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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Kündigungsschutz - gesetzlicher
Kündigungsschutz - gesetzlicher
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.Rechtsprechungs-ABC
- 3.1
- 3.2
- 3.3
- 3.4
- 3.5
- 3.6
- 3.7
- 3.8
- 3.9
- 3.10
- 3.11
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Information
1. Allgemeines
Der Arbeitnehmer ist im Idealfall mehrfach gegen Kündigungen geschützt. Die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses kann zum einen KSchG-widrig sein. Das Arbeitsverhältnis kann zum anderen durch einen besonderen Kündigungsschutz gesichert sein. Arbeitgeber müssen vor einer erfolgreichen Kündigung alle möglichen Kündigungsbeschränkungen berücksichtigen.
Praxistipp:
Der besondere Kündigungsschutz knüpft in der Regel an eine bestimmte persönliche Eigenschaft oder an eine bestimmte Funktion an. Er greift in der Regel vom allgemeinen Kündigungsschutz unabhängig. Daher ist es zweckmäßig, vor einer Kündigung zunächst den besonderen Kündigungsschutz zu prüfen und erst danach den allgemeinen. Greift bereits der erste, kommt es auf den nachrangigen allgemeinen Kündigungsschutz gar nicht mehr an.
Der allgemeine Kündigungsschutz verlangt eine Mindestbetriebszugehörigkeit und eine Mindestbetriebsgröße. Ist das KSchG nicht anwendbar, braucht die Kündigung des Arbeitgebers nicht sozial gerechtfertigt – also betriebs-, personen- oder verhaltensbedingt – zu sein. Hier gibt es nur einen vom KSchG losgelösten Mindestschutz. Der besondere Kündigungsschutz besteht - zum Beispiel bei Betriebsräten und Schwangeren – in der Regel ab dem Zeitpunkt, in dem seine gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind – und das ohne Wartezeit.
2. Mehrfacher Kündigungsschutz
Arbeitnehmer sind im Idealfall mehrfach gegen Kündigungen geschützt:
sie haben den allgemeinen KSchG-Kündigungsschutz,
sie haben einen besonderen gesetzlichen Kündigungsschutz und
sind darüber hinaus noch individual- oder kollektivrechtlich - sei es durch einen Tarifvertrag, sei es durch eine Betriebsvereinbarung - vor Kündigungen geschützt (s. dazu auch das Stichwort Kündigung - betriebsbedingt: Unkündbarkeit).
Beispiel:
Arbeitnehmerin Maxi Mahl ist 53 Jahre alt und arbeitet seit 20 Jahren in einem Betrieb mit mehr als 100 Arbeitnehmern (= allgemeiner KSchG-Kündigungsschutz). Sie ist mit einem GdB von 50 schwerbehindert (= besonderer gesetzlicher Kündigungsschutz). Der Branchentarifvertrag schließt die ordentliche Kündigung von Mitarbeitern aus, die das 50. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen angehören (= kollektivrechtlicher Kündigungsschutz). Wäre Frau Mahl auch noch Betriebsrätin (= besonderer gesetzlicher Kündigungsschutz), hätte sie sogar einen 4-fachen Kündigungsschutz - der für ihren Arbeitgeber nur mit einem (ganz) wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB zu knacken ist.
In diesem Stichwort wird nur der gesetzliche Kündigungsschutz angesprochen. Wegen des individual- oder kollektivvertraglichen Kündigungsschutzes wird auf die Stichwörter Kündigungsschutz - arbeitsvertraglicher, Kündigungsschutz - betriebsverfassungsrechtlicher und Kündigungsschutz - tarifvertraglicher verwiesen.
2.1 Allgemeiner gesetzlicher Kündigungsschutz
KSchG-Kündigungsschutz haben Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis
in einem Betrieb mit mehr als 5/10 Arbeitnehmern (§ 23 Abs. 1 KSchG)
oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate (§ 1 Abs. 1 KSchG).
besteht. Wer den allgemeinen gesetzlichen Kündigungsschutz für sich beanspruchen will, muss also
die gesetzliche Wartezeit zurückgelegt haben (= persönlicher KSchG-Anwendungsbereich) und
in einem KSchG-Betrieb (= betrieblicher KSchG-Anwendungsbereich) beschäftigt sein.
Beide Voraussetzungen müssen zusammen erfüllt sein.
Auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen: "Der in Art. 30 GRC geregelte Schutz von Arbeitnehmern vor ungerechtfertigter Entlassung ist nach nationalem Recht für Arbeitnehmer während der gesetzlichen Wartezeit des § 1 KSchG dadurch gewährleistet, dass von den Gerichten für Arbeitssachen überprüft wird, ob die Kündigung gegen die guten Sitten verstößt (§ 138 BGB) oder ob sie Treu und Glauben (§ 242 BGB) aus Gründen verletzt, die nicht von § 1 KSchG erfasst sind" (BAG, 08.12.2011 - 6 AZN 1371/11 - dazu mehr im Stichwort Kündigungsschutz-Kleinbetrieb).
