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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Scheinselbstständigkeit - Vermutungsregel
Scheinselbstständigkeit - Vermutungsregel
Inhaltsübersicht
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Information
1. Grundlegendes
Der Gesetzgeber hatte den Rechtsanwendern bis zum 31.12.2002 eine Vermutungsregel für die Annahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zur Verfügung gestellt. Diese war seinerzeit im § 7 Abs. 4 SGB IV a.F. hinterlegt und nannte fünf Merkmale, von denen nur drei erfüllt zu sein brauchten, um eine Scheinselbstständigkeit (= Beschäftigung) vermuten zu können.
Praxistipp:
Für die Beantwortung der Frage, ob eine Tätigkeit Beschäftigung oder Selbstständigkeit ist, ist es unerheblich, wie die Vertragspartner die Tätigkeit bezeichnet und wie sie ihren Vertrag äußerlich gestaltet haben. Die Fakten entscheiden. Es kommt auf die tatsächlichen Verhältnisse und die Frage an, wie der Vertrag gelebt wird. Auftraggeber und ihre Vertragspartner sollten daher nicht der Versuchung erliegen, die Sozialversicherungspflicht mit phantasievollen Bezeichnungen der Tätigkeit und geschriebenen Rechten und Pflichten zu vermeiden, die dann nicht auch wirklich so gelebt werden.
Die aktuelle Fassung des § 7 SGB IV enthält für die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses keine Vermutung mehr. Auftraggeber, ihre Vertragspartner und die Sozialversicherer müssen nun wieder nach allgemeinen Merkmalen feststellen, ob die Vergabe eines Auftrags oder einer Arbeit Beschäftigung im Sinn des § 7 Abs. 1 SGB IV ist oder die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit zulässt. Im Zweifel entscheiden dabei die ganz konkreten Umstände des Einzelfalls (s. dazu auch das Stichwort Scheinselbstständigkeit - Einzelfall-ABC).
2. Das bis zum 31.12.2002 geltende Recht
Die Regelung in § 7 Abs. 4 SGB IV in der bis zum 31.12.2002 geltenden Fassung war mit dem 01.01.2003 überholt. Trotzdem wird sie an dieser Stelle noch einmal kurz angesprochen und vorgestellt. Sie enthält nämlich einige wesentliche Gesichtspunkte, die bei der Abgrenzung Beschäftigung <> Selbstständigkeit weiterhin wertvolle Hilfestellung bieten.
Bis zum 31.12.2002 wurde bei Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten aus § 206 SGB V a.F. und § 196 Abs. 1 SGB VI a.F. eine Beschäftigung vermutet, wenn von den folgenden fünf Merkmalen mindestens drei erfüllt waren:
Die Person beschäftigt im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer, dessen Arbeitsentgelt aus diesem Beschäftigungsverhältnis regelmäßig im Monat 325 EUR (danach bis zum 30.09.2022: 450 EUR, heute gilt ab dem 01.10.2022 die variable Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Abs. 1a SGB IV) übersteigt.
Die Person ist auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig.
Der Auftraggeber der Person oder ein vergleichbarer Arbeitgeber lässt entsprechende Tätigkeiten regelmäßig durch von ihm beschäftigte Arbeitnehmer verrichten.
Die Tätigkeit der Person lässt keine typischen Merkmale unternehmerischen Handelns erkennen.
Die Tätigkeit der Person entspricht dem äußeren Erscheinungsbild nach der Tätigkeit, die sie für denselben Auftraggeber zuvor aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt hatte.
Viele der in § 7 Abs. 4 SGB IV in der bis zum 31.12.2002 geltenden Fassung aufgeführten Kriterien werden von der Rechtsprechung nach wie vor zur Charakterisierung eines Beschäftigungsverhältnisses herangezogen. Ihre Bedeutung werden insofern auch mit dem neuen Recht nicht bloß Nostalgiker zu schätzen wissen. Nach § 7 Abs. 4 Satz 3 SGB IV in der bis zum 31.12.2002 geltenden Fassung konnte die Vermutung widerlegt werden.
3. Das bis zum 30.06.2009 geltende Recht
Nach einer Reform ist nicht immer alles besser, sondern oft nur alles anders. So hatte der Gesetzgeber den alten Absatz 4 des § 7 SGB IV gestrichen und ab dem 01.01.2003 durch eine neue Regelung ersetzt:
"Für Personen, die für eine selbstständige Tätigkeit einen Zuschuss nach § 421l des Dritten Buches beantragen, wird widerlegbar vermutet, dass sie in dieser Tätigkeit als Selbstständige tätig sind. Für die Dauer des Bezugs dieses Zuschusses gelten diese Personen als selbstständig Tätige."
§ 421l SGB III sieht vor, dass Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit ihre Arbeitslosigkeit beenden, Anspruch auf einen monatlichen Existenzgründungszuschuss haben (zu den Voraussetzungen s. § 421l Abs. 1 ff. SGB III, auch bekannt als "Ich-AG"). Wer diesen Existenzgründungszuschuss beantragt hatte, für den wurde seinerzeit - widerlegbar - vermutet, dass er auch selbstständig sei. Wäre es nämlich anders gewesen, so die Überlegung, hätte ihm der beantragte Zuschuss ja nicht zugestanden. Und wer diesen Zuschuss bereits bekommen hatte, nun, für den wurde sogar – unwiderlegbar – vermutet, dass er selbstständig sei. Sonst hätte er den Existenzgründungszuschuss nach § 421l SGB III von der Arbeitsagentur ja nicht bekommen.
