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BFH, 29.01.1993 - XI B 75/92, 80/92 - Voraussetzungen der Ablehnung sämtlicher Richter eines Gerichts oder eines Spruchkörpers wegen Parteilichkeit
Bundesfinanzhof
Beschl. v. 29.01.1993, Az.: XI B 75/92, 80/92
Voraussetzungen der Ablehnung sämtlicher Richter eines Gerichts oder eines Spruchkörpers wegen Parteilichkeit
Fundstelle:
BFH/NV 1993, 612
BFH, 29.01.1993 - XI B 75/92, 80/92
Tatbestand
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Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wendet sich mit seinen am 4. November 1991 erhobenen Klagen vor dem Finanzgericht (FG) gegen die für 1986 ergangenen Bescheide des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt - FA -) über Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuermeßbetrag. Streitig ist die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, weil der Kläger seine Betriebseinnahmen und Umsätze nicht vollständig erklärt und die Betriebsausgaben nicht belegt hat. Mit Verfügungen vom 29. Juni 1992 hat die Berichterstatterin des FG den Kläger aufgefordert, die Tatsachen anzugeben, die nach seiner Auffassung bei den Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. Vorgelegt werden sollten insbesondere eine Aufstellung über die Ermittlung des von ihm erklärten Gewinns, Provisionsabrechnungen und sonstige Unterlagen über die erklärten steuerpflichtigen Umsätze sowie Rechnungen, aus denen die von ihm geltend gemachten Vorsteuerbeträge hervorgehen. Zur Erledigung dieser Verfügungen wurde dem Kläger eine Frist gemäß Art.3 § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) bis zum 31. Juli 1992 gesetzt. Der Kläger teilte daraufhin am 2. August 1992 u.a. folgendes mit:
2
"In Beantwortung vorbezeichneter Angelegenheit, lehne ich Sie als Finanzgericht ab.
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"Zur Begründung trug er vor, das FG sehe nicht ein, daß es ihm unmöglich sei, die angeforderten Unterlagen vorzulegen, weil diese bei der seinerzeitigen Durchsuchung im Rahmen einer Steuerfahndungsprüfung beschlagnahmt worden seien. Diese Unterlagen seien ihm trotz Zustimmung des FA vom FG nicht zur Einsicht und zur Stellungnahme vorgelegt worden.
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Das FG hat die Ablehnungsanträge als unzulässig zurückgewiesen. Die Richterablehnung sei rechtsmißbräuchlich, weil sämtliche dem Senat des FG angehörenden Richter ohne deren namentliche Benennung abgelehnt worden seien. Es sei auch nicht geltend gemacht, auf welche individuellen, in der Person des einzelnen Richters liegenden Gründe die Besorgnis der Befangenheit gestützt werde; die von dem Kläger gegebene Begründung lasse eine solche substantiierte Darlegung vermissen. - Dienstliche Äußerungen der betroffenen Richter, insbesondere der Berichterstatterin, wurden nicht eingeholt; das FG hat in der geschäftsplanmäßigen Besetzung unter Mitwirkung der Berichterstatterin durch Beschlüsse über die Ablehnungsanträge entschieden.
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Dagegen richten sich die Beschwerden des Klägers, denen das FG nicht abgeholfen hat. Er wiederholt sein Vorbringen, die Berichterstatterin des FG habe mit den Verfügungen vom 29. Juni 1992 Unterlagen angefordert, obwohl ihr bekannt gewesen sei, daß er diese Unterlagen nicht besitze und auch außerstande sei, diese kurzfristig beizubringen. Die Berichterstatterin habe dem FA aufgeben müssen, sämtliche bei diesem befindlichen Unterlagen vorzulegen, damit er in die Lage versetzt werde, sich zu äußern.
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Das FA beantragt, die Beschwerden zurückzuweisen.
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Es erwidert: Zwar habe sich zwischenzeitlich - auf Nachfrage des FG - herausgestellt, daß sich Rechnungsbelege des Klägers tatsächlich noch bei der Steuerfahndungsstelle befänden. Hiervon habe man zuvor keine Kenntnis gehabt, zumal der Kläger sich während der Einspruchsverfahren zu fehlenden Unterlagen nicht geäußert habe. Es wäre dem Kläger jedoch jederzeit möglich gewesen, Akteneinsicht zu nehmen. Dies sei nicht geschehen.