2.2 Besonderer gesetzlicher Kündigungsschutz
Der besondere gesetzliche Kündigungsschutz knüpft eher an die Eigenschaft oder Funktion eines Mitarbeiters an - kann aber, wie beim Kündigungsschutz schwerbehinderter Arbeitnehmer - auch erst nach einer gewissen (hier: 6-monatigen) Betriebszugehörigkeit entstehen. Beispiele für einen besonderen gesetzlichen Kündigungsschutz sind u.a.:
Betriebsräte und andere Betriebsverfassungsorgane (§ 15 Abs. 1 KSchG)
Datenschutzbeauftragte (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BDSG)
Elternzeit Nehmende (§ 18 BEEG)
Junge Mütter und Schwangere (§ 17 MuSchG)
Schwerbehinderte Menschen (§ 168 SGB IX)
Bei einigen Arbeitnehmergruppen, zum Beispiel betriebsverfassungsrechtlichen Mandatsträgern, gibt es sogar einen nachwirkenden Kündigungsschutz.
Ganz wichtig und neu seit dem 30.12.2016. "Die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen, die der Arbeitgeber ohne eine Beteiligung [der Schwerbehindertenvertretung] nach ... [§ 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX] ausspricht, ist unwirksam." Mit dieser Regelung - die ab dem 01.01.2018 in § 178 Abs. 2 Satz 2 des neuen SGB IX hinterlegt ist - hat der Gesetzgeber den Kündigungsschutz schwerbehinderter Arbeitnehmer durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung vom 23.12.2016 (BGBl. I 2016, S. 3234 ff. vom 29.12.2016 - Bundesteilhabegesetz (BTHG) - weiter verbessert. Die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung war bis zum 29.12.2016 keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung Schwerbehinderter.
Der besondere Kündigungsschutz greift auch in Fällen, in denen das KSchG keinen Schutz gewährt.
Beispiel:
Mitarbeiterin Carola Kindt arbeitet in einem 6-Mann/Frau-Betrieb. Sie erfährt am 06.07. von ihrem Frauenarzt, dass sie schwanger ist. Am Tag darauf teilt sie die Schwangerschaft ihrem Arbeitgeber mit. Auch wenn der bis dahin Carolas Arbeitsverhältnis ohne KSchG-Stress hätte kündigen können: Seit Mitteilung der Schwangerschaft hat Frau Kindt den besonderen MuSchG-Kündigungsschutz nach § 17 Abs. 1 MuSchG.
Der Arbeitnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen seines besonderen Kündigungsschutzes (BAG, 07.07.2011 - 2 AZR 377/10).
3. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Steller werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema allgemeiner und besonderer Kündigungsschutz in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet vorgestellt:
3.1 Ältere Arbeitnehmer
§ 41 Satz 1 SGB VI verbietet es nicht, im Rahmen einer Sozialauswahl die Möglichkeit des Bezugs einer Regelaltersrente zulasten eines rentenberechtigten Arbeitnehmers zu berücksichtigen. § 41 Satz 1 SGB VI macht bloß klar, dass eine Kündigung nicht allein schon deswegen durch Gründe in der Person eines Mitarbeiters i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt ist, weil er Anspruch auf eine Rente wegen Alters hat. Die SGB VI-Bestimmung ist eine Parallelregelung zu § 8 Abs. 1 Halbs. 1 AltTZG, der das Recht von Arbeitnehmern, Altersteilzeit in Anspruch zu nehmen, auch nicht als eine die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigende Tatsache i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG wertet. Eine § 8 Abs. 1 Halbs. 2 AltTZG entsprechende Regelung hat § 41 SGB VI nicht (BAG, 27.04.2017 - 2 AZR 67/16).
3.2 Arbeitgeberübergreifender Kündigungsschutz
Der Kündigungsschutz ist nach § 1 Abs. 2 KSchGbetriebsbezogen. Ein arbeitgeberübergreifender Kündigungsschutz kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Haben zwei oder mehr Unternehmen - wenn auch nur stillschweigend - vereinbart, einen Betrieb gemeinsam zu führen, kann von einem gemeinsamen Betrieb ausgegangen werden, wenn der Kern der Arbeitgeberfunktion im sozialen und personellen Bereich von derselben institutionellen Leitung ausgeübt wird. Die Vereinbarung muss "auf eine einheitliche Leitung für die Aufgaben gerichtet sein, die vollzogen werden müssen, um die in der organisatorischen Einheit zu verfolgenden arbeitstechnischen Zwecke erfüllen zu können" (BAG, 05.11.2009 - 2 AZR 383/08 - mit Hinweis auf BAG, 18.01.1990 - 2 AZR 355/89).
3.3 Betriebsorganisation
Der Arbeitgeber wird durch den gesetzlichen Kündigungsschutz nicht verpflichtet, eine "bestimmte betriebliche Organisationsstruktur oder einen konkreten Standort beizubehalten." Dieser Grundsatz gilt auch für einen öffentlichen Dienstherrn, und das insbesondere dann, "wenn die Organisationsentscheidung durch ein parlamentarisches Gremium oder durch die demokratisch legitimierte Verwaltung getroffen worden ist [es folgt ein Hinweis auf BVerfG 24.05.1995 - 2 BvF 1/92]." Organisationsentscheidungen des Arbeitgebers sind grundsätzlich als gegeben hinzunehmen - sie werden von den Gerichten keiner inhaltlichen Prüfung unterzogen (mit Hinweis auf BAG, 24.06.2004 - 2 AZR 208/03). Es findet lediglich eine Missbrauchskontrolle statt (BAG, 12.08.2010 - 2 AZR 558/09).
