Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

Arbeitszeit - Außergewöhnliche Fälle
Arbeitszeit - Außergewöhnliche Fälle
Inhaltsübersicht
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Information
1. Problemstellung
Die gesetzlichen Vorgaben zur Höchstarbeitszeit und die vielen weiteren ArbZG-Bestimmungen dienen in erster Linie dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. Sie verkörpern den Normalfall, die Idealarbeitszeit. Nun gibt es allerdings auch Anforderungen, die nicht mit dem üblichen Arbeitszeitspensum gelöst werden können.
Beispiel:
Gerd Grüner ist Gärtnermeister in Florian Flauers Gartencenter. Es ist Frühling, die Blumen im Freiland sprießen, ganz besonders freut sich Florian über den Erfolg mit einer seltenen, wenn auch äußerst Frost empfindlichen Eigenzüchtung. Am ersten Montag im April hat Gerd Grüner um 18:30 Uhr Arbeitsschluss. Er genießt seinen Feierabend und die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit. Gegen 22:14 Uhr hört Florian Flauer im heutejournal, dass es in den frühen Morgenstunden noch starken Frost geben wird. Das hätte zur Folge, dass seine wertvolle Eigenzüchtung im Freiland Schaden nimmt. Florian ruft also Gerd Grüner an und bittet ihn, sofort ins Center zu kommen, damit er ihm hilft, die Pflanzen noch schnell gegen den Frost abzudecken. Wenn Grüner nun wegen der Ruhezeit nicht helfen dürfte, hätte Flauer ein Problem. Dann müsste er tatenlos zusehen, wie seine wertvollen Gewächse verderben.
Der Gesetzgeber hat diesen und ähnliche Fälle berücksichtigt und im ArbZG selbst dafür gesorgt, dass bei außergewöhnlichen Sachverhalten auch Abweichungen von den sonst geltenden Bestimmungen zulässig sind.
2. Ausnahmefälle nach § 14 ArbZG
Von den Bestimmungen in den §§ 3 bis 5, 6 Abs. 2, 7 und 9 bis 11 ArbZG darf abgewichen werden bei vorübergehenden Arbeiten in Notfällen und in außergewöhnlichen Fällen, die unabhängig vom Willen der Betroffenen eintreten und deren Folgen nicht auf andere Weise zu beseitigen sind, besonders wenn Rohstoffe oder Lebensmittel zu verderben oder Arbeitsergebnisse zu misslingen drohen (§ 14 Abs. 1 ArbZG). Die Annahme eines Notfalls verlangt nicht, dass damit gleichzeitig ein öffentlicher Notstand oder ein öffentliches Interesse an der Durchführung bestimmter Arbeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegen muss. Wegen des Ausnahmecharakters dürfen die Tätigkeiten allerdings nur dazu dienen, den Notfall zu beseitigen. Was dabei zulässig ist, wird man allerdings oft erst im Rahmen einer konkreten Güterabwägung erkennen können.
Von den Regelungen in den §§ 3 bis 5, 6 Abs. 2, 7, 11 Abs. 1 und 3 und 12 ArbZG darf ferner abgewichen werden
wenn eine verhältnismäßig geringe Zahl von Arbeitnehmern vorübergehend mit Arbeiten beschäftigt wird, deren Nichterledigung das Ergebnis der Arbeiten gefährden oder einen unverhältnismäßigen Schaden zur Folge haben würde (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG),
bei Forschung und Lehre, bei unaufschiebbaren Vor- und Abschlussarbeiten sowie bei unaufschiebbaren Arbeiten zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen oder zur Behandlung und Pflege von Tieren an einzelnen Tagen (§ 14 Abs. 2 Nr. 2 ArbZG), wenn dem Arbeitgeber andere Vorkehrungen nicht zugemutet werden können.
Was zumutbar ist, ist auch hier eine Frage des Einzelfalls. Es ist Sache des Arbeitgebers, die Voraussetzungen für eine Ausnahme nach § 14 Abs. 1 oder 2 ArbZG in eigener Verantwortung festzustellen. Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vor, dürfen die betroffenen Arbeitnehmer die Leistung verweigern. Hinzu kommt, dass dem Arbeitgeber im Falle ArbZG-widriger Beschäftigung Bußgeld und in besonderen Fällen sogar Freiheits- oder Geldstrafe drohen (§§ 22, 23 ArbZG).
§ 14 Abs. 3 stellt in Anlehnung an die Regelung in § 7 Abs. 8 ArbZG klar: "Wird von den Befugnissen nach Absatz 1 oder 2 Gebrauch gemacht, darf die Arbeitszeit 48 Stunden wöchentlich im Durchschnitt von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen nicht überschreiten." Mit diesem Schritt wurde der Weg für eine weitere Flexibilisierung geebnet.
Praxistipp:
Der starre Ausgleichszeitraum in § 3 Satz 2 ArbZG sieht vor, dass im Durchschnitt von 6 Kalendermonaten oder 24 Wochen eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden eingehalten wird. § 14 Abs. 3 ArbZG ermöglicht hier eine bessere Anpassung der Arbeitszeit an die Erfordernisse der Praxis. Er stellt nicht auf die tägliche, sondern auf die wöchentliche Arbeitszeit ab. Damit kann die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit durchaus über acht Stunden liegen. Wichtig ist nur, dass die wöchentliche Durchschnittsarbeitszeit von 48 Stunden nicht überschritten wird. Der Arbeitseinsatz wird damit für den Arbeitgeber in Zukunft auch in außergewöhnlichen Fällen effizienter.
