erkenntnis verwertet werden. Aber nur dann, "wenn eine Abwägung der beteiligten Belange ergibt, dass das Interesse an einer Verwertung der Beweise trotz der damit einhergehenden Rechtsverletzung das Interesse am Schutz der Daten überwiegt" (BAG, 20.06.2013 - 2 AZR 546/12).
Der Tatsachenrichter muss nicht jeden Beweisantritt berücksichtigen und die von den Parteien angebotenen Beweis erheben. Das Parteivorbringen muss erheblich sein. Das ist es, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von der Wahrheit oder Unwahrheit eines Sachverhalts abhängt. "Solange eine Behauptung einer Partei konkret genug ist, um eine Stellungnahme des Gegners zu ermöglichen und die Erheblichkeit des Vorbringens zu beurteilen, darf das Gericht eine Beweisaufnahme zu einem bestrittenen erheblichen Vorbringen nicht ablehnen" (BAG, 12.04.2011 - 9 AZR 36/10).
In der Beweiserhebung ist das Tatsachengericht nach § 286 ZPO nicht frei. Wenn eine entscheidungserhebliche Frage streitig ist, muss das Gericht die dazu angebotenen Beweise erheben, wenn diese Beweise
zulässig,
zur Beweisführung geeignet und
von der beweisbelasteten Partei angeboten
sind.
Praxistipp:
Viele Kündigungsschutzprozesse gehen verloren, weil der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast falsch einschätzt. Das Gericht darf einer Partei nicht einfach glauben. Bestreitet der Arbeitnehmer eine behauptetet Tatsache des Arbeitgebers, muss der Arbeitgeber für diese Tatsache Beweis anbieten. Macht er das nicht, bleibt er beweisfällig - und verliert den Kündigungsschutzprozess.
Die Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme verlangt keine Würdigung jeder einzelnen Ausführung
eines Sachverständigen oder
eines Zeugen.
Es genügt, wenn das Berufungsgericht insgesamt frei von Widersprüchen und umfassend zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung genommen hat. Aber: "Zu verlangen ist allerdings, dass alle wesentlichen Aspekte in der Begründung des Gerichts erwähnt und gewürdigt worden sind" (BAG, 22.03.2012 - 2 AZR 224/11).
Das Berufungsgericht hat nach § 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seiner Verhandlung/Entscheidung die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, wenn
keine konkreten Anhaltspunkte Zweifel
an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und
deshalb eine erneute Feststellung gebieten (LAG Köln, 26.02.2010 - 11 Sa 828/09).
Neue Tatsachen muss das Berufungsgericht aufnehmen und verwerten, wenn deren Berücksichtigung prozessual zulässig ist (§ 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO).
3. Praktische Auswirkungen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer streiten in einem Kündigungsschutzprozess u.a. über die soziale Rechtfertigung einer
Kündigung.
Praxistipp:
Der Arbeitgeber muss im Kündigungsschutzprozess die Tatsachen so darlegen und unter Beweis stellen, dass das Arbeitsgericht sie so zu seinen Gunsten würdigen kann, dass es sie als wahr - also als erwiesen - ansieht.
Der Ausgang des Kündigungsschutzprozesses hängt für beide Parteien von
Rechtsfragen und
Tatsachen
ab.
Beispiel:
Arbeitgeber A hat Mitarbeiter M wegen einer - angeblichen - Beleidigung eines Kunden außerordentlich gekündigt. Streitentscheidend ist hier zunächst die Tatsache "Beleidigung eines Kunden". Hat M gar keinen Kunden beleidigt, gibt es für eine außerordentliche Kündigung schon keinen wichtigen Grund. Steht die Tatsache "Beleidigung eines Kunden" dagegen fest, kommt es auf die Rechtsfrage an, ob dieser konkrete Anlass gleich ein wichtiger Grund für die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist oder - Ultima Ratio - nicht doch zunächst eine Abmahnung ausreicht. Über die streitige Tatsache "Beleidigung eines Kunden" muss das Gericht Beweis erheben, die Rechtsfrage kann es ohne Beweisaufnahme entscheiden (auch die Parteien und das Gericht hier unterschiedlicher Auffassung sind).
Wer welche Tatsachen vorzutragen hat, richtet sich nach den Regeln der Darlegungs- und Beweislast (s. dazu das Stichwort Kündigungsschutzprozess - Darlegungs- und Beweislast). Wer darlegungs- und beweisbelastet "seine" Tatsachen nicht bewiesen bekommt, verliert den Kündigungsschutzprozess.
Beispiel:
A hat im vorausgehenden Beispiel M's Kollegin G und den Kunden K als Zeugen für die Beleidigung benannt. Beide sagen vor Gericht aus. G bekundet, dass sie zwar mitbekommen habe, dass M und K miteinander gesprochen hätten, zum Inhalt dieses Gesprächs könne sie jedoch nichts sagen. Dazu habe sie viel zu weit von M und K weg gestanden. Im Verhalten der beiden habe sie auch nichts Auffälliges erkennen können. K sagt, dass er sich zwar mit M unterhalten, sich aber nicht mit ihm gestritten habe. Möglicherweise habe jemand sein abruptes Umdrehen und das plötzliche Verlassen des Ladens falsch interpretiert, er habe nämlich noch schnell woanders hinmüssen. Mit M hatte das alles gar nichts zu tun. Das Gericht kann jetzt die Tatsache "Beleidigung eines Kunden" im Rahmen der Beweiswürdigung nicht feststellen. Beide Zeugen - auch der direkt betroffene - haben A's Vorwurf nicht bestätigt. Aus ihren Äußerungen deutet nichts auf eine Kundenbeleidigung hin.
Freie Beweiswürdigung bedeutet nicht Willkür. Das Tatsachengericht hat aber ein Spielraum, in dem es Tatsachen für wahr oder unwahr halten kann. Es ist dabei allerdings an bestehende gesetzliche Beweis(last)regeln gebunden sowie an allgemeine Denk- und Erfahrungssätze.