3.4 Datenschutzbeauftragter - 1
"Art. 38 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der einem bei einem Verantwortlichen oder einem Auftragsverarbeiter beschäftigten Datenschutzbeauftragten nur aus wichtigem Grund gekündigt werden kann, auch wenn die Kündigung nicht mit der Erfüllung seiner Aufgaben zusammenhängt, sofern diese Regelung die Verwirklichung der Ziele der DSGVO nicht beeinträchtigt" (EuGH, 22.06.2022 - C-534/20 - Leitsatz - Deutschland).
3.5 Datenschutzbeauftragter - 2
Das Bundesarbeitsgericht hat das im vorausgehenden Gliederungspunkt vorgestellte EuGH-Urteil beherzigt und im Nachgang festgestellt, dass der Sonderungkündigungsschutz, den das BDSG für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten normiert, sowohl mit Unions- als auch mit nationalem Verfassungsrecht in Einklang steht. § 38 Abs. 1 Satz 1 BDSG und § 6 Abs. 4 Satz 2 BDSG beeinträchtigen auch nicht die Ziele, die die EU-DSGVO vorgibt. Soweit § 6 Abs. 4 Satz 2 BDSG in die durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierte Berufsausübungsfreiheit des Arbeitgebers eingreift, ist dieser Eingriff verhältnismäßig. "Für die Wirksamkeit einer .. außerordentlichen Kündigung reicht es nicht aus, dass ein wichtiger Grund für sie 'objektiv' vorgelegen hat, wenn nur eine ordentliche Kündigung ausgesprochen wurde" (BAG, 25.08.2022 - 2 AZR 225/20 - mit Hinweis auf BAG, 23.04.1981 - 2 AZR 1112/78).
3.6 "Doppelter Kündigungsschutz"
Betriebsverfassungsrechtliche Mandatsträger haben u.a. nach § 15 Abs. 4 und Abs. 5 KSchG einen besonderen Kündigungsschutz. Ist der Mandatsträger schwerbehindert, besteht der Sonderkündigungsschutz aus § 85 SGB IX (a.F. = § 168 SGB IX n.F.) neben dem nach § 15 Abs. 4 und 5 KSchG. Das heißt, dass der Arbeitgeber vor den Kündigung des schwerbehinderten Mandatsträgers die Zustimmung des Integrationsamts benötigt. Hat das Integrationsamt nur die Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung erteilt, kann diese Zustimmung nicht über § 43 Abs. 1 SGB X in eine Zustimmung zur gleichzeitigen ordentlichen Kündigung umgedeutet werden. Eine Umdeutung nach § 43 Abs. 1 SGB X kommt nur bei einem fehlerhaften Verwaltungsakt in Betracht (BAG, 23.01.2014 - 2 AZR 372/13).
3.7 Elternzeit Nehmende - 1
§ 18 BEEG regelt den besonderen Kündigungsschutz für die Elternzeit. Der Arbeitgeber darf Elternzeit Nehmende "ab dem Zeitpunkt, von dem an Elternzeit verlangt worden ist, nicht kündigen." Der Schutz beginnt "1. frühestens acht Wochen vor Beginn der Elternzeit bis zum vollendeten dritten Lebensjahr des Kindes und 2. frühestens 14 Wochen vor Beginn einer Elternzeit zwischen dem dritten Geburtstag und dem vollendeten achten Lebensjahr des Kindes" (§ 18 Abs. 1 Satz 2 BEEG). Junge Eltern müssen ihre Elternzeit aber nicht unbedingt am Stück nehmen, sie dürfen sie auf mehrere Zeitabschnitte anlegen. Und dann? "Wird die Elternzeit gemäß § 16 Abs. 1 Satz 6, 1. Halbsatz i.V.m. § 15 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 BEEG auf mehrere Zeitabschnitte verteilt, findet der vorwirkende Kündigungsschutz des § 18 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 BEEG für jeden dieser Zeitabschnitte Anwendung" (LAG Mecklenburg-Vorpommern, 13.04.2021 – 2 Sa 300/20 – Leitsatz).