Entscheidungsgründe
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Die Beschwerden sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der Vorentscheidungen und zur Zurückverweisung der Sachen an das FG. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, die Ablehnungsgesuche des Klägers seien rechtsmißbräuchlich und deshalb nicht statthaft.
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1. Ein Ablehnungsantrag nach § 51 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 42 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ist nur dann statthaft, wenn er sich unter Angabe individueller Gründe auf einen bestimmten Richter bezieht (Erfordernis der Individualablehnung). Die Ablehnung sämtlicher Richter eines Gerichts oder eines Spruchkörpers ohne Darlegung der Gründe, die gegen die Unparteilichkeit des einzelnen Richters oder aller Richter des Gerichts oder Senats sprechen, ist hingegen in aller Regel rechtsmißbräuchlich und daher unzulässig (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. Oktober 1973 IV R 80/72, BFHE 110, 479, BStBl II 1974, 142; vom 2. Juli 1976 III R 24/74, BFHE 119, 227, BStBl II 1976, 627; Beschluß vom 4. April 1989 VII B 94/88, BFH/NV 1989, 640, jeweils m.w.N.). So verhält es sich vorliegend jedoch nicht. Die von dem Kläger mitgeteilten Ablehnungsgründe lassen in hinreichender Weise das Ziel seines Ablehnungsbegehrens erkennen. Er hält es mit der Unparteilichkeit des Richters für unvereinbar, daß er unter Setzung einer Ausschlußfrist nach Art.3 § 3 Abs. 1 VGFGEntlG zur Vorlage von (Rechnungs-)Unterlagen aufgefordert ist, deren Vorlage ihm wegen Beschlagnahmemaßnahmen der Steuerfahndung unmöglich sei. Damit wendet der Kläger sich - mit individuellem und nicht allgemeinem Vorbringen - eindeutig gegen die prozessualen Verfügungen der vom Senatsvorsitzenden gemäß § 79 FGO als Berichterstatterin benannten Richterin. Denn mit der Formulierung "in Beantwortung vorbezeichneter Angelegenheit lehne ich Sie als FG ab" hat er unmittelbar auf diese Verfügungen der Berichterstatterin reagiert. Auch wenn er diese namentlich nicht benannt hat, lassen sich die Ablehnungsgesuche deshalb so verstehen, daß der Kläger nicht das Gericht oder den gesamten Senat, sondern lediglich die Berichterstatterin gemeint hat und daß es ihm nicht darum ging, das Verfahren in rechtsmißbräuchlicher Weise zu behindern. Das FG hätte die Ablehnungsgesuche des Klägers in diesem Sinne auslegen müssen.
10
War die Richterablehnung danach zulässig, mußte das FG sich mit dem geltend gemachten Ablehnungsgrund des Klägers auseinandersetzen. Dazu hatte die abgelehnte Richterin eine dienstliche Äußerung abzugeben (§ 44 Abs. 3 ZPO), die den Beteiligten im Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs bekannt zu geben war. Der FG-Senat durfte über die Gesuche nicht in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung, d.h. unter Mitwirkung der abgelehnten Richterin, entscheiden (§ 47 ZPO). Da die Beschlüsse des FG diesen Erfordernissen nicht genügen, sind sie aufzuheben. Der Senat läßt dahinstehen, ob es ihm möglich wäre, in der Sache selbst zu entscheiden (so BFH-Beschluß vom 26. September 1989 VII B 75/89, BFH/NV 1990, 514). Er zieht es vor, die Sachen zurückzuverweisen, damit das FG unter Beachtung der genannten Verfahrensvoraussetzungen und ohne Mitwirkung der Berichterstatterin Sachentscheidungen treffen kann (§§ 132, 155 FGO i.V.m. §§ 538 bis 540 ZPO; Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 132 FGO Rdnr.15; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 132 Rdnr.10).