Beispiel:
Arbeitgeber A hat Arbeitnehmer N wegen wiederholten Blaumachens ordentlich verhaltensbedingt gekündigt. Zuvor hatte er ihn zwei Mal abgemahnt. Nachdem N das dritte Mal unentschuldigt fehlte, bekam er die Kündigung. Im Kündigungsschutzprozess trägt N keine Tatsachen vor, die sein Fehlen erklären oder die Prognose weiterer arbeitsvertraglicher Pflichtverletzungen entkräften. Das Gericht kann nun nicht von einem Erfahrungssatz ausgehen, dass derjenige, der bereits drei Mal unentschuldigt gefehlt hat, in Zukunft nicht mehr unentschuldigt fehlen wird. So einen Erfahrungssatz gibt es nicht. Das Gericht muss seine Entscheidung auf den Fall N abstellen. Da A nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Beweislast für die Kündigungsgründe trägt, kann es N nicht verpflichten, zu beweisen, dass er entschuldigt gefehlt hat. Auch wenn der klassische "blaue Montag" vielen bekannt ist: es gibt kein Denkgesetz, dass die Annahme rechtfertigt, dass derjenige, der Montags nicht zur Arbeit kommt, am Wochenende so über die Stränge geschlagen hat, dass er deswegen nicht zur Arbeit kommt.
Das Gericht muss seine Schlussfolgerungen widerspruchsfrei und nachvollziehbar treffen. Das Gericht darf sich ohne eigene - bessere Sachkunde - nicht über die Aussage eines sachverständigen Zeugen oder über das Gutachten eines Sachverständigen hinwegsetzen.
Beispiel:
Arbeitgeber A hat Arbeitnehmer N wegen lang andauernder Arbeitsunfähigkeit gekündigt. Im Kündigungsschutzprozess wird sachverständig über N's Gesundheitszustand Beweis erhoben. Der Gutachter kommt nach ausführlicher Untersuchung N's und Auswertung seiner Krankengeschichte und aktueller medizinischer Literatur zu dem Ergebnis, dass N aus medizinischer Sicht weiterhin arbeitsunfähig krank bleiben und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den nächsten drei Jahren nicht wieder arbeitsfähig wird, wahrscheinlich auch danach nicht. Das Gericht kann sich in diesem Fall nicht über das Sachverständigengutachten hinwegsetzen und die Gesundheitsprognose zu N's Gunsten anders einschätzen als der Sachverständige.
Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage ist von sehr subjektiv empfundenen Faktoren geprägt. Ein geschickter Lügner wird das Gericht beeindrucken.
Beispiel:
Arbeitgeber A hat Arbeitnehmer N außerordentlich gekündigt. N soll vorsätzlich den Pkw eines anderen Mitarbeiters beschädigt haben. N bittet seinen Kollegen K, für ihn auszusagen, dass er am angeblichen Tattag zur angeblichen Tatzeit mit ihm zusammen im Lager war - weit vom Firmenparkplatz entfernt. K sagt aus, verwickelt sich auch bei wiederholtem Nachfragen des Gerichts und des Beklagtenvertreters nicht in Widersprüche, gibt Nebentatsachen an, lässt weder Stresszeichen (roter Kopf, trockener Mund, Schweiß auf der Stirn u.a.) noch andere Auffälligkeiten erkennen. Das Gericht glaubt K, A verliert den Prozess. Er kann die Wahrheit - obwohl N den Pkw wirklich beschädigt hat - nicht beweisen. Das Gericht muss nach K's glaubwürigem Auftreten und nach seiner glaubhaften Aussage davon ausgehen, dass A's Vorwurf nicht stimmt.
Der Beweis durch Zeugen ist, sagen die Juristen, immer der schlechteste Beweis. Und das nicht nur, weil ein Zeuge ganz bewusst die Unwahrheit sagen kann. Kündigungsschutzprozesse dauern manchmal recht lange. Das menschliche Gedächtnis lässt im Lauf der Zeit nach. In der Erinnerung von Zeugen entstehen Lücken, die sie nicht mehr schließen können. Wenn sich ein Zeuge an das, was er wahrgenommen hat, aber nicht mehr erinnert, ist seine Aussage wertlos. Sie kann das Gericht nicht überzeugen.
Ganz wichtig: Eine Beweiswürdigung kann nie zu Gunsten des Arbeitgebers ausgehen, wenn er seine Darlegungs- und Beweislast nicht erfüllt. Grundsätzlich ist es auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren so, dass derjenige für behauptete Tatsachen die Darlegungs- und Beweislast trägt, der von diesen Tatsachen profitiert. Wer einen Anspruch oder ein Recht hat oder meint, einen Anspruch oder ein Recht zu haben, muss für diesen Anspruch/für dieses Recht die so genannten anspruchsbegründenden Tatsachen darlegen und unter Beweis stellen. Im Kündigungsschutzprozess ist zudem die Beweislastregel des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG zu beachten:
"Der Arbeitgeber hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen."
Kann der Arbeitgeber die Kündigungstatsachen nicht beweisen, kann das Gericht bei seiner Beweiswürdigung nicht zu einem für den Arbeitgeber positiven Ergebnis kommen. Konsequenz: der Arbeitgeber verliert den Kündigungsschutzprozess.
Beispiel:
Arbeitnehmer N möchte von Arbeitgeber A drei Tage Urlaub haben. A verweigert den Urlaub, weil ein wichtiger Auftrag fertig werden muss. N meldet sich am Morgen des ersten nicht gewährten Urlaubstags arbeitsunfähig krank. Auch für die beiden anderen Tage zeigt er eine krankheitsbedingte Arbeitsversäumnis an, legt im Nachhinein aber keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung(en) vor. A wusste, dass N seiner Schwester beim Umzug helfen wollte und kündigt wegen unentschuldigten Fehlens. A benennt N's Schwester und einen Arbeitskollegen N's als Zeugen. N's Schwester macht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. N's Kollege sagt, er sei am ersten angeblichen Krankheitstag am Haus von N's Schwester vorbeigefahren, habe dort auch mehrere Helfer gesehen, aber nicht den N. Das Arbeitsgericht wird diese "Beweise" nicht zu A's Gunsten würdigen. Das Arbeitsgericht wird feststellen, dass A beweisfällig geblieben ist, und N's Kündigungsschutzklage stattgeben.
Die Beweiswürdigung erfolgt nicht schematisch streng. Gerade wenn es darum geht, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu beurteilen, gibt es eine ganze Bandbreite zwischen den Extremen völlig glaubwürdig und völlig unglaubwürdig. Wer nervös und schwitzend im Zeugenstuhl vor dem Richtertisch sitzt, sagt nicht zwingend die Unwahrheit. Es ist durchaus möglich, dass dies die Stresssymptome eines grundehrlichen Menschens sind, der nie lügen würde, sondern nur unter der besonderen Anspannung leidet, vor Gericht zu sitzen und unter den Augen fremder Menschen in der Öffentlichkeit etwas sagen zu müssen.
