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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Maßregelungsverbot
Maßregelungsverbot
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.
- 5.
- 6.Rechtsprechungs-ABC
- 6.1
- 6.2
- 6.3
- 6.4
- 6.5
- 6.6
- 6.7
- 6.8
- 6.9
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Information
1. Allgemeines
Der Arbeitgeber darf einen Mitarbeiter nicht allein deswegen benachteiligen, weil der in zulässiger Weise seine Rechte geltend macht. Die Maßregelung von Arbeitnehmern - sei es bei einer Vereinbarung, sei es bei einer sonstigen Maßnahme - aus diesem Grund ist verboten. Das sieht das BGB in § 612a ausdrücklich vor. Eine Bestimmung, die oft unbeachtet bleibt - und das nicht bloß bei Arbeitgebern.
Praxistipp:
Arbeitnehmer haben nur nach den KSchG-Bedingungen allgemeinen Kündigungsschutz. Das verleitet sie und ihre Interessenvertreter oft dazu, sich in Fällen, in denen das KSchG (noch) keine Anwendung findet, auf das Maßregelungsverbot des § 612a BGB zu berufen: "Die Kündigung erfolgte nur deswegen, weil der Arbeitnehmer krank geworden ist und Ansprüche auf Entgeltfortzahlung geltend gemacht hat." Diese Argumentation ist gefährlich, weil ein Verstoß gegen das Maßregelungsverbot in der Tat eine Kündigung außerhalb des KSchG-Schutzes unwirksam machen kann. Man sollte hier als Arbeitgeber in jedem Fall eine frühzeitige Gegenstrategie mit einem alternativen nachvollziehbaren Kündigungsgrund parat haben.
Wenn zwei das Gleiche tun, muss es nicht das Gleiche sein. So wechseln sich im Arbeitsrecht oft die Treuepflicht des Arbeitnehmers mit der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ab. Im Grunde sollte es selbstverständlich sein, dass man offen miteinander umgeht. Trotzdem gibt es immer wieder Situationen, die von einer gewissen Denkzettel-Mentalität geprägt sind. Wer einem oder mehreren Mitarbeitern Ansprüche bloß vorenthält, weil sie ihm - obwohl rechtmäßig handelnd - negativ aufgefallen sind, wird schnell feststellen, dass er damit nur bedingt Erfolg hat.
2. Grundsatz
Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt (§ 612a BGB). Das bedeutet, dass ein Arbeitnehmer - rechtlich gesehen - keine Angst davor haben muss, seine - berechtigten - Ansprüche geltend zu machen. Das Maßregelungsverbot ist im Kern die arbeitsrechtliche Ausformung tragender Verfassungsprinzipien:
Beispiel:
C ist seit mehreren Jahren bei F als Frisörin angestellt. Eine Lohnerhöhung hat es für sie in dieser Zeit nicht gegeben. C fragt ihren Chef immer wieder, ob er ihren Stundenlohn von 8 EUR nicht erhöhen könne. Da ihre Bitten regelmäßig erfolglos bleiben, wendet sie sich an die Gewerkschaft. Dort sagt man ihr, dass sie schon längst mehr Lohn bekommen und dass gerade F als Innungsmitglied und Obermeister mit gutem Beispiel vorangehen müsse. Ein Gewerkschaftssekretär schreibt F einen Brief und fordert für C die korrekte tarifliche Vergütung ein. Schon wenige Minuten nach Lektüre des Forderungsschreibens lässt F die C zu sich kommen. Er gewährt ihr allerdings nicht die erhoffte Lohnerhöhung, sondern spricht mit der Begründung, dass C sich an die Gewerkschaft gewandt habe, eine Kündigung aus.
C's Kündigung wird keinen Erfolg haben. Unabhängig von der Frage des Kündigungsschutzes verstößt die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hier gegen § 612a BGB: C hat lediglich versucht, ihre Rechte geltend zu machen. F darf sie deswegen nicht maßregeln.
Die Begriffe "Vereinbarung" und "Maßnahme" sind weit zu fassen, wenn der Zweck des Verbots aus § 612a BGB nicht leer laufen soll. So sind Arbeitnehmer nicht nur gegen benachteiligende individuelle Vereinbarungen geschützt, auch Betriebsvereinbarungen und das Verhalten der Betriebspartner sind an § 612a BGB zu messen. Als "Maßregel" können auch rein tatsächliche Dinge bezeichnet werden, z.B. das Absperren der Bürotür eines Arbeitnehmers, der in zulässiger Weise Geräuschemissionen kritisiert hat. Unterm Strich wird das gesamte
tatsächliche und
rechtliche
Verhalten des Arbeitgebers von § 612a BGB erfasst. Es muss allerdings die Reaktion auf ein vorangehendes Arbeitnehmerverhalten sein. Ohne voraufgegangenes Arbeitnehmerverhalten gibt es keine Maßregel i.S.d. § 612a BGB.
Eine BGB-widrige Benachteiligung kann nicht nur dann vorliegen, wenn der Mitarbeiter eine Einbuße erleidet. Eine Benachteiligung kann auch dadurch passieren, dass dem Arbeitnehmer ein Vorteil versagt wird, den andere Mitarbeiter bekommen, "falls diese ihre Rechte nicht ausüben" (BAG, 16.05.2012 - 10 AZR 174/11).
Was von Arbeitnehmerseite oft vergessen wird: Seine zulässige Rechtsausübung muss für den Arbeitgeber das tragende Motiv der Vereinbarung oder Maßnahme gewesen sein. War sie nur der äußere Anlass, scheidet die Annahme eines Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB aus (BAG, 19.04.2012 - 2 AZR 233/11). Die Benachteiligung des Arbeitnehmers muss kausal auf seine zulässige Rechtsausübung zurückzuführen sein. § 612a BGB will verhindern, dass Arbeitnehmer nur deswegen auf die Geltendmachung ihrer Rechte verzichten, weil sie sonst Nachteile befürchten müssen.
