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BAG, 15.12.1998 - 3 AZR 374/97 - Auslegung eines Firmentarifvertrages zum Rationalisierungsschutz
Bundesarbeitsgericht
Urt. v. 15.12.1998, Az.: 3 AZR 374/97
Auslegung eines Firmentarifvertrages zum Rationalisierungsschutz
Rechtsgrundlagen:
§ 1 TVG Tarifverträge: Bergbau
§ 2 Tarifvertrag zum Rationalisierungsschutz bei der Wismut GmbH
BAG, 15.12.1998 - 3 AZR 374/97
In dem Rechtsstreit
hat der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 1998
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Heither,
die Richter Kremhelmer und Bepler sowie
die ehrenamtlichen Richter Reissner und Schoden
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 25. März 1997 - 5 Sa 1024/96 - wird zurückgewiesen.
- 2.
Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darum, ob der Kläger wegen 15-jähriger Untertagetätigkeit von der Beklagten neben der bereits gezahlten Abfindung einen weiteren Zusatzbetrag in Höhe von 5.000,00 DM nach dem "Tarifvertrag zum Rationalisierungsschutz", gültig ab dem 3. November 1992, verlangen kann.
2
Der am 10. Juli 1938 geborene Kläger war in der Zeit vom 30. August 1961 bis zum 31. Januar 1985 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten tätig. Bis zum 31. Dezember 1979 hat er mindestens 185 Monate lang bergmännische Tätigkeit geleistet. Zum 31. Januar 1985 schied er auf eigenen Wunsch aus diesem Beschäftigungsverhältnis aus. Vom 29. Juli 1985 bis zum 31. Dezember 1995 war er erneut bei der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerin tätig, zuletzt als Fahrer von Spezialfahrzeugen. Dieses Arbeitsverhältnis endete aufgrund ordentlicher betriebsbedingter Kündigung der Beklagten.
3
Kraft beiderseitiger Tarifbindung fand auf das Arbeitsverhältnis der Parteien der am 3. November 1992 zwischen der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie und der Beklagten abgeschlossene Tarifvertrag zum Rationalisierungsschutz (TVR) Anwendung.
4
§ 2 TVR enthält u. a. folgende Regelungen:
"Abfindung an Entlassene
(1)
Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse aus betriebsbedingten Gründen beendigt werden, ...erhalten eine Abfindung.
(2)
Die Abfindung beträgt als Grundbetrag 2 ae tarifliche Monatslöhne oder -gehälter brutto der jeweiligen Lohn- bzw. Gehaltstabelle. Der Grundbetrag erhöht sich je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit nach> 5 - 15 Jahren Betriebszugehörigkeit um 300,00 DM...
pro volles Jahr ununterbrochener Betriebszugehörigkeit.
Für die Berechnung der Betriebszugehörigkeit gilt § 6 des Manteltarifvertrages ...
Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung das 45. Lebensjahr vollendet haben, erhalten einen Alterszusatzbetrag in Höhe von 4.000,00 DM.
Arbeitnehmern, die mehr als 15 Jahre unter Tage gearbeitet haben, wird zur Abfindung ein weiterer Zusatzbetrag in Höhe von 5.000,00 DM gewährt. Den Nachweis über die Dauer der Untertagetätigkeit hat der Arbeitnehmer zu erbringen.
..."
5
Der Kläger erhielt auf der Grundlage von § 2 Nr. 2 Abs. 1 TVR eine Abfindung, wobei die Beklagte eine Betriebszugehörigkeit seit dem 29. Juli 1985 zugrunde legte.
6
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe auch der weitere Zusatzbetrag nach § 2 Nr. 2 Abs. 4 TVR zu. Die Unterbrechung seines Arbeitsverhältnisses im Jahre 1985 stehe dem nicht entgegen.
7
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 5.000,00 DM nebst 4% Zinsen seit dem 24. Mai 1996 zu zahlen.
8
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
9
Sie hat den Standpunkt eingenommen, aus § 2 Nr. 2 TVR ergebe sich der Grundsatz, daß Abfindungsansprüche nur innerhalb des aus betriebsbedingten Gründen beendeten Arbeitsverhältnisses erworben werden könnten. Da der Kläger im letzten Arbeitsverhältnis eine entsprechend lange, nach § 6 MTV als ununterbrochen geltende Betriebszugehörigkeit nicht aufweise, seien die Voraussetzungen für die Gewährung des Zusatzbetrages wegen Untertagetätigkeit nicht erfüllt. Betriebszugehörigkeit und Untertagetätigkeit könnten nicht getrennt voneinander betrachtet werden.