3.8 Elternzeit Nehmende - 2
Die Kündigung eines Elternzeit Nehmenden setzt die Zulässigkeitserklärung der für den Arbeitsschutz zuständigen obersten Landesbehörde oder der von ihr bestimmten Stelle voraus. Die behördliche Zustimmungserklärung ist ein Verwaltungsakt, ein Bescheid. Und für den gilt: "1. Wird der Bescheid, mit dem die zuständige Behörde eine Kündigung während der Elternzeit für zulässig erklärt hat, im Widerspruchsverfahren aufgehoben, ist die Kündigung nach § 18 Abs. 1 Satz 3 BEG unwirksam. Das gilt auch dann, wenn der die Zulässigkeitserklärung aufhebende Widerspruchsbescheid noch nicht bestandskräftig ist. 2. Eine Aussetzung des Rechtsstreits nach § 148 Abs. 1 ZPO bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den die Zulässigkeitserklärung aufhebenden Widerspruchsbescheid kommt aufgrund des arbeitsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatzes regelmäßig nicht in Betracht" (LAG Mecklenburg-Vorpommern, 11.05.2021 – 5 Sa 263/20 – Leitsätze).
3.9 Elternzeit Nehmende - 3
§ 18 Abs. 1 Satz 3 BEEG sagt, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis während der Elternzeit nicht kündigen darf. Dieser besondere Kündigungsschutz beginnt nach § 18 Abs. 1 Satz 1 BEEG ab dem Zeitpunkt, "von dem an Elternzeit verlangt worden ist". Da sich der Kündigungsschutz auf die Dauer der Elternzeit bezieht, muss er logischerweise enden, wenn die Elternzeit endet. Das heißt: "Die Elternzeit und damit das Kündigungsverbot während der Elternzeit enden, sobald eine der materiellen Voraussetzungen der Elternzeit gem. § 15 Abs. 1, 1a BEEG nachträglich wegfällt (z.B. wegen Wechsels der Betreuungsperson). Auf die Zustimmung der Arbeitgeberin kommt es nicht an. § 16 Abs. 3 Satz 1 BEEG ist nicht anwendbar" (LAG Baden-Württemberg, 17.09.2021 - 12 Sa 23/21 - Leitsätze).
3.10 Elternzeit Nehmende - 4
Elternzeit Nehmenden gibt § 18 BEEG einen besonderen Kündigungsschutz. Während der Beginn ihres Kündigungsschutzes in § 18 Abs. 1 Satz 1 u. 2 BEEG an das Elternzeitverlangen knüpft, heißt es in § 18 Abs. 1 Satz 3 BEEG für die Zeit danach nur: "Während der Elternzeit darf der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis nicht kündigen." Was bedeutet das für den Ablauf der Ausschlussfrist in § 626 Abs. 2 BGB? "Die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB ist gewahrt, wenn der Arbeitgeber im Falle von Mutterschutz oder Elternzeit die behördliche Zustimmungserklärung innerhalb der Zwei-Wochen-Frist beantragt hat, gegen die Versagung der Zulässigkeitserklärung rechtszeitig Widerspruch bzw. Klage erhoben hat und sodann die außerordentliche Kündigung unverzüglich nach Kenntnisnahme vom Wegfall des Zustimmungserfordernisses (Ende des Mutterschutzes oder der Elternzeit) ausspricht" (LAG Mecklenburg-Vorpommern, 15.03.2022 – 5 Sa 122/21 – Leitsatz).
3.11 Elternzeit Nehmende - 5
Es gibt betriebliche Entwicklungen, die sich nicht vermeiden und aufhalten lassen. Da reagiert ein Arbeitgeber unternehmerisch auf diese Herausforderungen – und am Ende fällt ein Arbeitsplatz oder gleich mehrere weg. Dann kann es passieren, dass der Arbeitsplatzabbau auch eine Mitarbeiterin trifft, die gerade in Elternzeit ist. Dann holt der Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamts für eine Änderungskündigung ein, spricht die beabsichtigte Änderungskündigung aus und sieht sich einer Änderungsschutzklage ausgesetzt. Dabei wollte er das Arbeitsverhältnis mit der gekündigten Arbeitnehmerin doch nur zu den Arbeitsbedingungen fortsetzen, die vor Zuweisung des weggefallenen Arbeitsplatzes Bestand hatten. Und das ist nicht zu beanstanden – meinten Arbeits- und Berufungsgericht (LAG Berlin-Brandenburg, 05.07.2022 – 16 Sa 1750/21 – mit dem Ergebnis, dass die Änderungskündigung wirksam war).
3.12 EU-Wahl, Bewerber und Abgeordnete
§ 3 Abs. 3 EuAbgG sagt: "Eine Kündigung oder Entlassung wegen des Erwerbs, der Annahme oder Ausübung des Mandats ist unzulässig. Im Übrigen ist eine Kündigung nur aus wichtigem Grunde zulässig. Der Kündigungsschutz beginnt mit der Aufstellung des Bewerbers durch das dafür zuständige Organ des Wahlvorschlagsberechtigten. Er gilt ein Jahr nach Beendigung des Mandats fort." Betrifft das auch erfolglose Wahlbewerber? Das BAG meint nein: "Nach § 3 Abs. 3 Sätze 2 bis 4 EuAbgG besteht kein nachwirkender Kündigungsschutz für Wahlbewerber, die kein Mandat im Europäischen Parlament erlangt haben" (BAG, 18.05.2017 - 2 AZR 79/16 - Leitsatz).