3. Wirkung und Rechtsfolge
§ 612a BGB ist ein gesetzliches Verbot i.S.d. § 134 BGB (und die Ausprägung eines sittenwidrigen Handelns i.S.d. § 138 BGB). Das wiederum hat zur Folge, dass Vereinbarungen und Maßnahmen, die gegen dieses gesetzliche Verbot verstoßen, nichtig sind (wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt). Dort, wo § 612a BGB nicht direkt greift, kann es nach § 138 BGB ein Verstoß gegen die guten Sitten sein, jemanden wegen zulässiger Rechtsausübung zu benachteiligen.
Beispiel:
Lässt sich F im Beispielsfall der Ziffer 1. nicht freiwillig von der Nichtigkeit der Kündigung überzeugen, muss C diese vor dem Arbeitsgericht im Klagewege geltend machen. Sie ist dabei an die Klagefrist des § 4 KSchG gebunden. Ein Verstoß gegen das Maßregelungsverbot ist kein Grund, der die Kündigung sozial ungerechtfertigt i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG macht.
Die Darlegungs- und Beweislast für einen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB trägt der Arbeitnehmer (s. dazu: LAG Mecklenburg-Vorpommern, 29.04.2020 – 3 SaGa 5/20). Er muss die Tatsachen vortragen und bei Bestreiten des Arbeitgebers beweisen, die für die Annahme eines Verstoßes gegen das Maßregelungsverbots erforderlich sind (LAG Mecklenburg-Vorpommern, 29.04.2020 – 3 SaGa 5/20).
Das Maßregelungsverbot des § 612a BGB macht auch außerhalb von Kündigungsfällen Sinn:
Beispiel:
Auf einer Weihnachtsfeier nähert sich ein Arbeitgeber in unzweideutiger Absicht einer Angestellten. Diese verwahrt sich empört gegen dessen Annäherungsversuche und macht ihrem Chef deutlich, dass sie von ihm nicht angefasst werden möchte und glücklich verheiratet ist. Zum Ausgleich für die erlittene Schmach zieht der Arbeitgeber der Angestellten vom nächsten Gehalt das bereits ausgezahlte Weihnachtsgeld wieder ab.
Kein Arbeitnehmer muss sich Angriffe auf sein sexuelles Selbstbestimmungsrecht gefallen lassen. Wenn er sich Zudringlichkeiten verweigert, befindet er sich fraglos im Recht. Deswegen verhängte Maßregelungen verstoßen gegen § 612a BGB.
Kürzt der Arbeitgeber unberechtigt Leistungen, auf die ein gesetzlicher, tarif- oder arbeitsvertraglicher Anspruch besteht, kann der gemaßregelte Arbeitnehmer verlangen, dass die Maßnahme rückgängig gemacht wird. Bei Wiederholungsgefahr hat er sogar Unterlassungsansprüche.
4. Ausnahmen vom Maßregelungsverbot
Auf der anderen Seite gibt es Fälle, in denen die Minderung eines Anspruchs zulässig ist:
Beispiel:
F zahlt zum Jahresende eine freiwillige Gratifikation. Sinn und Zweck dieser Gratifikation ist es, im Jahresverlauf die Anwesenheit seiner Mitarbeiter zu sichern. Sie wird nach einem ausgeklügelten System für Tage, an denen ein Mitarbeiter arbeitsunfähig krank ist oder unentschuldigt fehlt, anteilig gekürzt.
Sicherlich kann man hier die Auffassung vertreten, dass der kranke Arbeitnehmer seine Krankheit nicht verursacht hat und die Reduzierung der Gratifikation insoweit eine unzulässige Maßregel sei. Nur: Auf der anderen Seite ist es ja gerade Sinn und Zweck einer Anwesenheitsprämie, die Anwesenheit mit der Gefahr, die Prämie zu verlieren, zu sichern. So sieht z.B. § 4a EFZG ausdrücklich vor, dass zusätzlich zum Arbeitsentgelt gezahlte Sondervergütungen "für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit" gekürzt werden können.
Ähnlich ist es, wenn eine Regelung an bestimmte Funktionen oder Qualifikation eines Arbeitnehmers anknüpft.
Beispiel:
Die SeQrity Meier GmbH beschäftigt unter anderem Streifengänger, die an den von ihr bewachten Objekten patrouillieren und dafür sorgen sollen, dass niemand die überwachten Gelände betritt. Sie möchte, dass einige ihrer Mitarbeiter auch fachmännisch Sach- und Personenkontrollen durchführen können. Dazu bietet sie ihren Streifengängern Fortbildungsseminare an, nach deren Abschluss die Teilnehmer auch im Bereich der Sach- und Personenkontrolle eingesetzt werden. Für diese zusätzliche Tätigkeit bekommen die Arbeitnehmer mit ihrer zusätzlichen Qualifikation einen Zuschlag von 50 Cent auf den Stundenlohn. Streifengänger Karl "Chuck" Norres weigert sich, an der Fortbildung teilzunehmen, weil er sie für "Unsinn" hält. Trotzdem verlangt er von seinem Arbeitgeber die 50 Cent mehr pro Stunde. Die SeQrity Meier GmbH verweigert Herrn Norres die Zulage, was der wiederum für eine verbotene Maßregel hält.
"Chuck" hat hier in zulässiger Weise seine Rechte ausgeübt. Er war arbeitsrechtlich nicht verpflichtet, an der Qualifizierungsmaßnahme teilzunehmen. Trotzdem liegt in der Weigerung des Arbeitgebers, ihm die 50-Cent-Zulage zu zahlen, keine verbotene Maßregel i.S.d. § 612a BGB. Herr Norres erfüllt ganz einfach die Tatbestandsvoraussetzungen der Zulage nicht. Er hat keinen Anspruch darauf, weil er a) das Fortbildungsseminar nicht besucht hat und b) nicht in der Sach- und Personenkontrolle eingesetzt wird.
Das Maßregelungsverbot des § 612a BGB soll den Arbeitgeber nicht davon abhalten,
seine eigene Rechtsposition zu wahren und
auf ein Fehlverhalten seiners Arbeitnehmer zu reagieren.
Verletzt ein Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten, übt er gerade nicht in zulässiger Weise seine Rechte aus. Dann kann der Arbeitgeber wegen dieser Pflichtverletzung abmahnen oder kündigen.
