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BAG, 26.10.1955 - 1 AZR 295/55 - Vereinbarkeit des Hamburger Urlaubsgesetzes mit dem Grundgesetz; Gesetzgebungskompetenz des Landes Hamburg zum Erlass dieses Gesetzes; Ausschluss der künftigen Bildung von Landesprivatrecht durch das Deutsche Reich infolge des Gebrauchs seiner Gesetzgebungskompetenz; Kodifikationsprinzip; Die Art. 3 und 55 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) als Kompetenznormen und deren Vereinbarkeit mit den Kompetenznormen des GG; Unwirksamkeit des Hamburger Urlaubsgesetzes auf Grund des Grundsatzes Bundesrecht bricht Landesrecht
Bundesarbeitsgericht
Beschl. v. 26.10.1955, Az.: 1 AZR 295/55
Vereinbarkeit des Hamburger Urlaubsgesetzes mit dem Grundgesetz; Gesetzgebungskompetenz des Landes Hamburg zum Erlass dieses Gesetzes; Ausschluss der künftigen Bildung von Landesprivatrecht durch das Deutsche Reich infolge des Gebrauchs seiner Gesetzgebungskompetenz; Kodifikationsprinzip; Die Art. 3 und 55 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) als Kompetenznormen und deren Vereinbarkeit mit den Kompetenznormen des GG; Unwirksamkeit des Hamburger Urlaubsgesetzes auf Grund des Grundsatzes Bundesrecht bricht Landesrecht
Verfahrensgang:
vorgehend:
LAG Hamburg - AZ: 2 Sa 88/55
LAG Hamburg - AZ: 2 Sa 55/55
LAG Hamburg - AZ: 2 Sa 80/53
Rechtsgrundlagen:
§ 1 Hamburger Urlaubsgesetz
Fundstelle:
NJW 1956, 488 (amtl. Leitsatz)
BAG, 26.10.1955 - 1 AZR 295/55
Amtlicher Leitsatz:
Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hält das Hamburger Urlaubsgesetz für grundgesetzwidrig, weil dem Lande Hamburg die Gesetzgebungskompetenz zum Erlass dieses Gesetzen fehlte. Daher wurden die Verfahren ausgesetzt und die Frage der Gültigkeit des Hamburger Urlaubsgesetzes dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
In dem Rechtsstreitverfahren
hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts
in der Sitzung vom 26. Oktober 1955
durch
den Präsidenten Professor Dr. Nipperdey,
die Bundesrichter Dr. Poelmann und Dr. Meier-Scherling und
die Bundesarbeitsrichter Wörner und Wieland
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Die Verfahren werden ausgesetzt.
- 2.
Es wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob das Urlaubsgesetz der Hansestadt Hamburg vom 27. Januar 1951 (GVBl. 1951 S. 11) mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder nicht.
Gründe
1
In den drei vorgelegten Sachen machen die Kläger Urlaubsabgeltungsansprüche nach dem Hamburger Urlaubsgesetz (HUG) geltend. Die Entscheidung über diese Ansprüche hängt davon ab, ob das HUG gültig ist oder nicht. Denn nach den Feststellungen und nach den von dem Senat für zutreffend gehaltenen Rechtsausführungen der angefochtenen Urteile sind die Ansprüche - die Gültigkeit des HUG unterstellt - nicht unbegründet.
2
Der Senat hält das HUG für verfassungswidrig, weil es nach dem Grundgesetz von dem Land Hamburg nicht erlassen werden konnte. Daher sind nach Art. 100 Abs. 1 GG die Verfahren auszusetzen und es ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
3
I.
Das HUG ist als Landesgesetz im formellen Sinne am 27. Januar 1951 ergangen mit Geltung vom 1. Januar 1951. Es ist somit nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes und auch nach dem ersten Zusammentritt des Bundestages erlassen. Die Rechtslage in der Übergangszeit vom 8. Mai 1945 bis zum Ablauf des 23. Mai 1949 oder bis zum 7. September 1949, in der andere Urlaubsgesetze der Länder ergangen sind, hat daher auszuscheiden.
4
Ein Gesetz über den Urlaub der Arbeitnehmer gehört zum Arbeitsrecht und innerhalb des Arbeitsrechts zu dem Arbeitsvertragsrecht. Irgendeine Strafbestimmung oder eine Norm, die eine Überwachung durch die Verwaltung gestattet oder einen Verwaltungszwang vorsieht, ist in dem Gesetz nicht enthaltene. Es ist zweifelsfrei ein rein privatrechtliches Gesetz, das bestimmte Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Basis der Gleichordnung regelt, ohne dass ein Hoheitsträger am Rechtsverhältnis beteiligt ist.