In Urteilen findet man oft den Satz "Dazu hat der/die Beklagte nichts vorgetragen." Gemeint ist: Hier fehlt eine streitentscheidende Tatsache. Hätte der beklagte Arbeitgeber diese Tatsache vorgetragen, hätte sie das Gericht berücksichtigen müssen - und wäre dann zu einer für den Arbeitgeber positiven Entscheidung gekommen.
Beispiel:
Arbeitgeber A hat Mitarbeiter M wegen dessen entzogener Fahrerlaubnis gekündigt. Der Entzug einer Fahrerlaubnis ist kein absoluter Kündigungsgrund. Der Arbeitgeber muss darlegen (= vortragen), dass er für den Arbeitnehmer, der seine Lizenz zum Fahren verloren hat, keinen Beschäftigungsbedarf mehr hat. Behauptet er im Kündigungsschutzprozess nur, dass M für längere Zeit die Fahrerlaubnis entzogen wurde, reicht das nicht aus. A wird dann im Urteil den Satz lesen: "Dafür, dass es dem Beklagten unzumutbar ist, den Kläger auf einem anderen Arbeitsplatz weiter zu beschäftigen, hat er nichts vorgetragen." Damit geht der Kündigungsschutzprozess für ihn verloren.
Praxistipp:
Das Arbeitsgericht ist neutral. Es darf den Parteien keine Prozesshilfe leisten. Gerade dann, wenn beide Parteien anwaltlich vertreten werden, sind Gerichte mit Hinweisen an die Parteien eher zurückhaltend. Auf der anderen Seite weiß ein erfahrener Prozessbevollmächtigter, was er vortragen und unter Beweis stellen muss, wenn er im Kündigungsschutzprozess die besseren Karten haben will. Wer die Voraussetzungen einer KSchG-Kündigung sorgfältig an den einschlägigen Stichwörtern des Arbeitsrechtslexikons der Personalpraxis24 abarbeitet, wird in einem Kündigungsschutzprozess kaum Überraschungen erleben.
Ein weiteres Problem bei der Beweiswürdigung sind Lücken im Sachvortrag. Erkennt das Gericht, dass es zu bestimmten Punkten, die notwendig geklärt sein müssen, keinen Vortrag des Arbeitgebers gibt, muss es den Schluss ziehen, dass es hier gar keine Tatsachen gibt, die für den Arbeitgeber sprechen.
Beispiel:
Arbeitgeber A hat Arbeitnehmer N zum 31.12. betriebsbedingt gekündigt. N wehrt sich gegen die Kündigung mit einer Kündigungsschutzklage. A lässt über seinen Anwalt auf die Klage erwidern. Der trägt sorgfältig die außerbetrieblichen Ursachen der Kündigung vor und legt auch den Weg der unternehmerischen Entscheidung A's dar. Gleiches macht er für den dadurch für N entstandenen Fortfall des Beschäftigungsbedarfs. Zur Sozialauswahl sagen A und sein Anwalt nichts, obwohl N die Richtigkeit der sozialen Auswahl gleich in der Klageschrift beanstandet hatte. Das Gericht kann nun erkennen, dass es zu der Sozialauswahl von Seiten A's vielleicht auch gar nichts zu erwidern gibt (weil er die sozialen Gesichtspunkte eben halt doch nicht beachtet hat). Das Gericht wird diese Lücke im Sachvortrag sehen und zu N's Gunsten werten. Zudem läuft A Gefahr, dass sein fehlender Sachvortrag als Nichtbestreiten i.S.d. § 138 ZPO gewertet wird. Die von N behauptete Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl gilt dann sogar als zugestanden.
Unterm Strich heißt freie Beweiswürdigung zwar nicht Willkür, das Gericht hat aber in dem durch § 286 Abs. 1 ZPO vorgezeichneten Rahmen einen großen Spielraum. Keine Partei kann sich darauf verlassen, dass ein Arbeitsgericht die Frage, ob etwas wahr ist oder nicht, genauso einschätzt und beantwortet wie sie selbst. Darin liegt eine prozessuale Unsicherheit, mit der Kläger und Beklagter leben müssen. Es gibt für die Beweiswürdigung eben keine mathematische Formel, die eine absolute Sicherheit zulässt.
4. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema Kündigungsschutzprozess und Beweiswürdigung in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet hinterlegt:
4.1 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
"1. Aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz kommt einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert zu. Der Arbeitgeber kann diesen daher nicht durch einfaches Bestreiten mit Nichtwissen erschüttern, sondern nur indem er Umstände vorträgt und im Bestreitensfall beweist, die ernsthafte Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen. (...) 2. Ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung können sich daraus ergeben, dass eine am Folgetag der Eigenkündigung des Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt. Das gilt auch dann, wenn die gesamte Dauer der verbliebenen Kündigungsfrist durch eine Erst- und mehrere Folgebescheinigungen abgedeckt werden" (ArbG Neumünster, 23.09.2022 - 1 Ca 20b/22 - im Anschluss an BAG, 08.09.2021- 5 AZR 149/21).
4.2 Auflösungsantrag
Dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess unterschiedliche Rechtsansichten haben, liegt in der Natur der Sache. Dass sie auch unterschiedliche – zum Teil sich wechselseitig ausschließende – Tatsachen vortragen, ebenfalls. Dabei haben beide das Wahrheitsgebot aus § 138 ZPO zu beachten. Trägt ein Arbeitnehmer im Kündigungsrechtsstreit bewusst wahrheitswidrig vor, weil er Angst hat, mit der Wahrheit entsprechenden Angaben den Prozess zu verlieren, ist das ein Umstand, der dazu geeignet ist, einen Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG zu tragen (s. dazu BAG, 24.05.2018 – 2 AZR 73/18). Auch mögliche vorgerichtliche Lügen befreien den Arbeitnehmer nicht "von der ihm im Rechtsstreit gemäß § 241 Abs. 2 BGB, § 138 Abs. 1 ZPO obliegenden Pflicht .., wahrheitsgemäß vorzutragen" (BAG, 16.12.2021 – 2 AZR 356/21 – mit Hinweis auf BAG, 24.05.2018 – 2 AZR 73/18).
4.3 Benachteiligungsvermutung (AGG) - 1
Hat der angeblich diskriminierte Arbeitnehmer Indiztatsachen bewiesen, die seine Benachteiligung wegen eines AGG-Merkmals vermuten lassen, trägt der Arbeitgeber nach § 22 AGG die Beweislast dafür, "dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat." Für die Beantwortung der Frage, ob die vom Arbeitgeber vorgebrachten Tatsachen den Schluss zulassen, es liegt kein AGG-Verstoß vor, gilt ebenfalls der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO (BAG, 22.08.2013 - 8 AZR 563/12).