3.13 Gleichbehandlung Arbeitnehmer/Beamte
"1. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG … ist … dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, mit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen Arbeitnehmern mit bestimmten Behinderungen einen spezifischen vorherigen Schutz bei Entlassung zu gewähren, ohne einen solchen Schutz auch Beamten mit den gleichen Behinderungen zuzubilligen, es sei denn, dass ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz erwiesen ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Bei dieser Prüfung muss der Vergleich der Situationen auf einer Prüfung aller maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften zur Regelung der Stellung einerseits der Arbeitnehmer mit einer bestimmten Behinderung und andererseits der Beamten mit der gleichen Behinderung beruhen, wobei insbesondere das Ziel des Schutzes vor der im Ausgangsverfahren streitigen Entlassung zu berücksichtigen ist."
"2. Falls Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 im Licht des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen sollte, würde die Pflicht zur Einhaltung des Unionsrechts erfordern, dass der Anwendungsbereich der nationalen Vorschriften, die Arbeitnehmer mit einer bestimmten Behinderung schützen, so ausgeweitet wird, dass diese Schutzvorschriften auch Beamten mit der gleichen Behinderung zugutekommen" (EuGH, 09.03.2017 - C-406/15 - Leitsätze - Bulgarien).
3.14 "Gleichgestellte"
Über § 85 SGB IX (a.F. = § 168 SGB IX n.F.) i. V. mit §§ 2 Abs. 3, 68 Abs. 1, Abs. 2 SGB IX (a.F. = § 151 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX n.F.) braucht ein Arbeitgeber auch dann die Zustimmung des Integrationsamts, wenn er einen Schwerbehinderten gleichgestellten Mitarbeiter kündigen will. Die Gleichstellung erfolgt nach § 68 Abs. 2 SGB IX auf Antrag des behinderten Menschen nach § 69 SGB IX (a.F. = § 152 SGB IX n.F.) durch die Bundesagentur für Arbeit. Sie wird wegen § 68 Abs. 2 Satz 2 SGB IX mit dem Tag des Antragseingangs wirksam. Das wiederum bedeutet: Der Verwaltungsakt, der die Gleichstellung feststellt, ist für Rechtsposition des betroffenen Arbeitnehmers konstitutiv. "Im Unterschied zu den kraft Gesetzes geschützten Personen, bei denen durch die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch ein bestehender Rechtsschutz nur festgestellt wird, wird der Schutz des Behinderten durch die Gleichstellung erst begründet" (BAG, 10.04.2014 - 2 AZR 647/13).
3.15 In-vitro-Fertilisation
Junge Mütter und Schwangere haben nach § 9 MuSchG (a.F. = § 17 MuSchG n.F.) einen besonderen Kündigungsschutz. Erfolgt die Befruchtung der Eizelle außerhalb des Körpers der Frau über eine In-vitro-Fertilisation, greift das Kündigungsverbot des § 9 Abs. 1 MuSchG (a.F. = § 17 Abs. 1 MuSchG n.F.) bereits ab dem Zeitpunkt, in dem das befruchtete Ei - Embryonentransfer - eingesetzt wird - und nicht erst ab dem Zeitpunkt, in dem sich das befruchtete Ei erfolgreich eingenistet hat (= Nidation). Zudem muss hier das AGG beachtet werden: Nach der Rechtsprechung des EuGH (26.02.2008 - C-506/06) kann es nämlich eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts darstellen, wenn eine Kündigung hauptsächlich deswegen erklärt wird, weil sich die Mitarbeiterin einer Behandlung zur In-vitro-Fertilisation unterzogen hat (BAG, 26.03.2015 - 2 AZR 237/14).
3.16 Nur "eigene" Arbeitnehmer?
§ 1 KSchG regelt den allgemeinen Kündigungsschutz im Verhältnis Arbeitnehmer/Arbeitgeber. Der persönliche KSchG-Geltungsbereich ist allein auf die Rechtsbeziehung zwischen den Parteien des Arbeitsvertrags angelegt. Bei der maßgeblichen Betriebsgröße knüpft § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG indes "an die Größe des Betriebs gemessen an der Zahl der dort beschäftigten Arbeitnehmer." Beschäftigt der Arbeitgeber Leiharbeitnehmer an Stelle "eigener" Mitarbeiter, zählen diese Leihkräfte bei der Feststellung der Betriebsgröße als Arbeitnehmer des Betriebs i.S.d. § 23 Abs. 1 KSchG mit (BAG, 24.01.2013 - 2 AZR 140/12).
3.17 Schwangere Arbeitnehmerinnen - 1
"1. Art. 10 Nr. 1 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) ist dahin auszulegen, dass er nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin aufgrund einer Massenentlassung im Sinne von Art. 1 Nr. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen zulässig ist."
"2. Art. 10 Nr. 2 der Richtlinie 92/85 ist dahin auszulegen, dass er nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitgeber einer schwangeren Arbeitnehmerin im Rahmen einer Massenentlassung kündigen kann, ohne ihr weitere Gründe zu nennen als diejenigen, die die Massenentlassung rechtfertigen, solange die sachlichen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer angegeben werden" (EuGH, 22.02.2018 - C-103/16 - Leitsätze 1. und 2. - Spanien).