5
Nach Art. 74 Ziff. 12 GG fällt das Arbeitsrecht unter die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder nach § 72 Abs. 1 GG die Befugnis zur Gesetzgebung. Das gilt aber nur, solange und soweit der Bund von Deinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Hat der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht, so entfällt insoweit die Kompetenz des Landes zur Gesetzgebung. Diesem Fall steht es gleich, wenn das Deutsche Reich von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hatte und dieses so geschaffene Reichsrecht Bundesrecht geworden ist. Nach Art. 125 Ziff. 1 wird Recht, das Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes betrifft, innerhalb seines Geltungsbereichs Bundesrecht, soweit es beim Inkraftreten des GG innerhalb einer oder mehrerer Besatzungszonen einheitlich gilt. Das trifft zu für das Bürgerliche Gesetzbuch und das zu ihm ergangene Einführungsgesetz, da diese Gesetze am 24.5.1949 im Gebiete der Bundesrepublik einheitlich galten. Das BGB und das EGBGB sind somit Bundesrecht geworden. Die Frage, ob zur Fortgeltung als Bundesrecht nach Art. 125 GG auch die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen müssen, ob also ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bestehen muss, ist mit dem Bundesverfassungsgericht und der durchaus herrschenden Meinung zu verneinen (BVerfGE 1, 293 mit weiteren Angaben). Selbst wenn man aber diese Frage andere entscheiden würde, so würde im Jahre 1900 und zu jedem anderen Zeitpunkt, heute und in Zukunft bei der Kodifikation des BGB das Bedürfnis im Sinne des Art. 72 Abs. 2 Ziff. 1 und 2 und 3 zu bejahen sein.
6
Das Bürgerliche Gesetzbuch hat nach jahrhundertelanger Rechtszersplitterung dem deutschen Volk die Rechtseinheit auf dem Gebiet der Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander gebracht. Es ist zum Ende des vorigen Jahrhunderts und dann wieder 1950 bei seinem 50jährigen Bestehen als eine nationale Tat: Ein Volk, ein Recht gefeiert worden. Seiner klaren Entstehungsgeschichte, seinem Grundgedanken nach und nach seinen ausdrücklichen gesetzlichen Vorschriften ist das BGB allen partikularen Rechtsbildungen, insbes. der Länder gegenüber eine Kodifikation des gewarnten Privatrechts, die mit Ausschluss anderer Rechtsquellen gilt. Aus Art. 55 EGBGB ergibt sich, dass sämtliche bei Inkrafttreten des BGB bestehenden privatrechtlichen Vorschriften der Landesgesetze anderes Kraft traten, soweit nicht im BGB oder im EGBGB etwas anderes bestimmt ist. Und aus Art. 3 EGBGB folgt zwingend, dass die zukünftige Bildung von Landesprivatrecht ausgeschlossen ist, soweit nicht ausdrückliche Vorbehalte im BGB oder im EGBGB gemacht sind. Das Letztere ist für das Gebiet des Arbeitsvertragsrechts unstreitig nicht geschehen. Damit hatte das Deutsche Reich, das auch nach der Bismarck'schen Verfassung auf dem Gebiet des Privatrechts nur ein konkurrierendes Gesetzgebungsrecht neben den Bundesstaaten hatte, von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht und die künftige Bildung von Landesprivatrecht ausgeschlossen. Vgl. ebenso Art. 15 EGHGB.