3. Ausnahmefälle nach § 15 ArbZG
Die Aufsichtsbehörde - d.h. je nach Landesrecht das staatliche Gewerbeaufsichtsamt oder das staatliche Amt für Arbeitsschutz - kann eine von den
§§ 3, 6 Abs. 2 und 11 Abs. 2 ArbZG abweichende längere tägliche Arbeitszeit für kontinuierliche Schichtbetriebe zur Erreichung zusätzlicher Freischichten und für Bau- und Montagestellen bewilligen (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG);
§§ 3, 6 Abs. 2 und 11 Abs. 2 ArbZG abweichende längere tägliche Arbeitszeit für Saison- und Kampagnenbetriebe für die Zeit der Saison oder Kampagne bewilligen, wenn die Verlängerung der Arbeitszeit über acht Stunden werktäglich durch eine entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit zu anderen Zeiten ausgeglichen wird (§ 15 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG),
§§ 5 und 11 Abs. 2 ArbZG abweichende Dauer und Lage der Ruhezeit bei Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft den Besonderheiten der Inanspruchnahme im öffentlichen Dienst entsprechend bewilligen (§ 15 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG),
§§ 5 und 11 Abs. 2 ArbZG abweichende Ruhezeit zur Herbeiführung eines regelmäßigen wöchentlichen Schichtwechsels zweimal innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen bewilligen (§ 15 Abs. 1 Nr. 4 ArbZG).
Zusätzlich darf die Aufsichtsbehörde über die sonstigen ArbZG-Ausnahmen hinaus weitere Ausnahmen zulassen, wenn sie im öffentlichen Interesse dringend benötigt werden (§ 15 Abs. 2 ArbZG). Das ist zu bejahen, wenn der Allgemeinheit oder einem wesentlichen Teil der Bevölkerung ein nicht bloß geringfügiger Schaden droht (z.B. bei Flut- und/oder Brandkatastrophen). Es gibt allerdings keinen Rechtsanspruch auf eine Bewilligung nach § 15 Abs. 1 oder 2 ArbZG. Die Aufsichtsbehörde entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen. Im Spannungs- und Verteidigungsfall gilt zudem § 15 Abs. 3 ArbZG.
Werden Ausnahmen nach § 15 Abs. 1 oder 2 ArbZG zugelassen, darf die Arbeitszeit 48 Stunden wöchentlich im Durchschnitt von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen nicht überschreiten.
4. Rechtsprechungs-ABC
Hier werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema außergewöhnliche Fälle der Arbeitszeit in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet vorgestellt:
4.1 Bedarfsgewerbe
Die Hessische Bedarfsgewerbeverordnung enthält Ausnahmeregelungen für die Zulassung der Beschäftigung von Mitarbeitern an Sonn- und Feiertagen in Brauereien, Betrieben zur Herstellung von alkoholfreien Getränken oder Schaumwein, Betrieben des Großhandels mit Erzeugnissen dieser Betriebe sowie in Fabriken zur Herstellung von Roh- und Speiseeis. Nach Auffassung des VGH Kassel sind diese Bestimmungen jedoch unwirksam. Sie sehen eine Ausnahme vom generellen Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit vor, die sachlich nicht gerechtfertigt ist. Die Beschäftigung von Arbeitnehmern ist in den von der Verordnung angesprochenen Betrieben nicht notwendig, "um tägliche oder an diesen Tagen besonders hervortretende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen." Ebenso wenig dient die Sonn- und Feiertagsbeschäftigung der Vermeidung erheblicher Schäden. Private wie gewerbliche Abnehmer können sich bevorraten, Produzenten haben durch ihre Lagerhaltung die Möglichkeit, für Spitzenzeiten vorzusorgen (VGH Kassel, 01.07.2020 – 8 C 213/15.N).
4.2 Bereitschaftsdienst von Grenzpolizisten
"Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass Art. 2 Nrn. 1 und 2 dieser Richtlinie für Mitglieder der Ordnungskräfte gilt, die im Fall des Zustroms von Drittstaatsangehörigen zu den Außengrenzen eines Mitgliedstaats Überwachungsaufgaben an diesen Grenzen wahrnehmen, es sei denn, dass unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände festzustellen wäre, dass die fraglichen Aufgaben im Rahmen außergewöhnlicher Ereignisse wahrgenommen werden, deren Schwere und Ausmaß Maßnahmen erfordern, die zum Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Sicherheit des Gemeinwesens unerlässlich sind und deren ordnungsgemäße Durchführung in Frage gestellt wäre, wenn alle Vorschriften der Richtlinie beachtet werden müssten, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist" (EuGH, 30.04.2020 - C-211/19 - Leitsatz - Ungarn).
Siehe auch
Arbeitszeit - ArbeitszeitkontoArbeitszeit - Aushang- und AufzeichnungspflichtenArbeitszeit - Außergewöhnliche FälleArbeitszeit - BegriffsbestimmungenArbeitszeit - Gesetzliche HöchstarbeitszeitArbeitszeit - MitbestimmungArbeitszeit - RuhezeitenArbeitszeit - SonderregelungenArbeitszeit - Umrechnung in Dezimalzahlen