3.18 Schwangere Arbeitnehmerinnen - 2
"3. Art. 10 Nr. 1 der Richtlinie 92/85 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Kündigung von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen nicht grundsätzlich präventiv verboten ist und im Fall einer widerrechtlichen Kündigung nur deren Unwirksamkeit als Wiedergutmachung vorgesehen ist."
"4. Art. 10 Nr. 1 der Richtlinie 92/85 ist dahin auszulegen, dass er nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, die im Rahmen einer Massenentlassung im Sinne der Richtlinie 98/59 für schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillende Arbeitnehmerinnen weder einen Vorrang der Weiterbeschäftigung noch einen Vorrang der anderweitigen Verwendung vor dieser Entlassung vorsieht. Dies schließt jedoch nicht die für Mitgliedstaaten bestehende Möglichkeit aus, schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillenden Arbeitnehmerinnen einen weiter gehenden Schutz zu gewähren" (EuGH, 22.02.2018 - C-103/16 - Leitsätze 3. und 4. - Spanien).
3.19 Schwangere Arbeitnehmerinnen - 3
Der Gesetzgeber sieht in § 17 Abs. 1 Satz 1 MuSchG ein Kündigungsverbot für Frauen "1. während ihrer Schwangerschaft, 2. bis zum Ablauf von vier Monaten nach einer Fehlgeburt nach der zwölften Schwangerschaftswoche und 3. bis zum Ende ihrer Schutzfrist nach der Entbindung, mindestens jedoch bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung" vor. So weit, so gut. Aber was ist in Fällen, in den der Arbeitsvertrag zwar geschlossen, aber noch gar nicht durch Arbeitsaufnahme in Vollzug gesetzt worden ist? Nun, für diesen Fall meint das Bundesarbeitsgericht: "Das Kündigungsverbot gegenüber einer schwangeren Arbeitnehmerin gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MuSchG gilt auch für eine Kündigung vor der vereinbarten Tätigkeitsaufnahme" (BAG, 27.02.2020 – 2 AZR 498/19 – Leitsatz).
3.20 Schwerbehinderte Menschen - AGG-Entschädigung
Der Arbeitgeber ist nach § 168 SGB IX verpflichtet, vor der Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters die Zustimmung des Integrationsamts einzuholen. Verstößt ein Arbeitgeber gegen Bestimmungen, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Mitarbeiter enthalten, kann das die vom Arbeitgeber widerlegbare Vermutung i.S.d. § 22 AGG tragen, dass hier tatsächlich eine Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung erfolgte. § 168 SGB IX ist eine der vom AGG angesprochenen Verfahrensbestimmungen. In dem hier vorgestellten Fall war es jedoch so, dass der gekündigte Arbeitnehmer nicht offensichtlich schwerbehindert war und er im Verfahren keine Tatsachen für die Annahme, dass hier eine Benachteiligung wegen des Merkmals (Schwer)Behinderung erfolgt sei, dargelegt hatte. Ebenso wenig hatte der klagende Mitarbeiter Indizien i.S.d. § 22 AGG vorgetragen, womit seine Klage auf eine AGG-Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG scheiterte (BAG, 02.06.2022 - 8 AZR 191/21).
3.21 Schwerbehinderte Menschen - Auslandsbezug
§ 2 Abs. 2 SGB IX definiert den Begriff "schwerbehindert". Schwerbehindert ist ein Mensch, wenn bei ihm "ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und" er seinen "Wohnsitz, .. gewöhnlichen Aufenthalt oder" seine "Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 (a.F. = § 156 SGB IX n.F.) rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches" hat. Das heißt für den besonderen Kündigungsschutz bei Auslandsbezug (hier: Chief Engineer auf einem unter italienischer Flagge fahrenden Kreuzfahrtschiff): "Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen bedarf nur dann der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts gemäß § 85 SGB IX (a.F. = § 168 SGB IX n.F.), wenn eine der Varianten des § 2 Abs. 2 SGB IX vorliegt und das Arbeitsverhältnis dem deutschen Vertragsstatut unterfällt" (BAG, 22.10.2015 - 2 AZR 720/14 Leitsatz).
3.22 Schwerbehinderte Menschen - Erwerbsminderungsrente
"Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung aufgrund des Eintritts einer teilweisen Erwerbsminderung erfordert bei einem schwerbehinderten oder ihm gleichgestellten Menschen nach § 92 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung [= § 175 Satz 1 n.F.] die vorherige Zustimmung des Integrationsamts, wenn bei Zugang der schriftlichen Unterrichtung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber über den Eintritt der auflösenden Bedingung nach §§ 21, 15 Abs. 2 TzBfG die Anerkennung der Schwerbehinderung oder die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen erfolgt ist oder die entsprechende Antragstellung mindestens drei Wochen zurückliegt" (BAG, 16.01.2018 - 7 AZR 622/15 - Leitsatz).