4.4 Benachteiligungsvermutung (AGG) - 2
Nach § 22 AGG reicht es im Rahmen des AGG-Rechtsschutzes aus, dass der - angeblich - benachteiligte Arbeitnehmer zunächst nur die "Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals vermuten lassen". Dabei ist die Beweiskraft der vom Arbeitnehmer präsentierten Beweismittel trotz der EU-Vorgaben zum Diskriminierungsschutz nach den Regeln des innerstaatlichen Rechts zu beurteilen. Für die Beweiswürdigung ist in Fällen des mit § 22 AGG abgesenkten Beweismaßes ebenfalls die freie Überzeugung des Tatsachengerichts nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO maßgeblich. So reicht es hier, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit die Benachteiligung wegen eines Merkmals aus § 1 AGG vermuten lässt (BAG, 26.06.2014 - 8 AZR 547/13).
4.5 Beweiserhebung
Auch wenn das Tatsachengericht in der Beweiswürdigung nach § 286 ZPO frei ist: in der Beweiserhebung ist es das nicht. Wenn zwischen den Parteien eine entscheidungserhebliche Tatsache streitig ist, muss der Tatsachenrichter dafür die angebotenen Beweise erheben. Erheblich ist ein vom Kläger behaupteter Sachverhalt, "wenn er in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet ist, das mit der Klage geltend gemachte Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen zu lassen." Dabei bleibt es dem Tatrichter unbenommen, "bei der Beweisaufnahme die Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach Einzelheiten zu fragen, die für die Beurteilung der Zuverlässigkeit der Bekundung erforderlich erscheinen, insbesondere nach Ort, Zeit und Umständen der behaupteten Vorkommnisse" (BAG, 12.04.2011 - 9 AZR 36/10).
4.6 Beweisrüge
Rügt der Rechtsmittelführer eine unterlassene Beweiserhebung, muss er in seiner Rechtsmittelbegründung angeben, über welches Thema das Gericht hätte den Beweis erheben müssen, wo konkret das entsprechende Beweisangebot gemacht wurde, welches Ergebnis die Beweisaufnahme voraussichtlich gehabt hätte und weshalb die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensfehler beruhen kann (BAG, 13.02.2013 - 7 ABR 36/11).
4.7 Beweisvereitelung
Das Gericht kann bei der Beweiswürdigung "auch die prozessualen und vorprozessualen Handlungen, Erklärungen und Unterlassungen der Parteien und ihrer Vertreter" einbeziehen. Weigert sich der Kläger, seine Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden und macht er damit dem beklagten beweispflichtigen Arbeitgeber die Beweisführung unmöglich, kann das im Rahmen der Beweiswürdigung als Beweisvereitelung zu würdigen sein. Eine Beweisvereitelung führt allerdings nicht gleich dazu, dass das Vorbringen der anderen Partei als zugestanden gilt. Hier kommen aber Beweiserleichterungen bis hin zu einer Umkehr der Beweislast in Betracht, "wenn dem Beweispflichtigen die volle Beweislast billigerweise nicht mehr zugemutet werden kann" (BAG, 08.05.2014 - 2 AZR 75/13 - mit dem Hinweis, dass beweisrechtliche Konsequenzen unter Würdigung aller Einzelfallumstände zu beurteilen sind).
4.8 Beweisverwertungsverbot - 1
Hat der beklagte Arbeitgeber dadurch Beweismittel gewonnen, dass er während einer Abwesenheit des Arbeitnehmers heimlich dessen Spind untersuchte, ist die Verwertung dieser widerrechtlich erlangten Beweismittel im Kündigungsschutzprozess ausgeschlossen. "Dies folgt - sofern sich ein entsprechendes Verbot nicht bereits unmittelbar aus § 32 BDSG ergibt - daraus, dass mit der prozessualen Verwertung der Beweismittel durch Beweiserhebung ein - erneuter bzw. fortgesetzter - Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des .. [gekündigten Arbeitnehmers] einherginge, ohne dass [hier] ein solcher Eingriff durch überwiegende Interessen ... [des Arbeitgebers] gerechtfertigt wäre. Das Verwertungsvebot impliziert ein Erhebungsverbot und schließt es aus, Personen, die die Schrankontrolle selbst durchgeführt haben oder zu ihr hinzugezogen wurden, als Zeugen zu vernehmen" (BAG, 20.06.2013 - 2 AZR 546/12).
4.9 Beweisverwertungsverbot - 2
Die Verletzung des durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts einer Partei (s. dazu auch Art. 8 Abs. 1 EMRK) kann in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren wegen der Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung des Prozessrechts - etwa der § 138 Abs. 3, § 286, § 331 Abs. 1 Satz 1 ZPO - zu einem Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot führen. Das Arbeitsgericht muss aufgrund seiner aus Art. 1 Abs. 3 GG resultierenden Bindung an die Grundrechte und seiner Verpflichtung zur rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung (s. dazu BVerfG, 13.02.2007 - 1 BvR 421/05) prüfen, "ob die Verwertung von heimlich beschafften persönlichen Daten und Erkenntnissen, die sich aus diesen Daten ergeben, mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen vereinbar ist" (s. dazu BAG, 20.10.2016 - 2 AZR 395/15; BAG, 22.09.2016 - 2 AZR 848/15 und BGH, 15.05.2013 - XII ZB 107/08). "Das Grundrecht schützt neben der Privat- und Intimsphäre und seiner speziellen Ausprägung als Recht am eigenen Bild auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das die Befugnis garantiert, selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu befinden" (BAG, 29.06.2017 - 2 AZR 597/16 - mit Hinweis auf BVerfG, 11.03.2008 - 1 BvR 2074/05 u. BVerfG, 15.12.1983 - 1 BvR 209/83; in einem Fall, in dem der Arbeitgeber seinen angeblich erkrankten, aber trotzdem eine Konkurrenztätigkeit ausübenden Mitarbeiter, heimlich durch einen Detektiv überwachen ließ).
4.10 Bindungswirkung
Kommt das Landesarbeitsgericht nach der Beweisaufnahme zu der Feststellung, dass die Behauptungen des Klägers unzutreffend sind, ist diese Feststellung das Ergebnis der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO. Erhebt der Kläger gegen diese zweitinstanzliche Beweiswürdigung keine Verfahrensrüge nach § 550 Abs. 2 ZPO, sind die getroffenen Feststellungen für das Revisionsgericht bindend (BAG, 14.12.2010 - 9 AZR 680/09).
