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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Mindestlohn - Richterlicher Mindestlohn über Sittenwidrigkeit
Mindestlohn - Richterlicher Mindestlohn über Sittenwidrigkeit
Inhaltsübersicht
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Information
1. Allgemeines
Soweit ein anwendbarer Tarifvertrag, ein einschlägiges Gesetz oder eine Rechtsverordnung aufgrund eines Gesetzes keine Vorgaben zur Entgelthöhe machen, kann nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit das Arbeitsentgelt einzelvertraglich vereinbart werden. Die Arbeitnehmer haben nur die Möglichkeit, die konkrete Entgelthöhe über die zuständigen Gerichte überprüfen zu lassen. Überprüfungsmaßstab dabei ist neben § 138 BGB (Sittenwidrigkeit), § 242 BGB (Treu und Glauben) und § 315 BGB (billiges Ermessen) der mit der Schuldrechtsreform neu gefasste § 307 BGB (Inhaltskontrolle bei Formulararbeitsverträgen).
Von Bedeutung ist dabei im Wesentlichen § 138 BGB, wonach ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, nichtig ist. § 138 Abs. 2 BGB konkretisiert dies und bestimmt, dass Sittenwidrigkeit vorliegt, wenn eine Entgeltvereinbarung unter Ausbeutung einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, dem Mangel an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche des Beschäftigten zustande gekommen ist und wenn diese ein krasses Missverhältnis zwischen dem Wert der Arbeitsleistung und der Vergütung aufweist.
Für die Frage der Sittenwidrigkeit ist es ohne Bedeutung, ob der Lohnwucher im Bewusstsein der Sittenwidrigkeit vorgenommen wurde oder ob eine Schädigungsabsicht vorlag. Es genügt vielmehr, dass der Arbeitgeber die Tatsachen kennt, aus denen die Sittenwidrigkeit folgt.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit ist grundsätzlich der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Bei arbeitsvertraglichen Entgeltvereinbarungen ist jedoch auf den jeweils streitgegenständlichen Zeitraum abzustellen. Denn eine Entgeltvereinbarung kann zum Zeitpunkt ihres Abschlusses noch wirksam sein, jedoch im Laufe der Zeit, wenn sie nicht an die allgemeine Lohn- und Gehaltsentwicklung angepasst wird, gegen die guten Sitten verstoßen (BAG, 26.04.2006 - 5 AZR 549/05).
Da ab dem 1. Januar 2018 der Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz ausnahmslos für alle Arbeitnehmer gilt, stellt dieser für alle Arbeitsverhältnisse in Deutschland - unabhängig von der Frage der Sittenwidrigkeit - die untersteGrenze der Entgelthöhe dar. Vgl. dazu im Einzelnen Mindestlohn - Mindestlohngesetz
2. Auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung - Lohnwucher
Ein auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung liegt vor, wenn beide in einem vom Gerechtigkeitsstandpunkt nicht mehr zu billigendem Missverhältnis stehen.
Für die Ermittlung der Sittenwidrigkeit kommt es nicht allein auf die Entgelthöhe an. Vielmehr muss nach der Rechtsprechung aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck der Gesamtcharakter der Entgeltabrede gegen die guten Sitten verstoßen (BAG, 26.04.2006 - 5 AZR 549/05).
Nach der Rechtsprechung ist bei der Prüfung, ob ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegt, der Wert der Leistung des Arbeitnehmers nach ihrem objektiven Wert zu beurteilen. Ausgangspunkt zur Feststellung des Wertes der Arbeitsleistung sind dabei in der Regel die Tariflöhne des jeweiligen Wirtschaftszweigs. Dies gilt jedenfalls dann, wenn in dem Wirtschaftsgebiet üblicherweise der Tariflohn gezahlt wird. Denn dann kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt nur zu den Tariflohnsätzen gewonnen werden können.
Entspricht der Lohn indessen nicht der verkehrsüblichen Vergütung, sondern liegt diese unterhalb des Tariflohns, ist zur Ermittlung des Wertes der Arbeitsleistung von dem allgemeinen Lohnniveau im Wirtschaftsgebiet auszugehen.