3.23 Schwerbehinderte Menschen - Kündigungskontrolle
Der Gesetzgeber sieht für die Ausübung des Arbeitgeber-Kündigungsrechts mit § 85 SGB IX a.F. (= § 168 SGB IX n.F.) eine vorherige staatliche Kontrolle vor. Damit sollen die besonderen Schutzinteressen schwerbehinderter Mitarbeiter oder Gleichgestellter bereits im Vorfeld der Kündigung Rechnung getragen und eine mit dem SGB IX-Schutzzweck kollidierende Kündigung vermieden werden (s. dazu BVerwG, 10.09.1992 - 5 C 39.88). "Durch den besonderen gesetzlichen Bestandsschutz soll sichergestellt werden, dass das in §§ 80 ff. SGB IX (a.F. = § 163 ff. SGB IX n.F.) zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Anliegen, schwerbehinderten Arbeitnehmern zu einer ihren Fähigkeiten und Kenntnissen angemessenen Beschäftigung zu verhelfen, nicht wieder zunichte gemacht wird, indem sich Arbeitgeber ihrer Pflicht zur Eingliederung schwerbehinderter Menschen in den Arbeitsprozess im Einzelfall durch Kündigung entledigen. Dazu findet eine Vorprüfung der Kündigung in einem Verwaltungsverfahren statt, bei der die Verwaltungsbehörde ihrerseits an das materielle Kündigungsrecht gebunden ist" (BAG, 16.01.2018 - 7 AZR 622/15 - mit Hinweis auf BAG, 16.03.1994 - 8 AZR 688/92).
3.24 Schwerbehinderte Menschen - offenkundige Schwerbehinderung
Die Kündigung eines Schwerbehinderten erfordert nach Maßgabe des § 168 SGB IX die vorherige Zustimmung des Integrationsamts. Vorausgesetzt, die Schwerbehinderung ist festgestellt, ihre Feststellung beantragt oder offenkundig. Oft hat der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung keine Kenntnis von einer Schwerbehinderung seines Mitarbeiters. Trotzdem muss er keine hellseherische Fähigkeiten an den Tag legen, um alles richtig zu machen. Selbst ein Arbeitnehmer, der – dem Arbeitgeber bekannt – einen Schlaganfall erlitten hat, wird dadurch nicht automatisch "offenkundig" schwerbehindert. Diesen Schluss braucht der Arbeitgeber auch nicht aus der Tatsache zu ziehen, dass der Arbeitnehmer halbseitig gelähmt auf einer Intensivstation behandelt wurde (BAG, 02.06.2022 - 8 AZR 192/21 – zur Frage, ob die Kündigung ohne Einschaltung des Integrationsamts eine gegen das AGG verstoßende und damit eine Entschädigung auslösende Diskriminierung war).
3.25 Schwerbehinderte Menschen - SGB IX-Fristen
Der Arbeitgeber kann die Zustimmung des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters gem. § 174 Abs. 2 Satz 1 SGB IX "nur innerhalb von zwei Wochen beantragen". Fristbeginn nach § 174 Abs. 2 Satz 2 SGB IX "mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt." Danach muss das Integrationsamt seine Entscheidung "innerhalb von zwei Wochen vom Tag des Eingangs des Antrages an" treffen, § 174 Abs. 3 SGB IX . Und wer checkt das? Nun: "Die Gerichte für Arbeitssachen haben bei einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen zu prüfen, ob die Kündigung unverzüglich iSd. § 174 Abs. 5 SGB IX erklärt wurde, während die Einhaltung der zweiwöchigen Antragsfrist des § 174 Abs. 2 SGB IX allein vom Integrationsamt zu beurteilen ist" (BAG, 11.06.2020 – 2 AZR 442/19 – Leitsatz).
3.26 Schwerbehinderter Lebenszeitbeamter
Der vereinfachte Fall: Regierungsobersekretär R - Beamter auf Lebenszeit - war nach einem Autounfall durchgehend dienstunfähig und als Schwerbehinderter anerkannt. Dienstherr D versetzte ihn ohne Zustimmung des Integrationsamts wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand. Dagegen wehrte R sich über mehrere Instanzen - erfolglos. Das Bundesverwaltungsgericht vertrat die Auffassung, dass die Zurruhesetzung R's keine Zustimmung des Integrationsamts nach § 168 SGB IX voraussetze. Würde ein Restleistungsvermögen bestehen, verbliebe der Beamte im aktiven Beamtenverhältnis. Zudem werde durch die Zurruhesetzung ein Ruhestandsbeamtenverhältnis begründet, das den Dienstherrn gegenüber dem zur Ruhe gesetzten Beamten weiterhin verpflichte - "insbesondere durch die Möglichkeit der Reaktivierung im Falle der Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit (BVerwG, 07.07.2022 - 2 A 4.21 - Pressemitteilung Nr. 46/2022 - mit dem Hinweis, dass das nationale Recht - EU-rechtskonform - für diesen Fall auch keine Zustimmung vorsehe).