5. Maßregelungsverbot im AGG
Der Gesetzgeber hat mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ein Instrumentarium geschaffen, Benachteiligungen aus Gründen
der Rasse
oder wegen der ethnischen Herkunft,
des Geschlechts,
der Religion
oder Weltanschauung,
einer Behinderung,
des Alters
oder der sexuelle Identität
zu verhindern oder zu beseitigen (§ 1 AGG). Das AGG sieht im Zweiten Abschnitt - §§ 6 bis 18 AGG - eine Vielzahl von Arbeitnehmerrechten und Arbeitgeberpflichten vor.
§ 16 Abs. 1 AGG enthält für den Geltungsbereich des AGG ein ausdrückliches Maßregelungsverbot: "Der Arbeitgeber darf Beschäftigte nicht wegen der Inanspruchnahme von Rechten nach diesem Abschnitt oder wegen der Weigerung, eine gegen diesen Abschnitt verstoßende Anweisung auszuführen, benachteiligen. Gleiches gilt für Personen, die den Beschäftigten hierbei unterstützen oder als Zeuginnen oder Zeugen aussagen." Und nach § 16 Abs. 2 Satz 1 AGG darf die Zurückweisung oder Duldung benachteiligender Verhaltensweisen durch betroffene Beschäftigte nicht als Grundlage für eine Entscheidung herangezogen werden, die diese Beschäftigten berührt.
§16 Abs. 3 AGG bestimmt, dass die Beweislastregel des § 22 AGG ausdrücklich auch für Verstöße gegen das Maßregelungsverbot des § 16 Abs. 1 AGG gilt. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Beweislastregel des § 22 AGG nicht für andere zivilrechtliche Ansprüche, insbesondere nicht für einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB gilt (BAG, 15.03.2012 - 8 AZR 160/11). Das rechtfertigt die Annahme, dass § 22 AGG bei "normalen" Verstößen gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB ebenfalls nicht greift. Bei § 612a BGB trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast.
6. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Maßregelungsverbot in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet hinterlegt:
6.1 Abbau tariflicher Leistungen
Es stellt keine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn sich ein Arbeitnehmer gegen den rechtswidrigen Abbau tariflicher Leistungen wehrt (BAG, 10.02.1999 - 2 AZR 422/98).
6.2 Abgrenzung zu § 78 Satz 2 BetrVG
§ 78 Satz 2 BetrVG gibt Arbeitgebern auf, die Mitglieder ihres Betriebsrats wegen deren Betriebsratstätigkeit weder zu bevorzugen noch zu benachteiligen. § 612a BGB verfolgt im Wesentlichen einen personenbezogenen Zweck. Im Gegensatz dazu bezweckt § 78 Satz 2 BetrVG neben dem Schutz der Betriebsratsmitglieder in Person auch den Schutz des Betriebsrats als Organ. § 78 Satz 2 BetrVG sichert sowohl die Tätigkeit der Betriebsverfassungorgange als auch die ihrer Mitglieder. Damit soll auch die personelle und sachliche Kontinuität der Betriebsratstätigkeit gesichert werden. "Der somit nicht nur individuell personenbezogene, sondern zugleich kollektiv gemeinbezogene Normzweck des § 78 Satz 2 BetrVG unterscheidet dieses Benachteiligungsverbot maßgeblich von den personenbezogenen Benachteiligungsverboten des § 7 Abs. 1 i.V.m. § 1 AGG und des § 612a BGB" (BAG, 25.06.2014 - 7 AZR 847/12).
6.3 AGG-widrige Maßregelung
Der Arbeitgeber darf Beschäftigte gem. § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG nicht wegen der Inanspruchnahme von Rechten nach dem 2. AGG-Abschnitt oder wegen der Weigerung, eine gegen den 2. AGG-Abschnitt verstoßende Anweisung auszuführen, benachteiligen. Erteilt der Arbeitgeber einem Mitarbeiter ein gegenüber zuvor erteilten Zwischenzeugnissen schlechteres, kann das zwar eine Maßregelung i.S.d. § 16 AGG sein. Der Verstoß gegen das AGG-Maßregelungsverbot löst jedoch keinen AGG-Entschädigungsanspruch nach § 15 AGG aus: es liegt (zumindest in diesem Fall, Anm.d. Verf.) kein Verstoß gegen ein AGG-Benachteiligungsverbot vor - womit auch andere Anspruchsgrundlagen - hier: § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB; § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 16 AGG - nicht zum Tragen kommen (BAG, 18.05.2017 - 8 AZR 74/16).
6.4 Anwesenheitsprämie
Auch eine Regelung, die die Kürzung einer Anwesenheitsprämie für solche Fehlzeiten vorsieht, die einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung auslösen, ist zulässig. Sie verstößt weder gegen § 612a BGB noch gegen das betriebsverfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot aus § 75 BetrVG (BAG, 26.10.1994 - 10 AZR 482/93).
6.5 Anordnung von Bereitschaftsdienst
Ordnet der Krankenhausträger gegenüber einem Oberarzt an, Bereitschaftsdienste zu leisten, ist das allein kein Grund, hier eine verbotene Maßregel i.S.d. des § 612a BGB anzunehmen. "Die Anordnung von Bereitschaftsdiensten, ohne dass zugleich ein anderer Arzt zur Gewährleistung der ärztlichen Grundversorgung zur Verfügung steht, ist keine Maßregelung". Der Arbeitgeber ist nämlich berechtigt, seinen Bereitschaftsdienst - selbstverständlich unter Beachtung aller individual- und kollektivrechtlichen Vorgaben - frei zu organisieren und seine Mitarbeiter dazu einzuteilen. Wenn der angewiesene Oberarzt nach seinem Arbeitsvertrag sogar verpflichtet ist, Bereitschaftsdienste zu leisten, kann eine Maßregel allenfalls angenommen werden, wenn ihm - was hier nicht der Fall gewesen ist - Vergünstigungen vorenthalten werden (BAG, 16.10.2013 - 10 AZR 9/13).