4.11 Ergebnis der Beweisaufnahme
Prüft das Revisionsgericht, ob der Tatrichter bei seiner Beweiswürdigung die Vorgaben und Grenzen des § 286 ZPO eingehalten hat, musss er u.a. darauf abstellen, ob das zweitsinstanzliche Gericht den gesamten Verhandlungsinhalt berücksichtigt und alle erhobenen Beweise gewürdigt hat. Die Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme verlangt keine "Würdigung jeder einzelnen Ausführung eines Sachverständigen oder Zeugen." Es reicht schon aus, wenn das Berufungsgericht "insgesamt widerspruchsfrei und umfassend hinsichtlich aller wesentlichen Aspekte zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung genommen hat" (BAG, 19.04.2012 - 2 AZR 186/11).
4.12 Erklärungslast
Die Erklärungslast richtet sich gemäß § 138 Abs. 2 ZPO grundsätzlich nach dem Vortrag der darlegungspflichtigen Partei (s. dazu BGH, 04.04.2014 - V ZR 275/12). Steht die darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufs und fehlt ihr die Kenntnis der maßgebenden Tatsachen (hier: Aushändigung eines Kündigungsschreibens durch Mitarbeiter einer JVA), kann etwas anderes gelten, wenn der Prozessgegner diese Kenntnis hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind (s. dazu BGH, 14.06.2005 - VI ZR 179/04). Dann kann vom Prozessgegner verlangt werden, dass er im Rahmen des Zumutbaren die behaupteten Tatsachen substanziiert bestreitet und ihr widersprechende Tatsachen und Umstände darlegt (s. dazu BGH, 17.01.2008 - III ZR 239/06). "Genügt er dem - ggf. nach richterlichem Hinweis gem. § 139 Abs. 2 ZPO - nicht, ist der gegnerische Vortrag gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen" (BAG, 24.05.2018 - 2 AZR 72/18).
4.13 Erwiesene Tatsache
"Gemäß § 286 Abs. 1 ZPO ist Ziel der umfassenden Beweiswürdigung die Beantwortung der Frage, ob eine streitige Behauptung als erwiesen angesehen werden kann, d.h. ob das Gericht von der Wahrheit der behaupteten Tatsache überzeugt ist. Dies ist der Fall, wenn eine Gewissheit besteht, die Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie letztendlich vollständig ausschließen zu können. Weniger als Überzeugung von der Wahrheit reicht für das Bewiesensein dabei nicht aus. Ein bloßes Glauben, Wähnen, für wahrscheinlich Halten berechtigt den Richter nicht zur Bejahung des streitigen Tatbestandsmerkmals. Mehr als subjektive Überzeugung ist jedoch letztendlich nicht gefordert. Absolute Gewissheit ist nicht zu verlangen" (LAG Rheinland-Pfalz, 24.05.2012 - 11 Sa 50/12).
4.14 Fehlende Erklärung
Die Stadt D hatte das Anstellungsverhältnis von L, Leiter ihres Gesundheitsamts, wegen des Vorwurfs, anstelle seiner Ehefrau Notdienste geleistet zu haben, ordentlich gekündigt. L's Frau war selbst Ärztin und hatte mit D eine Honorarvereinbarung für von ihr zu leistende Notdienste getroffen, von denen sie einige nicht selbst geleistet, aber gegenüber D als selbst geleistet abgerechnet hatte. Bei seiner Anhörung vor der Kündigung räumte L gegenüber D ein, dass er tatsächlich einige der von seiner Frau abgerechneten Notdienste gemacht habe. Im Kündigungsschutzprozess hat L die Vorwürfe zwar nicht ausdrücklich eingeräumt, ist D's Vortrag zu den Vorwüfen aber auch nicht konkret entgegengetreten. Das hätte er gemäß § 138 ZPO allerdings tun müssen, wenn er den Sachverhalt vor Gericht streitig machen wollte (ArbG Düsseldorf, 28.01.2022 - 11 Ca 4335/21).
4.15 Fragerecht der Parteien
Die Parteien sind nach § 397 Abs. 1 ZPO berechtigt, "dem Zeugen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache oder der Verhältnisse des Zeugen für dienlich erachten." Der Vorsitzende kann den Parteien und deren Anwälten nach § 397 Abs. 2 ZPO zudem auf Verlangen zu gestatten, "an den Zeugen unmittelbar Fragen zu richten." § 397 ZPO gibt den Parteien aber kein uneingeschränktes Fragerecht. Die Befragung von Zeugen dient dazu, das Beweismittel auszuschöpfen - und das setzt dem Fragerecht Grenzen: "Unzulässig sind deshalb z.B. Fragen, die mit dem Beweisthema nichts zu tun haben, Ausforschungsfragen, unzulässige Fragen i.S.v. § 383 Abs. 3, § 376 ZPO und Suggestivfragen." Auch Fragen, die der Zeuge bereits beantwortet hat, oder ersichtlich abwegige Fragen sind unzulässig (BAG, 26.01.2017 - 8 AZN 872/16).
4.16 Freie richterliche Beweiswürdigung - 1
Die Tatsachengerichte - Arbeits- und Landesarbeitsgericht - entscheiden gem. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO "nach freier Überzeugung", "ob eine tatsächliche Behauptung für oder nicht für wahr zu erachten sei." Das Revisionsgericht - Bundesarbeitsgericht - kann die freie richterliche Beweiswürdigung nur beschränkt überprüfen. Nämlich danach, ob sich das Tatsachengericht umfassend und widerspruchsfrei mit dem Prozessstoff auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und kein Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze vorliegt. Zudem gilt: "Der Angriff gegen die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts bedarf einer Verfahrensrüge" (BAG, 16.01.2018 - 7 AZR 312/16 - mit Hinweis auf BAG, 20.08.2014 - 7 AZR 924/12 u. BAG, 16.01.2008 - 7 AZR 603/06).