3.27 Sozialauswahl
Muss der Arbeitgeber bei betriebsbedingten Kündigungen nach § 1 Abs. 3 KSchG eine Sozialauswahl vornehmen, muss er den Kreis der vergleichbaren - vom selben dringenden betrieblichen Erfordernis betroffenen - Mitarbeiter festlegen. Ist die ordentliche Kündigung eines Mitarbeiters aus dem festgelegten Personenkreis auf Grund eines Gesetzes ausgeschlossen, scheidet dieser Mitarbeiter - obwohl er ansonsten mit den anderen vergleichbar ist - aus der Sozialauswahl aus. "Gesetzliche Kündigungsverbote gehen dem allgemeinen Kündigungsschutz als spezialgesetzliche Regelungen vor" (BAG, 21.04.2005 - 2 AZR 241/04 - mit Hinweis auf BAG, 17.06.1999 - 2 AZR 456/98).
3.28 Tariflicher Kündigungsschutz
Sieht ein Tarifvertrag eigenständige Beschränkungen für betriebsbedingte Kündigungen des Arbeitgebers vor, gilt dieser besondere tarifliche Kündigungsschutz ohne besondere Einschränkung auch für Arbeitnehmer, die nach § 1 Abs. 1 KSchG noch keinen allgemeinenKündigungsschutz haben. "Die Beschränkung betriebsbedingter Kündigungen allein rechtfertigt noch nicht die Annahme, der Kündigungsschutz im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes sei ungeschriebene Voraussetzung für das Eingreifen des Tarifvertrages". Der von den Tarifpartnern vereinbarte Kündigungsschutz ist eben kein gesetzlicher, sondern ein "spezifischer tariflicher Schutz." Mit diesem Schutz sollen Arbeitnehmer nicht vor sozialwidrigen Kündigungen, sondern vor den Folgen einer Betriebsänderung geschützt werden (BAG, 13.06.1996 - 2 AZR 547/95).
3.29 Unterlassenes bEM
Ein unterlassenes bEM kann nur dann kündigungsrelevant sein, wenn das KSchG anwendbar ist. Hat der Arbeitnehmer die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG noch nicht erfüllt und/oder ist sein Arbeitgeber ein so genannter Kleinbetrieb (s. dazu § 23 Abs. 1 KSchG und das Stichwort Kündigungsschutz - Betriebsgröße), stellt sich die bEM-Frage nicht. Wegen des KSchG-Bezugs gilt zudem: Der Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus § 84 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX (a.F. = 167 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX n.F.) führt auch dann nicht zur Unwirksamkeit seiner ordentlichen Kündigung, "wenn das Kündigungsschutzgesetz deshalb nicht gilt, weil das gekündigte Arbeitsverhältnis - wie dasjenige des Klägers [hier] - nicht dem deutschen Vertragsstatut unterlag" (BAG, 22.10.2015 - 2 AZR 720/14).
3.30 Vertrauensperson der Schwerbehinderten
Vertrauenspersonen der schwerbehinderten Menschen besitzen nach § 96 Abs. 3 Satz 1 SGB IX (a.F. = 179 Abs. 3 SGB IX n.F.) die gleiche persönliche Rechtsstellung gegenüber dem Arbeitgeber wie ein Betriebsratsmitglied. Für sie gilt § 15 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG entsprechend. Vertrauenspersonen der Schwerbehinderten können nur aus wichtigem Grund und nur mit Zustimmung des Betriebsrats gekündigt werden. Darüber hinaus gilt für sie: "Einer Zustimmung der Schwerbehindertenvertretung bedarf es nicht" (BAG, 19.07.2012 - 2 AZR 989/11).
3.31 Verwirkung
Der besondere Kündigungsschutz ist schwer zu knacken. Von Arbeitgeberseite wird daher häufig Verwirkung eingewandt, vor allem dann, wenn die Schwerbehinderung vor Ausspruch der Kündigung nicht bekannt war. Die Annahme einer Verwirkung - ein Sonderfall des § 242 BGB - hat jedoch strenge Grenzen. So lässt sich eine Verwirkung erst bejahen, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung hat und der Arbeitnehmer es unterlässt, sich innerhalb angemessener Frist nach Zugang der Kündigung darauf zu berufen. Das Gesetz sieht dafür keine besondere Frist vor. Mit Blick auf die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG ist jedoch davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber die Schwerbehinderung innerhalb von drei Wochen nach Kündigungszugang anzeigen muss. "Hinzuzurechnen ist die Zeitspanne, innerhalb derer er den Zugang der Mitteilung über den bestehenden Sonderkündigungsschutz beim Arbeitgeber zu bewirken hat. Ein Berufen auf den Sonderkündigungsschutz innerhalb dieses Zeitraums ist regelmäßig nicht als illoyal verspätet anzusehen" (BAG, 22.09.2016 - 2 AZR 700/15 hier: am 22. Tag nach Zugang der Kündigung und rechtzeitig erhobener Kündigungsschutzklage).
Siehe auch
Kündigung - betriebsbedingt: AllgemeinesKündigung - betriebsbedingt: SozialauswahlKündigung - betriebsbedingt: UnkündbarkeitKündigung - betriebsbedingt: UnternehmerentscheidungKündigung - personenbedingt: AllgemeinesKündigungsschutz - ArbeitnehmerKündigungsschutz - arbeitsvertraglicherKündigungsschutz - BetriebKündigungsschutz - KleinbetriebKündigungsschutz - Kündigungsgründe