6.6 Arbeitnehmerähnliche Personen
Arbeitnehmerähnliche Personen werden durch das Maßregelungsverbot in § 612a BGB nicht geschützt. Will der Auftraggeber das Rechtsverhältnis mit der arbeitnehmerähnlichen Person beenden, weil die in zulässiger Weise ihre Ansprüche geltend macht, verstößt das allerdings gegen die guten Sitten (BAG, 14.12.2004 - 9 AZR 23/04).
6.7 Befristeter Arbeitsvertrag - 1
Lehnt der Arbeitgeber es ab, mit einem befristetet beschäftigten Arbeitnehmer bei Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags einen vom Arbeitnehmer gewünschten Vorbehalt zu vereinbaren, der es dem Arbeitnehmer ermöglicht, die Wirksamkeit der in dem voraufgegangenen Vertrag vereinbarten Befristung gerichtlich überprüfen zu lassen, liegt darin keine nach § 612a BGB verbotene Maßregelung. Nimmt der Arbeitnehmer das Angebot, den Folgevertrag ohne Vorbehalt abzuschließen, an, verliert er zwar das Recht, die Unwirksamkeit der Befristung geltend zu machen. Das ist aber keine nach § 612a BGB unzulässige Benachteiligung (BAG, 14.02.2007 - 7 AZR 95/06).
6.8 Befristeter Arbeitsvertrag - 2
Grundsätzlich sind Arbeitgeber in ihrer Entscheidung, einem befristeten Arbeitsvertrag einen weiteren Arbeitsvertrag folgen zu lassen, frei. Aber: "1. Bietet ein Arbeitgeber einem befristet beschäftigten Arbeitnehmer keinen Folgevertrag an, weil der Arbeitnehmer ihm zustehende Rechte ausgeübt hat, liegt darin eine von § 612a verbotene Maßregelung. 2. Verletzt der Arbeitgeber das Maßregelungsverbot, kann der Arbeitnehmer Anspruch auf Schadensersatz haben. § 15 Abs. 6 AGG ist jedoch entsprechend anzuwenden. Der Arbeitnehmer kann deshalb keinen Folgevertrag verlangen" (BAG, 21.09.2011 - 7 AZR 150/10 - Leitsätze).
6.9 BetrVG-Benachteiligungsverbot
Mitglieder des Betriebsrats dürfen in der Ausübung ihrer Tätigkeit weder gestört noch behindert werden (§ 78 Satz 1 BetrVG). Ebenso wenig dürfen sie wegen ihrer Tätigkeit – was auch für ihre berufliche Entwicklung gilt – benachteiligt oder begünstigt werden (§ 78 Satz 2 BetrVG). Nur eine – angebliche – Benachteiligung i.S.d. § 78 Satz 2 BetrVG zu behaupten, nützt im Prozess allerdings nichts. Von Rechts wegen trägt ein Mitglied des Betriebsrats die Darlegungs- und Beweislast für eine unzulässige Benachteiligung wegen seines Betriebsratsamts. Diese Maxime folgt dem zivilprozessualen Grundsatz, dass immer derjenige die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen trägt, die seinen Anspruch begründen sollen (s. dazu BAG, 25.06.2014 – 7 AZR 847/12). U.a. muss der – angeblich – benachteiligte Mitarbeiter daher darlegen und unter Beweis stellen, dass er ohne die Ausübung des Betriebsratsamts oder ohne die Freistellung zur Ausübung seines Amts als Betriebsrat durch eine Beförderung beruflich aufgestiegen wäre – z.B. weil seine Bewerbung auf eine konkrete Stelle wegen Betriebsratstätigkeit/Freistellung erfolglos geblieben ist (BAG, 20.01.2021 – 7 AZR 52/20 – mit Hinweis auf BAG, 04.11.2015 – 7 AZR 972/13).
6.10 "Corona"-Kündigung - 1
Der vereinfachte Fall: Arbeitgeber A - ein Musicalbetrieb - hatte sich entschieden, zum Schutz von Mitarbeitern und Zuhörern das so genannte "2G-Modell" einzuführen. Darstellerin D hatte mit ihm einen Arbeitsvertrag für die Proben und die Beschäftigung in einem Musical geschlossen. Nachdem A vor Vertragsbeginn erfuhr, dass D ungeimpft war, kündigte er ihr Arbeitsverhältnis ordentlich fristgerecht. D wehrte sich gegen die Kündigung, scheiterte jedoch mit ihrer Kündigungsschutzklage. Begründung u. a.: Der Arbeitgeber darf als Ausdruck seiner unternehmerischen Freiheit das 2G-Modell als allgemeines Anforderungsprofil für alle Arbeitsplätze im Betrieb durchsetzen. Da ist es keine gegen § 612a BGB verstoßende Maßregel, wenn die Durchsetzung des 2G-Modells mit der höchstpersönlichen Entscheidung D's, sich nicht impfen zu lassen, kollidiere (ArbG Berlin, 03.02.2022 - 17 Ca 11178/21 - mit der weiteren Feststellung, dass hier auch D's Angebot, täglich einen negativen Coronatest vorzulegen, kein anderes Ergebnis rechtfertige).
6.11 "Corona"-Kündigun - 2
"1. Eine zur Unwirksamkeit einer Probezeitkündigung führende Maßregelung (§ 612a BGB) liegt nicht vor, wenn die Rechtsausübung des Arbeitnehmers kein tragender Beweggrund des Arbeitgebers beim Kündigungsentschluss bildet. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Arbeitgeber als Ausdruck seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit die Umsetzung eines bestimmten Anforderungsprofils für alle Arbeitsplätze im Betrieb anstrebt und dieses allgemeingültige Profil mit höchstpersönlichen Entscheidungen des daraufhin gekündigten Arbeitnehmers unvereinbar ist. Dementsprechend bewirkt die vom Arbeitgeber bezweckte Durchsetzung des "2G-Modells" in einem Musicalaufführungsbetrieb keine Maßregelung einer nicht gegen das Coronavirus (SARS-Cov-2) geimpften Darstellerin. 2. Die Kündigung gegenüber einer nicht geimpften Arbeitnehmerin verstößt nicht gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), wenn die Entscheidung der Arbeitnehmerin gegen die Inanspruchnahme der Schutzimpfung allein auf medizinische Bedenken gestützt wird" (ArbG Berlin, 03.02.2022 – 17 Ca 11178/21 – Leitsätze).