10
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht dem Klageantrag entsprochen. Mit ihrer Revision strebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils an.
Gründe
11
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat dem Kläger zu Recht einen weiteren Zusatzbetrag von 5.000,00 DM nach § 2 Nr. 2 Abs. 4 TVR zugesprochen.
12
I.
Der Kläger erfüllt die tarifvertraglichen Voraussetzungen für den Anspruch auf den weiteren Zusatzbetrag von 5.000,00 DM. Er war unstreitig mehr als 185 Monate bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten bergmännisch tätig. Damit hatte er im Sinne der Protokollerklärung der Tarifvertragsparteien vom 3. November 1992 mehr als 15 Jahre unter Tage gearbeitet.
13
II.
Zur Begründung des Anspruchs auf den weiteren Zusatzbetrag reicht es aus, daß der Kläger die erforderliche Untertagetätigkeit im Arbeitsverhältnis mit der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerin zurückgelegt hat. Der Anspruch setzt nicht voraus, daß der Kläger in dem durch die betriebsbedingte Kündigung beendeten Arbeitsverhältnis auch eine 15-jährige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit i.S. von § 6 MTV zurückgelegt hat.
14
1.
Die die arbeitsvertraglichen Bedingungen unmittelbar gestaltenden Bestimmungen eines Tarifvertrages sind wie Gesetze auszulegen. Es ist unter Beachtung der Regeln des Sprachgebrauchs und der Grammatik vom Wortlaut des Tarifvertrages und dem tariflichen Gesamtzusammenhang auszugehen. Der maßgebliche Sinn ist zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften. Der subjektive Wille der Tarifvertragsparteien kann nur berücksichtigt werden, soweit er im Wortlaut seinen Niederschlag gefunden hat. Verbleiben Zweifel am Auslegungsergebnis, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Auslegungsgesichtspunkte wie die Tarifgeschichte, die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages und die praktische Tarifübung heranziehen (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, z. B. Urteil vom 18. Dezember 1996 - 4 AZR 247/95 - AP Nr. 1 zu § 21 MTArb). Eine praktische Tarifübung kann zur Tarifauslegung allerdings nur herangezogen werden, wenn sie auf der Billigung beider Tarifvertragsparteien beruht. Sie muß darüber hinaus gegenüber einem klaren und eindeutigem Wortlaut zurücktreten (BAG Urteil vom 11. Dezember 1974 - 4 AZR 108/74 - AP Nr. 124 zu § 1 TVG Auslegung). Im Zweifelsfall gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelungen führt (BAG Urteil vom 18. Dezember 1996 - 4 AZR 247/95 - aaO, m.w.N.).
15
2.
Eine an diesen Grundsätzen ausgerichtete Auslegung von § 2 TVR führt zu dem vom Landesarbeitsgericht gefundenen Ergebnis: Der Anspruch auf den weiteren Zusatzbetrag setzt keine 15-jährige ununterbrochene Untertagetätigkeit im letzten Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien voraus. Zeiten einer solchen Tätigkeit sind auch zu berücksichtigen, wenn sie in einem vorangegangenen Arbeitsverhältnis zurückgelegt worden sind.
16
a)
§ 2 Nr. 2 Abs. 4 TVR nennt nur eine einzige Anspruchsvoraussetzung für den weiteren Zusatzbetrag, die 15-jährige Tätigkeit unter Tage.
17
Zwar wird der Anspruch auf den weiteren Zusatzbetrag wie alle in § 2 Nr. 2 TVR genannten Ansprüche durch die betriebsbedingte Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses ausgelöst. Dies bedeutet aber nicht, daß alle im § 2 Nr. 2 TVR genannten Zahlungen nur an Umstände anknüpfen, die im Zusammenhang mit der Dauer des betriebsbedingt beendeten Arbeitsverhältnisses stehen. Nur die Höhe der Abfindung nach § 2 Nr. 2 Abs. 1 hängt von der Dauer der ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit ab, deren Berechnung daran unmittelbar anschließend in § 2 Nr. 2 Abs. 2 TVR durch die Verweisung auf § 6 MTV näher erläutert wird. Danach finden sich sowohl in Abs. 3 als auch in Abs. 4 Zahlungsansprüche, die durch die Tarifvertragsparteien nicht von der Dauer der Betriebszugehörigkeit im letzten Arbeitsverhältnis abhängig gemacht worden sind. Voraussetzung für den Alterszusatzbetrag ist allein ein Mindestalter beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, Voraussetzung für den weiteren Zusatzbetrag eine 15-jährige Tätigkeit unter Tage. Ein Hinweis auf die Berechnung von Betriebszugehörigkeitszeiten oder Zeiten der Tätigkeit unter Tage fehlt. Er wäre aber entweder in § 2 Nr. 2 Abs. 4 selbst oder im unmittelbaren Anschluß daran für die zuvor genannten Ansprüche zu erwarten gewesen, wenn das Normverständnis der Beklagten zuträfe.