4.17 Freie richterliche Beweiswürdigung - 2
Die Tatsacheninstanzen müssen nach § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung entscheiden, ob sie eine Tatsache für wahr oder nicht wahr halten. Mögliche Zweifel müssen sie überwinden, obwohl sie sie nicht komplett ausschließen können. Es genügt daher, wenn ein für das praktische Leben brauchbarer Gewissheitsgrad erreicht ist, "der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen" (s. dazu BAG, 16.07.2015 - 2 AZR 85/15 u. BGH, 18.10.2017 - VIII ZR 32/16). Bei einem Indizienbeweis hat das Tatsachengericht zu prüfen, ob die behaupteten Hilfstatsachen, wenn man deren Richtigkeit unterstellt, es von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen. "Dabei sind die Tatsacheninstanzen grundsätzlich frei darin, welche Beweiskraft sie den behaupteten Indiztatsachen im Einzelnen und in einer Gesamtschau beimessen" (BAG, 25.04.2018 - 2 AZR 611/17).
4.18 Gebot fairen Verfahrens
Aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt das "Gebot fairer Verfahrensgestaltung". Ein gerichtliches Verfahren muss danach so angelegt werden, wie es die Parteien eines Zivilprozesses von einem Gericht erwarten dürfen. Das Gebot fairer Verfahrensgestaltung verbietet u.a. widersprüchliche Verhaltensweisen des Gerichts. Zudem darf ein Gericht nicht aus Fehlern, die es entweder selbst gemacht hat oder die ihm zuzurechnen sind, nachteilige Folgen herleiten. Schließlich ist es ganz allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (s. dazu BVerfG, 18.07.2013 - 1 BvR 1623/11). "Der Zugang zu den Gerichten und zu den Rechtsmittelinstanzen darf durch die Auslegung des Prozessrechts nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden" (BAG, 22.03.2018 - 8 AZR 779/16 - mit Hinweis auf BVerfG, 26.07.2007 - 1 BvR 602/07).
4.19 Glaubhaftmachung
Muss der Anspruchsteller eine Tatsache nur glaubhaft machen, braucht seine Glaubhaftmachung dem Richter nicht die volle Überzeugung i.S.d. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu vermitteln. Hier reicht ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit - die "überwiegende Wahrscheinlichkeit" - aus. Sie lässt sich bejahen, "wenn bei umfassender Würdigung der Umstände des Einzelfalls mehr für als gegen die Behauptung spricht". Die Würdigung der Glaubhaftmachung ist Aufgabe des Tatrichters - seine Beweiswürdigung kann revisions- oder beschwerdegerichtlich nur auf Rechtsfehler hin überprüft werden (BAG, 25.04.2013 - 6 AZR 49/12 - mit dem Hinweis, dass für die Glaubhaftmachung jedes Beweismittel in Frage kommt, einschließlich einer eidesstattlichen Versicherung).
4.20 Indizienbeweis - 1
Der Tatrichter ist bei einem auf Indiztatsachen gestützten Beweis in der Beurteilung, welche Beweiskraft er den Indizien im Einzelnen und in der Gesamtschau für seine Überzeugungsbildung beimisst, grundsätzlich frei. "Er stellt die den Indizien zukommenden Wahrscheinlichkeitsgrade und somit die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen fest." Abgesehen von allgemeinen Beweisverwertungsverboten unterliegt der Tatrichter bei der Berücksichtigung von Tatsachen, die eine häufigere Wahrscheinlichkeit für die eigentlich zu beweisende Haupttatsache aufweisen und damit eine Indizwirkung haben können, keinen rechtlichen Einschränkungen (BAG, 15.01.2013 - 3 AZR 169/10 - mit Hinweis auf BGH, 13.07.2004 - VI ZR 136/03).
4.21 Indizienbeweis - 2
"Soll ein Vortrag mittels Indizien bewiesen werden, hat das Gericht zu prüfen, ob es die vorgetragenen Hilfstatsachen - deren Richtigkeit unterstellt - von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen. Es hat die insoweit maßgebenden Umstände vollständig und verfahrensrechtlich einwandfrei zu ermitteln und alle Beweisanzeichen erschöpfend zu würdigen. Dabei sind die Tatsacheninstanzen grundsätzlich frei darin, welche Beweiskraft sie den behaupteten Indiztatsachen im Einzelnen und in einer Gesamtschau beimessen. Revisionsrechtlich ist ihre Würdigung allein daraufhin zu überprüfen, ob alle Umstände vollständig berücksichtigt und Denk- und Erfahrungsgrundsätze nicht verletzt wurden. Um diese Überprüfung zu ermöglichen, haben sie nach § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO die wesentlichen Grundlagen ihrer Überzeugungsbildung nachvollziehbar darzulegen" (BAG, 11.06.2020 – 2 AZR 442/19 – mit Hinweis auf BAG, 25.04.2018 - 2 AZR 611/17; BAG, 21.09.2017 - 2 AZR 57/17 u. BAG, 16.07.2015 - 2 AZR 85/15).
4.22 Indizienbeweis - 3
Ist eine beschlossene und durchgeführte unternehmerische Organisationsentscheidung zu beurteilen, kann zunächst vermutet werden, dass sie nicht rechtsmissbräuchlich, sondern aus sachlichen – in der Regel wirtschaftlichen – Gründen getroffen wurde. Hält der gekündigte Mitarbeiter die getroffene Organisationsmaßnahme für offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich, trägt er im Prozess für die Umstände, die seine Ansicht stützen sollen, die Darlegungs- und Beweislast. Wenn er dazu Indizien vorträgt, müssen die Arbeitsgerichte prüfen, ob diese Indizien "in ihrer Gesamtschau, ggf. im Zusammenhang mit dem übrigen Prozessstoff auf das Vorliegen von Rechtsmissbrauch schließen lassen." Ist das so und hat der Arbeitgeber die Indiztatsachen bestritten, muss das Arbeitsgericht gem. § 138 ZPO die vom Arbeitnehmer angetretenen Beweise erheben. Dabei muss das Gericht über § 286 Abs. 1 ZPO die Ergebnisse der Beweisaufnahme unter Beachtung der den Arbeitnehmer treffenden objektiven Beweislast würdigen. Wobei das Tatsachengericht grundsätzlich frei darin ist, "welche Beweiskraft es den – unstreitigen oder bewiesenen – Indizien im Einzelnen und in der Gesamtschau für seine Überzeugungsbildung beimisst" (BAG, 15.06.2021 – 9 AZR 217/20 – mit Hinweis auf BAG, 24.09.2015 – 2 AZR 562/14 u. BAG, 18.06.2015 – 2 AZR 480/14).