6.12 Entgelterhöhung
Eine gegen § 612a BGB verstoßenden Maßregel liegt nicht nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer eine Einbuße hinnehmen muss, sondern auch dann, wenn ihm etwas vorenthalten wird, das der Arbeitgeber anderen Mitarbeitern gewährt, falls diese keine Rechte ausüben. "Das Maßregelungsverbot ist" bei einer Entgelterhöhung "aber nur dann verletzt, wenn zwischen der Benachteiligung und der Rechtsausübung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Die zulässige Rechtsausübung muss der tragende Grund, d.h. das wesentliche Motiv für die benachteiligende Maßnahme sein. Es reicht nicht aus, dass die Rechtsausübung nur den äußeren Anlass für die Maßnahme bietet" (BAG, 17.03.2010 - 5 AZR 168/09 - hier verneint für den Ausgleich von Gehaltsunterschieden, die durch einen in der Vergangenheit erfolgten Verzicht entstanden sind).
6.13 Erfolgsbeteiligung
Zahlt ein Arbeitgeber Mitarbeitern eine Erfolgs- und Umsatzbeteiligung, kann der Ausschluss von Arbeitnehmern, die sich gegen die vertragliche Verlängerung ihrer Arbeitszeit wehren, eine unzulässige Maßregel i.S. des § 612a BGB sein (BAG, 12.06.2002 - 10 AZR 340/01).
6.14 Entgeltfortzahlung
Verlangt ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber Entgeltfortzahlung, die nur "möglicherweise" berechtigt ist, rechtfertigt das keine Kündigung. Spricht der Arbeitgeber aus diesem Grund trotzdem eine Kündigung aus, ist diese Kündigung wegen Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot unwirksam (BAG, 09.02.1995 - 2 AZR 389/94).
6.15 Freiwillige Leistung
Gewährt ein Arbeitgeber freiwillige Leistungen, kann eine verbotswidrige Maßregelung darin bestehen, dass er die Arbeitnehmer von der Vergünstigung ausnimmt, die vorher in zulässiger Weise ihre vertraglichen Rechte ausgeübt haben (BAG, 12.06.2002 - 10 AZR 340/01).
6.16 Gerichtliche Überprüfung
Im Prozess trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast sowohl für die Voraussetzungen des § 612a BGB als auch "für den Kausalzusammenhang zwischen benachteiligender Maßnahme und zulässiger Rechtsausübung" (s. dazu BAG, 16.10.2013 - 10 AZR 9/13). Das Bundesarbeitsgericht kann die vom Landesarbeitsgericht gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO gewonnene Überzeugung oder Nichtüberzeugung für den Kausalzusammenhang zwischen zulässiger Ausübung von Arbeitnehmerrechten und der benachteiligenden Maßnahme des Arbeitgebers nur darauf überprüfen, "ob sie möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze verstößt (BAG, 18.10.2017 - 10 AZR 330/16 - mit Hinweis auf BAG, 23.07.2015 - 6 AZR 457/14).
6.17 Gestaltungsmissbrauch
Wird der Zweck einer zwingenden Rechtsnorm dadurch vereitelt, dass andere rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten missbräuchlich genutzt werden, führt das zu einer unzulässigen Umgehung dieser Rechtsnorm. Weiter vorausgesetzt, es gibt für die Nutzung anderer Gestaltungsmöglichkeiten keinen "im Gefüge der einschlägigen Rechtsnorm sachlich rechtfertigenden Grund". Das Umgehungsverbot betrifft nicht nur das Ziel, sondern auch den Weg dahin. Entscheidend ist die objektive Funktionswidrigkeit des Rechtsgeschäfts - sodass es auf eine Umgehungsabsicht oder eine bewusste Missachtung der zwingenden Rechtsnormen nicht ankommt. Auch Rechtsgeschäfte, die "einen verbotenen Erfolg durch Verwendung von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu erreichen" suchen, "die scheinbar nicht von einer Verbotsnorm erfasst werden", sind verboten (BAG, 15.11.2018 - 6 AZR 522/17 - mit Hinweis auf BAG, 27.11.2008 - 6 AZR 632/08).
6.18 Gesundheitsprüfung
Ein Arbeitnehmer ist ohne konkreten Anlass nicht verpflichtet, bei sich zur Klärung einer eventuellen Alkohol- oder Drogenabhängigkeit eine regelmäßige Gesundheitsprüfung vornehmen zu lassen. Er darf sich der Aufforderung zur Abgabe einer Blutprobe daher entziehen, ohne damit seine Verhaltenspflichten aus dem Arbeitsverhältnis zu verletzen (BAG, 12.08.1999 - 2 AZR 55/99).
6.19 Gleichbehandlung - 1
Ein Anspruch auf eine vom Arbeitgeber gewährte Leistung kann grundsätzlich auch auf das Maßregelungsverbot des § 612a BGB iVm. dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt werden. Nur: Verlangt ein Arbeitnehmer wegen eines möglichen Verstoßes gegen § 612a BGB Gleichbehandlung mit anderen nach dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, kann er bloß auf Dasjenige einen Anspruch haben, was der "begünstigten und/oder nicht gemaßregelten Arbeitnehmergruppe gewährt worden ist." Handelt es sich bei der Forderung des Arbeitnehmers und dem Gewährten um zwei unterschiedliche Gegenstände, kann das den Kollegen in einer Vereinbarung in Aussicht Gestellte kein Weniger gegenüber den Forderungen des Arbeitnehmers sein (BAG, 16.05.2012 - 4 AZR 320/10).