Zur Feststellung des auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung kann nicht auf einen bestimmten Abstand zwischen dem Arbeitsentgelt und dem Sozialhilfesatz abgestellt werden (BAG, 24.03.2004 - 5 AZR 303/03; anderer Ansicht: ArbG Bremen, 30.08.2000 - 5 Ca 5152/00) Ob das vom Arbeitgeber für eine bestimmte Tätigkeit entrichtete Arbeitsentgelt in einem krassen Missverhältnis zur erbrachten Arbeitsleistung steht, hängt vom Wert der Arbeitsleistung ab.
Ebenso wenig kann aus den Pfändungsgrenzen des § 850c ZPO auf ein Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung geschlossen werden. Die Vorschriften über den Pfändungsschutz (§§ 850 ff. ZPO) bezwecken den Schutz des Schuldners vor Kahlpfändung. Ihm wird ein Teil seines Arbeitseinkommens belassen, um ihm und seiner Familie die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen und ihn nicht der Sozialhilfe anheimfallen zu lassen. Deshalb ergeben sich aus den in § 850c ZPO festgesetzten Pfändungsgrenzen keine Anhaltspunkte für ein Missverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt.
3. Lohnuntergrenze
Ob ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem Wert der Arbeitsleistung und der Lohnhöhe in einem Arbeitsverhältnis vorliegt, bestimmt sich nach dem objektiven Wert der Leistung des Arbeitnehmers.
Ausgangspunkt der Wertbestimmung sind regelmäßig die Tariflöhne des jeweiligen Wirtschaftszweigs oder - wenn die verkehrsübliche Vergütung geringer ist - das allgemeine Entgeltniveau im Wirtschaftsgebiet.
Die bei der Ermittlung eines auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung iSv. § 138 BGB erforderliche Zuordnung eines Unternehmens des Arbeitgebers zu einem bestimmten Wirtschaftszweig richtet sich nach der durch Unionsrecht vorgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige (BAG, 18.04.2012 - 5 AZR 630/10).
Das Missverhältnis ist auffällig, wenn es einem Kundigen, ggf. nach Aufklärung des Sachverhalts, ohne Weiteres ins Auge springt. Erreicht die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in dem betreffenden Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tarifentgelts, liegt regelmäßig eine ganz erhebliche, ohne Weiteres ins Auge fallende und regelmäßig nicht hinnehmbare Abweichung vor, für die es einer spezifischen Rechtfertigung bedarf (BAG, 18.04.2012 - 5 AZR 630/10).
Nach der bisherigen Rechtsprechung werden Arbeitsentgelte die mehr als 30 Prozent unter dem branchenüblichen Lohn liegen als sittenwidrig eingestuft, wobei einzelne Gerichte die Sittenwidrigkeitsgrenze erst bei einer Unterschreitung des branchenüblichen Lohns von 40-50 Prozent annehmen.
Rechtsprechungsübersicht:
Eine Abweichung von 26 Prozent vom niedrigsten Tariflohn reicht noch nicht aus, um Sittenwidrigkeit anzunehmen (ArbG Hagen, NZA 1987, 610),
Sittenwidrigkeit, wenn der übliche Lohn um 40 Prozent unterschritten wird (ArbG Herne, 05.08.1998 - 5 Ca 4010/97),
Sittenwidrigkeit liegt vor, wenn der unterste Tariflohn um 40 Prozent unterschritten wird (LAG Düsseldorf, 23.08.1977, DB 1978, 165),
Ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung liegt vor, wenn die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlten Tariflohns erreicht (BAG, 22.04.2009 – 5 AZR 436/08; LAG Berlin-Brandenburg, 09.02.2011 – 20 Sa 1430/10),
Dagegen wird die 20-prozentige Unterschreitung der tariflich festgelegten Ausbildungsvergütung als sittenwidrig angesehen (BAG, 30.09.1998 - 5 AZR 690/97),
Der Erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat demgegenüber in einem Fall der strafrechtlichen Beurteilung des Lohnwuchers gem. § 302a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB a.F. die tatrichterliche Würdigung des Landgerichts, ein auffälliges Missverhältnis liege bei einem Lohn vor, der 2/3 des Tariflohns betrage, revisionsrechtlich gebilligt (BGH, 22.04.1997 - 1 StR 701/96).
Ein Monatseinkommen in Höhe von 100 EUR bei einer Arbeitspflicht von 14,9 Stunden in der Woche als Servicekraft in einem Schönheitssalon ist sittenwidrig (LAG Mecklenburg-Vorpommern, 17.04.2012 - 5 Sa 194/11).