4.23 Modifizierter Sachvortrag
Das Gericht muss seine Feststellungen unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung treffen. Dabei muss es im Rahmen der Beweiswürdigung auch den Umstand berücksichtigen, dass eine Partei ihr Vorbringen im Prozessverlauf modifiziert. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung können sich "aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertungen dann ergeben, wenn das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Die Bindung des Berufungsgerichts an die erstinstanzlichen Feststellungen entfällt auch dann, wenn die Beweiswürdigung der ersten Instanz nicht den Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO genügt, weil sie unvollständig, in sich widersprüchlich oder gegen Denk- und Erfahrungsgesetze verstößt" (LAG Niedersachsen, 06.12.2013 - 6 Sa 391/13).
4.24 Revisionsgerichtliche Nachprüfung
Das Revisionsgericht kann die vom Tatsachengericht nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorgenommene Beweiswürdigung nur einschränkt kontrollieren. Es braucht nur zu prüfen, ob das zweitinstanzliche Gericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung die in § 286 ZPO gesetzten Grenzen und Vorgaben beachtet hat. Dabei hat es sein Augenmerk darauf zu richten, dass die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts "in sich widerspruchsfrei, ohne Verletzung von Denkgesetzen sowie allgemeinen Erfahrungssätzen erfolgt und rechtlich möglich" ist (BAG, 08.05.2014 - 2 AZR 1005/12).
4.25 Subjektive Voraussetzungen
Sind subjektive Beweggründe zu beweisen (in diesem Fall die Voraussetzungen einer InsO-Vorsatzanfechtung), unterliegt deren Feststellung auch der freien Beweiswürdigung des Tatsachengerichts. Diese Beweiswürdigung ist vom Revisionsgericht nur beschränkt zu überprüfen. "Die revisionsrechtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO mit dem Prozessstoff umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung als vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt" (BAG, 27.03.2014 - 6 AZR 989/12 - mit Hinweis auf BGH, 07.11.2013 - IX ZR 49/13).
4.26 Tatbestandsberichtigung
Das Berufungsgericht trifft mit der Feststellung des unstreitigen Beteiligtenvorbringens auch dann eine tatbestandliche Feststellung, wenn die Feststellung im tatbestandlichen Teil des Beschlusses nicht enthalten ist (s. dazu BAG, 26.02.1987 – 2 AZR 177/86 u. BGH, 16.12.2010 – I ZR 161/08). Tatbestandliche Feststellungen liefern den Beweis für das mündliche Beteiligtenvorbringen (§ 314 ZPO). Dabei erstreckt sich die Beweiswirkung auch darauf, "ob eine bestimmte Behauptung bestritten ist oder nicht" (so: BGH, 16.05.2019 – III ZR 176/18). Steht die tatbestandliche Feststellung im Widerspruch zum Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze, geht erstere vor (s. dazu BAG, 19.07.2016 – 2 AZR 468/15). "Die Unrichtigkeit tatbestandlicher Feststellungen kann grundsätzlich nur mit einem Tatbestandsberichtigungsantrag nach § 320 ZPO geltend gemacht werden" (s. dazu BAG, 13.11.2019 – 4 ABR 3/19; BAG, 08.11.2016 – 1 ABR 64/14; BAG, 19.07.2016 – 2 AZR 468/15 u. BGH, 16.05.2019 – III ZR 176/18). Ist ein Tatbestandsberichtigungsantrag ausgeschlossen, "weil die Entscheidung erst nach Ablauf von drei Monaten nach der Verkündung (§ 320 Abs. 2 Satz 3 ZPO) zugestellt worden ist, kann die fehlerhafte Tatsachenfeststellung mit einer Verfahrensrüge geltend gemacht werden" (BAG, 26.05.2021 – 7 ABR 17/20 – mit Verweisen auf BAG, 11.06.1963 – 4 AZR 180/62; BAG, 14.11.1958 – 1 ABR 4/58; BAG, 03.05.1957 – 1 AZR 563/55 u. BGH, 25.01.1960 – II ZR 22/59).
4.27 Überzeugungsgrad
Die Bildung der richterlichen Überzeugung ist bisweilen eine Gratwanderung zwischen der Überzeugung des Zeugen im Hinblick auf die von ihm bekundeten Tatsachen und der Überzeugung des Tatrichters i.S.d. § 286 ZPO von der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage. Auf die freie Überzeugung des Tatrichters kommt es nur in den Punkten Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit an. Für seine freie Überzeugung ist "keine absolute oder unumstößliche Gewissheit erforderlich, da eine solche nicht zu erreichen ist." Insoweit darf der Tatrichter nicht darauf abstellen, ob jeder Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausgeschlossen sind. Es genügt, dass ein für das praktische Leben ausreichender Grad an Gewissheit besteht, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BAG, 28.06.2012 - 6 AZR 682/10).
4.28 Verstoß gegen Denkgesetze
Die Beweiswürdigung des Tatrichters ist u.a. dann fehlerhaft, wenn sie gegen Denkgesetze verstößt. Kommt es auf die Wortwahl in einer Tarifbestimmung an, ist es nicht denknotwendig, dass ein und dasselbe Wort auch immer dasselbe bedeuten muss. Genauso wenig ist es denknotwendig, dass unterschiedliche Worte immer eine unterschiedliche Bedeutung haben müssen. Es gibt keinen darauf zielenden Erfahrungssatz (BAG, 13.06.2012 - 10 AZR 175/11).
4.29 Verwertungsverbot - 1
Der vereinfachte Fall: Arbeitgeber A hatte eine rechtmäßige offene Video-Überwachung im Kassenbereich seines Tabak-, Lotto- und Zeitschriftenshops installiert. Anlass: Vorbeugung von Kunden- und Mitarbeiter-Straftaten. Im 3. Quartal 2016 stellte A einen Fehlbestand an Tabakwaren fest. Im August 2016 wertete A die Aufnahmen aus und stellte dabei fest, dass Kassiererin K im Februar 2016 vereinnahmte Gelder nicht in die Kasse gelegt hatte. A kündigte fristlos. K meinte, A hätte die Aufnahmen unverzüglich, jedenfalls vor August 2016 löschen müssen. Jetzt seien sie nicht mehr verwertbar.