6.20 Gleichbehandlung - 2
Die rechtliche Herleitung eines Anspruchs aus dem Maßregelungsverbot iVm. dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz hat keinen Erfolg, "wenn - wie hier - die Auszahlung eines Geldbetrages verlangt wird, während die der begünstigten Arbeitnehmergruppe gewährten Leistungen nach der 'Vereinbarung über eine Abschlussprämie und eine weitere Leistung und Anrechnungsvorbehalt' aus Gutscheinen und Gutschreibungen auf Kundenkonten sowie ihm Rahmen der betrieblichen Altersversorgung bestanden." Nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz muss sich die wegen des Verstoßes gegen § 612a BGB verlangte Forderung mit dem decken, was die anderen - nicht gemaßregelten - Arbeitnehmer bekommen (haben). Bei unterschiedlichen Streitgegenständen scheidet eine Gleichbehandlung aus (BAG, 16.05.2012 - 4 AZR 321/10).
6.21 Höhergruppierung
Ein Arbeitgeber, der nach Rechtsstreitigkeiten um eine Höhergruppierung nur die Arbeitnehmer höher eingruppiert, die entweder keine Klage erhoben oder ihren Rechtsbehelf wieder zurückgenommen haben, verstößt gegen § 612a BGB. Rechtsfolge: Die gemaßregelten Arbeitnehmer haben ebenfalls Anspruch auf die höhere Vergütung (BAG, 23.02.2000 - 10 AZR 1/99).
6.22 Kollektive Rechtsausübung
Der Wortlaut des § 612a BGB lässt zunächst vermuten, dass es bei dem Maßregelungsverbot nur um Fälle geht, in denen einzelne Arbeitnehmer in zulässiger Weise ihre Rechte ausüben und dann wegen dieser Rechtsausübung benachteiligt werden. "Über den unmittelbaren Anwendungsbereich der Vorschrift hinaus kann als Rechtsausübung [aber] auch ihre kollektive Ausübung durch den Betriebsrat in Betracht kommen (....)." Stimmt der Betriebsrat einer vom Arbeitgeber gewünschten Verschiebung des Tariflohns nicht zu, ist das die zulässige Ausübung eines Rechts iSv. § 612a BGB. Ist dieses Verhalten aber nicht das tragende Motiv für die Benachteiligung, sondern das wirkliche Motiv des Arbeitgebers, mit Verschiebung der Lohnerhöhung wirtschaftliche Vorteile zu erzielen, reicht das für die Annahme eines Verstoßes gegen § 612a BGB nicht aus (BAG, 16.05.2012 - 10 AZR 174/11).
6.23 Krankheit vs. Urlaub
Arbeitnehmer N hatte mit Arbeitgeber A (< 10 Mitarbeiter) eigentlich ab dem 04.01.2021 Urlaub vereinbart. Zum ersten Urlaubstag legte N dem A dann jedoch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Wenige Tage später kündigte A. N meinte, dass sei eine verbotene Maßregelung, seine Kündigung daher unwirksam. Er habe sich in zulässiger Weise krankgemeldet. Ob N dem A tatsächlich gesagt hatte, er wolle nun doch keinen Urlaub, er habe sich lieber einen Krankenschein geholt, das bringe ihm mehr Geld, blieb zwischen den Parteien streitig. Das Gericht hat trotzdem keinen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot gesehen: "Wenn der Kläger den von ihm bestrittenen Sachvortrag der Beklagten im vorliegenden Prozess aufgreift, kann er dies auch nur mit dem von der Beklagten vorgetragenen Kündigungsgrund tun: Dem vermeintlichen Vortäuschen einer Erkrankung und dem Erschleichen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Ein derartiges Motiv verstößt jedoch nicht gegen das Maßregelungsverbot, sondern könnte vielmehr eine Kündigung rechtfertigen" (ArbG Erfurt, 17.11.2021 – 4 Ca 165/21).
6.24 Krankmeldung
Bei einem Verstoß gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB muss gerade die zulässige Rechtsausübung das tragende Motiv der Arbeitgebermaßregel sein. Meldet sich ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig krank, liegt bei einer nachfolgenden Kündigung nur dann eine verbotswidrige Maßregelung vor, "wenn gerade das zulässige Fernbleiben von der Arbeit sanktioniert werden soll." Beabsichtigt der Arbeitgeber dagegen, auf zukünftige Folgen weiterer Arbeitsunfähigkeit – insbesondere sich abzeichnende neue Störungen der Betriebsabläufe – zu reagieren, hat die ausgesprochene Kündigung kein unlauteres Motiv (s. dazu BAG, 16.02.1989 – 2 AZR 299/88). Allgemein ist anerkannt, dass eine Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt sein kann, wenn sie dazu dient, Belastungen durch künftig zu erwartende Arbeitsunfähigkeitszeiten zu vermeiden (BAG, 20.05.2021 – 2 AZR 560/20; bestätigt durch BAG, 18.11.2021 - 2 AZR 229/21).
6.25 Kündigung - 1
Eine Kündigung wegen Krankfeierns kann eine nach § 612a BGB unzulässige Maßregelung sein. Ruft der Personaldisponent einen arbeitsunfähig erkrankten Mitarbeiter an und fordert er ihn trotz bestehender Arbeitsunfähigkeit unter Kündigungsandrohung auf, zur Arbeit zu kommen, spricht einiges dafür, dass die dann tatsächlich folgende Kündigung wegen eines Verstoßes gegen § 612a BGB unwirksam ist (BAG, 23.04.2009 - 6 AZR 189/08).
6.26 Kündigung - 2
§ 612a BGB verbietet es Arbeitgebern, Arbeitnehmer bei "einer Maßnahme" zu benachteiligen, weil sein Mitarbeiter in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. "Maßnahme" i.S.d. § 612a BGB kann auch eine Kündigung sein. Dabei müssen Kündigung und zulässige Rechtsausübung allerdings in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Die zulässige Rechtsausübung muss das tragende Motiv der Kündigung sein - wenn nicht, ist die Kündigung wirksam. Selbstverständlich vorausgesetzt, es gibt keinen anderen Unwirksamkeitsgrund. Ansonsten gilt: "Es reicht nicht aus, dass die Rechtsausübung nur den äußeren Anlass für die Maßnahme bietet" (BAG, 12.05.2011 - 2 AZR 384/10).