Die neue Vermutungsregel in der bis zum 30.06.2009 geltenden Fassung des § 7 Abs. 4 SGB IV erlaubte nur die Feststellung für Selbstständige, die einen Existenzgründungszuschuss beantragt haben oder bekamen. Für alle anderen Beschäftigten/Selbstständigen blieb es bei den üblichen Abgrenzungskriterien (s. dazu Scheinselbstständigkeit - Beschäftigung).
Heute ist der Gründungszuschuss in § 93 f. SGB III geregelt. § 132 SGB III enthält eine Übergangsregelung für die Verlängerung von Gründungszuschüssen, die "erstmalig nach § 58 Abs. 1 der bis zum 27. Dezember 2011 geltenden Fassung" bewilligt worden sind.
4. Das heute geltende Recht
Seit dem 01.07.2009 gibt es überhaupt keine gesetzliche Vermutung der Beschäftigung mehr. § 7 Abs. 1 SGB IV sagt lediglich:
"Beschäftigung ist die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Beschäftigungsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers."
Einen Teil des bis zum 31.12.2002 geltenden § 7 Abs. 4 SGB IV a.F. aufgreifend sieht § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI nun für bestimmte Selbstständige in der gesetzlichen Rentenversicherung ohnehin eine Versicherungspflicht vor. Danach sind versicherungspflichtig selbstständig Tätige
"Personen, die
a)im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen und
b)auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind".
NDie in § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI genannten Selbstständigen sind pflichtversichert.
5. Amtsermittlungsgrundsatz
Da es keine gesetzliche Vermutungsregel mehr gibt, muss der Sozialversicherer den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln (§ 20 SGB X). Dazu kann er alle zulässigen Beweismittel nutzen. Er bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen und ist nicht an Beweisanträge der Beteiligten gebunden, § 20 Abs. 1 Satz 2 SGB X.
Das Arbeitsgericht ist übrigens nicht an die Feststellungen des Sozialversicherers gebunden. Die Arbeitsrichter können also selbst entscheiden, ob ein Berufstätiger Selbstständiger oder Arbeitnehmer ist. Insoweit hat auch das Anfrageverfahren (§ 7a SGB IV) arbeitsrechtlich nur Indizwirkung.
6. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema Vermutung von Scheinselbstständigkeit in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet hinterlegt:
6.1 Beschäftigung
Die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses setzt voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Das verlangt, dass der Beschäftigte in einen fremden Betrieb eingegliedert ist und er dabei grundsätzlich einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. "Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte und eigener Betriebsmittel, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet" (BSG, 30.06.2009 - B 2 U 3/08 R - mit dem Hinweis, dass es für die Beurteilung darauf ankommt, welche Merkmale überwiegen).
6.2 Ein Auftraggeber
"Bei selbstständig tätigen Franchise-Nehmern, die in einer vertikalen Vertriebskette stehen, ist (einziger) Auftraggeber iS des § 2 Satz 1 Nr. 9 b) SGB VI der Franchise-Geber" (BSG, 04.11.2009 - B12 R 3/08 R - Leitsatz). Insoweit unterliegt der Franchise-Nehmer in seiner selbstständigen Tätigkeit als Betreiber eines Backshops, die er als Franchise-Nehmer für seinen Vertragspartner ausübt, der Rentenversicherungspflicht und ist damit auch beitragspflichtig. Weiter vorausgesetzt, er beschäftigt "regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer" - was bei geringfügig Beschäftigten nicht zwingend der Fall ist).
6.3 Dauer
Die Annahme einer Beschäftigung setzt nicht voraus, dass das Vertragsverhältnis auf eine längere Zeitdauer angelegt sein muss. Selbst vorübergehende oder bloß kurzfristige Tätigkeiten können eine versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinn des § 7 Abs. 1 SGB IV sein. Insoweit reicht sogar eine von vornherein auf einen Tag begrenzte Tätigkeit. Es ist für die Annahme einer Beschäftigung auch gleichgültig, ob der zu Beurteilende ansonsten "hauptberuflich" Tätigkeiten als selbstständiger Unternehmer leistet (BSG, 30.01.2007 - B 2 U 6/06 R).
6.4 Gesamtbild
Die Frage, ob eine Person abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale der zu beurteilenden Tätigkeit überwiegen. Dabei ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung maßgebend. Dieses Gesamtbild bestimmt sich nach den Verhältnissen, zu denen die rechtlich relevanten Umstände gehören, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus abhängige Beschäftigung erlauben. Insoweit ist die Eingebundenheit in ein festes Zeitschema und in sonstige betriebliche Abläufe ein starkes Indiz für die Annahme einer abhängigen Beschäftigung (BSG, 11.03.2009 - B 12 KR 21/07 R).
6.5 Mehrere Auftraggeber
"Werden nebeneinander eine selbstständige Tätigkeit und eine abhängige Beschäftigung ausgeübt, so ist der Arbeitgeber der Beschäftigung nicht iS des § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI (weiterer) Auftraggeber" (BSG, 04.11.2009 - B 12 R 7/08 R - Leitsatz). Der Begriff Auftraggeber im Sinn des § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI ist eng auszulegen. Eine neben der selbstständigen Tätigkeit ausgeübte Beschäftigung ist bei den sonstigen von § 2 Satz 1 SGB VI erfassten Selbstständigen für die versicherungsrechtliche Beurteilung der selbstständigen Tätigkeit ohne Bedeutung.
Siehe auch