Eine Stundenbruttoarbeitsvergütung von nicht einmal 2 EUR bewegt sich auf einem Niveau, das außerhalb eines jeden Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung bewegt (ArbG Cottbus, 09.04.2014 – 13 Ca 10477/13).
Ein Arbeitgeber, der an seine Arbeitnehmer Stundenlöhne von 1,59 EUR, 1,65 EUR, 2,48 EUR, 2,72 EUR und 3,45 EUR zahlt, betreibt Lohnwucher (ArbG Eberswalde, 10.09.2013 - 2 Ca 428/13).
Die Vereinbarung eines Hungerlohns ist sittenwidrig gemäß § 138 Abs. 1 BGB. Ein vereinbarter Stundenlohn von 3,40 EUR brutto ist im Zeitraum 2011 - 2014 ein Hungerlohn und damit sittenwidrig. Die übliche Vergütung kann auf Basis der Angaben des Statistischen Bundesamtes und/oder des jeweiligen Statistischen Landesamtes zu den jeweiligen Wirtschaftszweigen bestimmt werden. Fehlen entsprechende Zahlen, sind auch Schätzungen möglich, § 287Abs. 2 ZPO(LAG Berlin-Brandenburg v. 20.04.2016- 15 Sa 2258/15).
Liegt ein auffälliges Missverhältnis i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB vor, weil der Wert der Arbeitsleistung den Wert der Gegenleistung um mehr als 50 %, aber weniger als 100 % übersteigt, bedarf es zur Annahme der Nichtigkeit der Vergütungsabrede zusätzlicher Umstände, aus denen geschlossen werden kann, der Arbeitgeber habe die Not oder einen anderen den Arbeitnehmer hemmenden Umstand in verwerflicher Weise zu seinem Vorteil ausgenutzt.Ist der Wert einer Arbeitsleistung (mindestens) doppelt so hoch wie der Wert der Gegenleistung, gestattet dieses besonders grobe Missverhältnis den tatsächlichen Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten iSv. § 138 Abs. 1 BGB(BAG, 16.05.2012 - 5 AZR 268/11).
Der Arbeitnehmer ist für die Erfüllung des subjektiven Tatbestands des Lohnwuchers bzw. des wucherähnlichen Geschäfts, der seinen Anspruch auf eine übliche Vergütung begründen soll, darlegungs- und beweispflichtig. Nur bei einem besonders groben Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, das anzunehmen ist, wenn der Wert der Leistung (mindestens) doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung, kann ein tatsächlicher Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten gezogen werden. Zur Behauptung der verwerflichen Gesinnung genügt in diesem Falle die Berufung des Arbeitnehmers auf die tatsächliche Vermutung einer verwerflichen Gesinnung des Arbeitgebers (BAG, 27.06.2012 – 5 AZR 496/11).
Hinweis:
Da ab dem 1. Januar 2018 der Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz ausnahmslos für alle Arbeitnehmer gilt, wird sich ab diesem Zeitpunkt und bei einer Zahlung zumindest des Mindestlohns die Frage eines Lohnwuchers wegen Sittenwidrigkeit - in den unteren Lohngruppen - nicht mehr oder anders stellen, da eine Lohnzahlung unterhalb des Mindestlohns unzulässig ist. Vereinbarungen, die den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, sind gem. § 3 S. 1 MiLoG insoweit unwirksam. Bei einem Verstoß gegen § 138 Abs. 1 BGB ist die übliche Vergütung, aber wenigsten der Mindestlohn zu zahlen. Dieser ist festgesetzt ab 01.01.2017 auf 8,84 EUR brutto je Zeitstunde, ab dem 01.01.2019 auf 9,19 EUR brutto je Zeitstunde und ab dem 01.01.2020 auf 9,35 EUR brutto je Zeitstunde.
4. Rechtsfolge
Rechtsfolge des Verstoßes gegen § 138 Abs. 1 BGB ist ein Anspruch des Arbeitnehmers auf die übliche Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB. Maßgeblich ist die übliche Vergütung in dem vergleichbaren Wirtschaftskreis (BAG, 23.05.2001 - 5 AZR 527/99).
Arbeitgeber sind bei sittenwidrigen Löhne gegenüber dem Jobcenter zur Rückzahlung der Aufstockungsbeträge verpflichtet, die das Jobcenter im Rahmen der Grundsicherung als Hilfe zum Lebensunterhalt an den Arbeitnehmer leisten muss (ArbG Eberswalde, 10.09.2013 - 2 Ca 428/13).
Siehe auch