6.27 Kündigung - 3
War der gekündigte Arbeitnehmer in dem Zeitpunkt, in dem er seine Rechte in zulässiger Weise ausgeübt hat, erst Stellenbewerber, kann das Maßregelungsverbot des § 612a BGB nicht greifen, wenn er zu Recht eine unzulässige Frage verneint. "Das Maßregelungsverbot des § 612a BGB erfasst nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes nur Arbeitnehmer (...). Es soll nach dem Willen des Gesetzgebers die geltende Rechtslage klarstellen und das Maßregelungsverbot insbesondere bei Kündigungen auf alle Arbeitnehmer erstrecken, also auch auf solche, für die das Kündigungsschutz- oder Betriebsverfassungsgesetz nicht gilt" (BAG, 15.11.2012 - 6 AZR 339/11 - mit dem Hinweis, dass eine Rechtsausübung vor Beginn des Arbeitsverhältnisses vom Schutzzweck des § 612a BGB nicht erfasst wird).
6.28 Kündigungsschutzklage
Die Befugnis von Tarifvertragsparteien, einen Tarifvertrag mit sozialplanähnlichem Inhalt zu schließen, wird durch die §§ 111, 112 BetrVG nicht eingeschränkt. Insoweit dürfen Tarifvertragsparteien einen tariflichen Abfindungsanspruch für den Fall ausschließen, dass ein gekündigter Arbeitnehmer eine Kündigungsschutzklage erhebt. Weiter vorausgesetzt: der Arbeitgeber weist vorher auf diese Bedingung hin. So eine Vereinbarung verstößt dann weder gegen Art. 3 Abs. 1 GG noch stellt sie eine unzulässige Maßregel i.S.d. § 612a BGB dar (BAG, 06.12.2006 - 4 AZR 798/05).
6.29 Kündigung wg. Krankschreibung?
Ist ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig krank, muss er seinem Arbeitgeber nach Maßgabe von § 5 EFZG – Anzeige- und Nachweispflicht – die Arbeitsunfähigkeit anzeigen und ihm danach eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen. Und wenn dann in einem Kleinbetrieb eine Kündigung folgt? Ist das gleich eine verbotene Maßregelung? "3. Eine unzulässige Maßregelung i.S. des § 612a BGB setzt eine Rechtsausübung des Arbeitnehmers voraus. Der Eintritt einer Arbeitsunfähigkeit ist ein organisches und/oder psychisches Geschehen, keine Rechtsausübung. 4. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen des Arbeitsausfalls in Folge Arbeitsunfähigkeit stellt keine unzulässige Maßregelung i.S. des § 612a BGB dar" (LAG Baden-Württemberg, 30.10.2020 – 12 Sa 33/20 – Leitsätze 3 u. 4; s. dazu auch BAG, 18.11.2021 - 2 AZR 229/21).
6.30 Mehrarbeit
Bekommt ein Arbeitnehmer allein deswegen keine Mehrarbeit zugeteilt, weil er auf tarifliche Vergütungsansprüche nicht verzichten möchte, stellt diese Arbeitgeberreaktion einen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB dar (BAG, 07.11.2002 - 2 AZR 742/00 - mit dem Hinweis, dass parallel dazu auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen wird).
6.31 Sozialplanabfindung
Vereinbaren die Betriebspartner, dass Arbeitnehmer, die keine Kündigungsschutzklage erheben, neben der allgemeinen Sozialplanabfindung eine zusätzliche Abfindung erhalten, verstößt diese Vereinbarung nicht gegen das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB. Bleibt dem Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung die freie Wahl, ob er sich gegen die Kündigung wehrt oder ob sich für die zusätzliche Abfindung gegen Klageverzicht entscheidet, ist das nicht zu beanstanden. Etwas anderes wäre es, wenn sich die vom Arbeitsplatzverlust betroffenen Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung entscheiden müssten, auf die Klage oder auf die zusätzliche Abfindung zu verzichten (BAG, 09.12.2014 - 1 AZR 146/13).
6.32 Streikbruchprämie
Die Zahlung einer Streikbruchprämie an Arbeitnehmer, die sich nicht an einem zulässigen Arbeitskampf beteiligen, verstößt gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB. Die Maßregelung ist auf die Weise rückgängig zu machen, dass auch die streikenden Arbeitnehmer die Prämie gezahlt bekommen (BAG, 13.07.1993 - 1 AZR 676/92; ebenso: BAG, 11.08.1992 - 1 AZR 103/92 - allerdings mit dem Hinweis, dass bei besonderen Erschwerungen und Belastungen der Streikverweigerer eine "Treueprämie" möglicherweise gerechtfertigt sein könnte).
6.33 Streikteilnahme - 1
Sieht eine betriebliche Regelung vor, dass eine Anwesenheitsprämie nur für Monate gezahlt wird, die keine Fehlzeiten wegen Arbeitsunfähigkeit oder sonstige unbezahlte Ausfallzeiten aufweisen, führt eine Streikteilnahme ohne Entgeltzahlung zum Verlust der Prämie, ohne dass sich der betroffenen Arbeitnehmer dabei auf einen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB berufen kann (BAG, 31.10.1995 - 1 AZR 217/95; zur anteiligen Kürzung einer Jahressonderzuwendung wegen Streikteilnahme: BAG, 03.08.1999 - 1 AZR 735/98).
6.34 Streikteilnahme - 2
Vereinbaren die Sozialpartner ein tarifliches Maßregelungsverbot, sollen damit vorrangig Schadensersatzansprüche beseitigt werden. Ein Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Streikteilnahme wird dadurch regelmäßig nicht begründet (BAG, 17.06.1997 - 1 AZR 674/96).
6.35 Streikteilnahme - 3
Die Beteiligung eines Arbeitnehmers an einem rechtmäßigen Streik führt in der Regel zu einem Ruhen des Arbeitsverhältnisses. Sieht ein Tarifvertrag vor, dass eine Sonderleistung für Zeiten unbezahlter Freistellung gekürzt werden kann, dann könnte das auch für die Teilnahme an einem rechtmäßigen Streik gelten. Aber: Sieht ein tarifliches Maßregelungsverbot vor, dass Arbeitnehmern wegen der Streikteilnahme keine Nachteile entstehen dürfen, ist es dem Arbeitgeber verwehrt, Streiktage als "Ruhenstage" zu werten (BAG, 13.02.2007 - 9 AZR 374/06). Auf § 612a BGB kommt es hier insoweit gar nicht an.