Die Vorinstanzen hatten K's Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das BAG war anderer Meinung. Solange die Ahndung einer arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung durch den Arbeitgeber noch möglich ist, wird die Speicherung einer rechtmäßig hergestellten Aufnahme, die den Arbeitnehmer bei dieser Pflichtverletzung - hier: vorsätzliches Eigentumsdelikt zu Lasten des Arbeitgebers - zeigt, nicht allein durch Zeitablauf unverhältnismäßig. Insoweit besteht kein Verwertungsverbot. Bei rechtmäßiger offener Video-Überwachung ist die Verarbeitung und Nutzung der einschlägigen Bildsequenzen nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG a.F. (= § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG n.F.) zulässig. Die Datenverarbeitung verletzt nicht das durch Art. 2 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers (BAG, 23.08.2018 - 2 AZR 133/18 - mit dem Hinweis, dass der Arbeitgeber mit der Auswertung des Bildmaterials so lange warten durfte, bis er dafür einen berechtigten Anlass sah).
4.30 Verwertungsverbot - 2
In einem Kündigungsschutzverfahren tritt kein Verwertungsverbot zugunsten des Arbeitnehmers ein, wenn der Arbeitgeber das fragliche Beweismittel oder die maßgebliche Erkenntnis im Einklang mit den einschlägigen Datenschutzbestimmungen erlangt und weiterverwandt hat (s. dazu BAG, 23.08.2018 - 2 AZR 133/18). Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung muss sich, wenn ein Verwertungsverbot bejaht werden soll, das Nichtverwertungsinteresse des Arbeitnehmers gegenüber dem Verarbeitungsinteresse des Arbeitgebers durchsetzen. Die Einsichtnahme in nicht als "privat" gekennzeichnete Dateien und nicht offenkundig als "privat" zu erkennende Dateien auf dem Dienstrechner eines Arbeitnehmers (hier: Datei Tankbelege.xls bei einem Verdacht auf Tankkartenmissbrauch) ist nicht so eingriffsintensiv, daraus ein überwiegendes Nichtverwertungsinteresse des Mitarbeiters zu folgern (BAG, 31.01.2019 - 2 AZR 426/18 - mit dem Ergebnis, dass hier kein Verwertungsverbot bestand).
4.31 Zeugenbeweis
Es gibt weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen Rechtssatz mit dem Inhalt, dass einem Zeugen schon dann zu glauben ist, wenn nicht ganz gewichtige Anhaltspunkte dagegen sprechen. Auch wenn ein Zeugenbeweis nicht von vornherein schlecht ist, muss berücksichtigt werden, "dass es zahlreiche Fehlerquellen für die Ermittlung der Wahrheit durch Zeugenaussagen gibt, die 'auf der Schwäche der menschlichen Natur' beruhen." So kann das Gedächtnis eines Menschen unzuverlässig und seine Wahrnehmung mangelhaft sein. Auch kommt es vor, dass ein Zeuge durch eigene oder fremde Gedanken beeinflusst wird. Schließlich können auch die Neigung zur Eigenbewertung, Zuneigung und Abneigung Ursache dafür sein, dass der Zeuge statt der Wahrheit interessengesteuert etwas anderes sagt (LAG Köln, 28.06.2013 - 4 Sa 230/12).
4.32 Zeugnisverweigerungsrecht
§ 384 Nr. 1 ZPO gibt ein Zeugnisverweigerungsrecht "über Fragen, deren Beantwortung dem Zeugen oder einer Person, zu er in einem der im § 383 Nr. 1 bis 3 bezeichneten Verhältnisse steht [u.a. Ehe- und Lebenspartner], einen unmittelbaren vermögensrechtlichen Schaden verursachen würde". Aber: "Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 384 Nr. 1 ZPO besteht nicht hinsichtlich solcher Angaben, die der Zeuge in seinem späteren Aktivprozess in Erfüllung der ihm obliegenden Darlegungslast von sich aus wahrheitsgemäß (§ 138 Abs. 1 ZPO) vortragen müsste, und solcher Umstände, deren Vorliegen die Gegenpartei behauptet und zu denen sich der Zeuge bei entsprechendem Vortrag im Prozess gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erklären müsste" (BAG, 02.08.2017 - 9 AZB 39/17 - Leitsatz).
4.33 Zustellungsnachweis
Eine außerordentliche Kündigung kann schon daran scheitern, dass der Arbeitgeber ihren Zugang beim Arbeitnehmer nicht beweisen kann. So sagt z.B. der Einlieferungsbeleg bei einer Kündigung, die per Einwurf-Einschreiben auf den Weg gebracht wurde, nichts darüber aus, dass diese Kündigung auch tatsächlich zugegangen ist. Mit dem Beleg kann der Kündigende allenfalls beweisen, dass er die Kündigung beim Briefdienstleister abgegeben hat. "Ein Beweis des ersten Anscheins für den Zugang eines Einwurfeinschreibens kann nur angenommen werden, wenn neben dem Einlieferungsbeleg auch eine Reproduktion des Auslieferungsbelegs vorgelegt wird. Die Vorlage des bloßen Sendungsstatus ist nicht ausreichend" (LAG Baden-Württemberg, 28.07.2021 – 4 Sa 68/20 – 1. Leitsatz – im Anschluss an LAG Baden-Württemberg, 17.09.2020 – 3 Sa 38/19: Dort hat das Gericht die Auffassung vertreten: "Die Aussagekraft des Sendungsstatus reicht nicht aus, um auf ihn den Anscheinsbeweis des Zugangs der Postsendung zu gründen").
4.34 Zweitinstanzliche Beweiserhebung - 1
Die Berufungsinstanz ist zwar auch eine Tatsacheninstanz, trotzdem muss dort eine erstinstanzlich bereits durchgeführte Beweisaufnahme nicht ohne weiteres wiederholt werden. Soll das Berufungsgericht eine neue Beweisaufnahme durchführen, genügen allerdings vernünftige Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Beweisaufnahme. Diese Zweifel "können sich insbesondere aus Fehlern bei der Beweiserhebung oder -würdigung, dem Übergehen erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien oder ungenügender Sachverhaltsaufklärung ggf. einhergehend mit unterlassenen Hinweispflichten ergeben" (LAG Köln, 26.02.2010 - 11 Sa 828/09).
4.35 Zweitinstanzliche Beweiserhebung - 2
Gibt es für einen Sachverhalt die Möglichkeit unterschiedlicher Wertung, z.B. weil das Berufungsgericht das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders werten möchte, kann auch dieser Umstand Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung hervorrufen. Die Bindung des Berufungsgerichts an die erstinstanzlichen Tatsachenfeststellungen kann auch deswegen entfallen, weil es konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen von Verfahrensfehlern gibt. So ein Verfahrensfehler kann das Übergehen von Parteivortrag oder die Nichtverwertung vorgetragener Tatsachen sein (LAG Rheinland-Pfalz, 11.05.2012 - 9 Sa 676/11).