18
Das von Tarifwortlaut und Tarifsystematik getragene Auslegungsergebnis des Landesarbeitsgerichts entspricht auch dem aus der Tarifbestimmung ablesbaren Sinn und Zweck des § 2 Nr. 2 TVR. Die mit dem hierzu passenden Begriff der Abfindung bezeichneten Zahlungsansprüche nach § 2 Nr. 2 Abs. 1 TVR stellen Leistungen in Aussicht, mit deren Hilfe die aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses folgenden wirtschaftlichen Nachteile gemildert und die bis zum Ausscheiden aus dem Unternehmen gezeigte Betriebstreue honoriert werden sollen. Der Zusatzbetrag nach § 2 Nr. 2 Abs. 4 TVR knüpft demgegenüber an die langjährige Tätigkeit unter Tage oder an gleichgestellte Tätigkeiten an, wobei es ersichtlich darum geht, die anläßlich dieser Arbeiten erlittenen besonderen Erschwernisse und Gesundheitsgefährdungen auszugleichen. Bei einer solchen Zwecksetzung kommt es nicht darauf an, ob die Tätigkeit unter Tage in dem aus betriebsbedingten Gründen beendeten Arbeitsverhältnis geleistet wurde oder in einem vorangegangenen. Dafür spricht auch, daß die Tarifvertragsparteien für den Anspruch auf den weiteren Zusatzbetrag nicht danach unterscheiden, wie lange die Zeiten der Tätigkeit unter Tage zurückliegen. Einmal im Arbeitsverhältnis erlittene Erschwernisse und Gesundheitsgefährdungen bleiben auch nach einer Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses bestehen.
19
b)
Die Einwände der Beklagten gegenüber dem Auslegungsergebnis des Landesarbeitsgerichts überzeugen nicht.
20
Es mag sein, daß die Absätze drei und vier des § 2 Nr. 2 TVR erst nachträglich eingefügt worden sind. Das erklärt aber nicht, warum diese Regelungen bei der nachträglichen Änderung des Tarifvertrages nicht vor die Verweisung auf die Berechnung von Betriebszugehörigkeitszeiten im § 2 Nr. 2 Abs. 2 TVR eingefügt worden sind oder in § 2 Nr. 2 Abs. 4 TVR eine vergleichbare Klarstellung aufgenommen worden ist.
21
Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es auch nicht darauf an, ob die Tarifvertragsparteien tatsächlich einen der Auffassung der Beklagten entsprechenden Regelungswillen hatten und ob es eine dementsprechende Tarifübung gegeben hat. Der von der Beklagten geltend gemachte Regelungswille ist unbeachtlich, weil er in den Tarifvorschriften keinen Niederschlag gefunden hat (BAG Urteil vom 18. Dezember 1996 - 4 AZR 247/95 - aaO). Dasselbe gilt für die von der Beklagten behauptete und vom Kläger bestrittene Tarifübung. Sie muß gegenüber dem klaren und eindeutigen Wortlaut der Tarifbestimmung zurücktreten.
22
c)
Da der Kläger die 15-jährige Tätigkeit unter Tage im Arbeitsverhältnis mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten zurückgelegt hat, kann dahinstehen, ob dies auch Voraussetzung des Anspruchs auf Zahlung des weiteren Zusatzbetrages von 5.000,00 DM ist. Hierfür könnte der Umstand sprechen, daß der Anspruch aus einem Firmentarifvertrag herrührt und besondere Erschwernisse und Gesundheitsgefährdungen im Arbeitsverhältnis ausgleichen soll.
Dr. Heither,
Kremhelmer,
Bepler,
Reissner,
Schoden
Von Rechts wegen!
Kaufhold, Regierungssekretärin als Urkundsbeamter In Sachen der Geschäftsstelle