6.36 Tragendes Motiv - 1
Der bloße Vollzug einer vertraglichen Vereinbarung oder einer kollektivrechtlichen Regelung ist keine Benachteiligung i.S.d. § 612a BGB. Ein Verstoß gegen § 612a BGB verlangt, dass zwischen Rechtsausübung und Benachteiligung ein "unmittelbarer Zusammenhang besteht." Dabei muss auf Seiten des Arbeitgebers gerade die zulässige Ausübung von Rechten der tragende Grund, "dh. das wesentliche Motiv für die benachteiligende Maßnahme sein." Ist die Rechtsausübung nur äußerer Anlass der Maßnahme, reicht das für die Annahme eines Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB nicht aus (BAG, 21.09.2011 - 5 AZR 520/10; bestätigt durch BAG, 20.05.2021 – 2 AZR 560/20).
6.37 Tragendes Motiv - 2
Verstößt eine (hier: außerordentliche) Kündigung gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB, ist sie nach § 134 BGB nichtig. Ein Verstoß gegen das gesetzliche Maßregelungsverbot liegt aber nur vor, wenn der tragende Beweggrund - also das wesentliche Motiv - der Kündigung eine zulässige Rechtsausübung gewesen wäre (s. dazu BAG, 20.12.2012 - 2 AZR 867/11 und BAG, 19.04.2012 - 2 AZR 233/11). Eine zulässige Rechtsausübung setzt jedoch voraus, dass das Recht, von dem der Arbeitnehmer Gebrauch macht, auch wirklich besteht. Hatte der gekündigte Arbeitnehmer aber gar kein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 3 BGB und auch kein Zurückbehaltungsrecht nach § 273 Abs. 1 BGB, von denen er Gebrauch machen konnte, greift § 612a BGB nicht. Dann hat er seine geschuldete Leistung Arbeit beharrlich verweigert(BAG, 22.10.2015 - 2 AZR 569/14; bestätigt durch BAG, 20.05.2021 – 2 AZR 560/20).
6.38 Vorenthalten von Vorteilen - 1
Eine Benachteiligung i.S.d. § 612a BGB liegt nicht nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer eine Einbuße erleidet, sondern auch dann, wenn ihm Vorteile vorenthalten werden, die der Arbeitgeber anderen Mitarbeitern gewährt, falls diese Rechte nicht ausüben. § 612a BGB ist aber nur dann verletzt, wenn zwischen Rechtsausübung und Benachteiligung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Die zulässige Rechtsausübung muss der tragende Grund, also das wesentliche Motiv für die benachteiligende Handlung des Arbeitgebers sein. Unterm Strich reicht es nicht aus, wenn die Rechtsausübung nur der äußere Anlass für die Maßnahme ist (BAG, 15.07.2009 - 5 AZR 486/08 - hier: verneint für die Verweigerung einer Lohnerhöhung, weil unterschiedliche Lohnniveaus vorhanden waren und der Arbeitgeber Nachteile geringer vergüteter Arbeitnehmer ausgleichen wollte).
6.39 Vorenthalten von Vorteilen - 2
Das Tatbestandsmerkmal "benachteiligen" aus § 612a BGB wird nur erfüllt, wenn der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung eine Wahlmöglichkeit hat, also sich zwischen zwei oder mehr verschiedenen Maßnahmen bewegen kann. Legt er sein Verhalten an der Rechtsordnung aus, liegt keine Benachteiligung vor. "Knüpft eine Regelung an das (erlaubte) Verhalten des Arbeitnehmers [hier: die Nichtannahme eines Änderungsangebots] eine diesem nachteilige Rechtsfolge, ist derArbeitgeber nicht zum Ausgleich der dem Arbeitnehmer erwachsenden Nachteile verpflichtet (...). Dementsprechend ist der Vollzug einer kollektivrechtlichen Regelung oder einer vertraglichen Vereinbarung keine Benachteiligung i.S.v. § 612a BGB" (BAG, 14.12.2011 - 5 AZR 675/10).
6.40 Vorziehen einer Kündigung
Der Arbeitgeber darf Mitarbeiter bei einer Maßnahme wegen § 612a BGB nicht deswegen benachteiligen, weil der Mitarbeiter in zulässiger Weise seine Rechte ausübt (s. dazu BAG, 20.05.2021 – 2 AZR 560/20). Mitarbeiter sollen mit § 612a BGB in ihrer Willensfreiheit, ein Recht auszuüben oder nicht, geschützt werden (so: BAG, 14.02.2007 – 7 AZR 95/06 - und BAG, 15.02.2005 – 9 AZR 116/04). Das Gesetzt regelt einen Sonderfall der Sittenwidrigkeit (s. BAG, 21.09.2011 – 7 AZR 150/10). So verstößt ein Arbeitgeber gegen § 612a BGB, wenn sein tragendes Motiv für die getroffene benachteiligende Maßnahme die zulässige Rechtsausübung ist. Ist die Rechtsausübung bloß der äußere Anlass der Benachteiligung, reicht das nicht, um einen Verstoß gegen § 612a BGB zu bejahen (s. dazu BAG, 21.09.2011 – 7 AZR 150/10 – und BAG, 17.03.2010 – 5 AZR 168/09). "Handelt der Arbeitgeber aufgrund eines Motivbündels, so ist auf das wesentliche Motiv abzustellen (BAG 20. Mai 2021 – 2 AZR 560/20 ...). Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses kann eine Maßnahme iSv. § 612a BGB sein" (s. dazu BAG, 16.02.1989 – 2 AZR 299/88 – und BAG, 02.04.1987 – 2 AZR 227/86). Das "gilt gleichermaßen für das 'Vorziehen' einer ohnehin schon beabsichtigten Kündigung" (BAG, 18.11.2021 - 2 AZR 229/21 - mit dem Ergebnis, dass in diesem Fall - zeitliches Zusammentreffen von Arbeitsunfähigkeit und Kündigung - kein Verstoß gegen § 612a BGB festzustellen war).
Siehe auch