7
Man bezeichnet diese Rechtssätze als das Kodifikationsprinzip. Dieses in Art. 55 und 3 EGBGB festgelegte Prinzip schliesst privatrechtliche Vorschriften der Länder schlechthin aus, also nicht nur, soweit sie dem BGB widersprechen, sondern auch, wenn sie Rechtsverhältnisse betreffen, die im BGB in gleicher Weise oder nur im Grundsatz, nicht in Einzelheiten geregelt sind, weiter auch dann, wenn die betreffenden privatrechtlichen Rechtsbeziehungen im BGBüberhaupt nicht durch besondere Bestimmungen berührt sind. Nach dem Kodifikationsprinzip dürfen außerhalb der Vorbehalte des EGBGB keine die privatrechtlichen Beziehungen betreffenden Landesgesetze bestehen, gleichgültig, ob sie dem BGB widersprechen, es wiederholen, interpretieren, ergänzen oder ein Gebiet regeln, das im BGB nicht behandelt zu sein scheint. Dieses weitgehende, die privatrechtliche Rechtseinheit in Deutschland garantierende Prinzip besteht nicht darin, den Ländern ihr Gesetzgebungsrecht auf privatrechtlichen Gebieten zu nehmen, ohne selbst eine sachliche Regelung zu treffen. Das wäre unzulässig (vgl. Gebhard, Verf. d.Dt. Reiches, 1932 S. 132). Es ist vielmehr deshalb gerechtfertigt und verfassungsmässig, weil das BGB im Gegensatz etwa zum preußischen Allgemeinen Landrecht durch seine die Fülle des Lebens erfassende abstrakte Normengestaltung, durch seine Generalklauseln, durch das Prinzip der Vertragsfreiheit, durch die anerkannten Rechtsgrundsätze der Gesetzes- und Rechtsanalogie und der Rechtsfindung bei Lücken in jedem privatrechtlichen Fall eine gerechte Entscheidung ermöglicht. Die Entwicklung der letzten 55 Jahre hat die Richtigkeit dieses so verstandenen Kodifikationsprinzips erwiesen.
8
Sinn und Tragweite dieses Kodifikationsprinzips sind in Deutschland bisher weder in der Zeit der Bismarck'schen Verfassung noch auch der Weimarer Reichsverfassung bestritten worden.
9
So heisst es in den Motiven zum BGB I S. 146:
"Gegenüber dem Landesrechte hat das BGB den Charakter einer Kodifikation, welche den ihr angehörigen Rechtsstoff ausschliesslich, d.h. dergestalt regelt, dass neben ihr keine anderweiten Rechtsnormen Geltung haben oder künftig Geltung erlangen. Das Landesprivatrecht wird in seiner Gesamtheit aufgehoben und ausgeschlossen, mag es mit dem im BGB enthaltenen Rechte inhaltlich übereinstimmen, diesem Rechte widerstreiten oder Lücken seiner Satzungen ergänzen. Jede privatrechtliche Bestimmung des Landesrechtes muss, wenn sie ausnahmsweise in Geltung bleiben soll, durch einen Vorbehalt geschützt, jedes Institut, welches ausnahmsweise partikularrechtlicher Regelung überlassen bleiben soll, als solches bezeichnet sein."
10
Vgl. weiter Cosack, Lehrbuch des dt. bürgerl. Rechts, 6. Aufl. 1913 Bd. I S. 24, der ausführt, dass die Art. 3, 55 EGBGB auch dann gelten, wenn es sich um eine Rechtsfrage handelt, die im BGB unvollständig geregelt oder schweigend übergangen ist; ebenso Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil, 14. Aufl. § 14; Nipperdey, Bundesprivatrecht und Landesprivatrecht, NJW 1951, 897; Heinrich Lehmann, Allg. Teil, 8. Aufl. 1954 S. 36; Endemann, Lehrbuch des bürgerl. Rechts, 9. Aufl. 1903 S. 75; von Tuhr, Der Allgemeine Teil Bd. 1 S. 11; Staudinger-Keidel, BGB 9. Aufl. Bd. 6, Erl. zu Art. 55; Crome, System des Deutschen Bürgerl. Rechts Bd. 1 (1900) § 9; Dahs RdA 1949 S. 322; RGZ 55, 256 und viele andere.
11
Da das HUG privatrechtliche Bestimmungen enthält - und zwar ausschliesslich solche - und da das Gesamtgebiet der privatrechtlichen Beziehungen bundesrechtlich kodifikatorisch geregelt ist, bestand gemäss Art. 72 Abs. 1 Halbsatz 2 GG keine Kompetenz des Landes Hamburg, ein Urlaubsgesetz zu erlassen. Wenn BVerfGE 1, 293 mit Recht betont, dass die Entscheidung (im Sinne des Art. 72 Abs. 1 Halbs. 2), ob eine reichsrechtliche Regelung erschöpfend war oder nicht, nur aus einer Gesamtwürdigung des betreffenden Normenkomplexes entnommen werden kann, so bestehen in dieser Hinsicht im vorliegenden Falle angesichts der eindeutigen Bestimmungen der Art. 55 und 3 EGBGB und des anerkannten Kodifikationsprinzips keinerlei Zweifel.
12
Die Richtigkeit und Notwendigkeit des privatrechtlichen Kodifikationsprinzips ergibt sich besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, zu welchen verhängnisvollen Folgen für die Rechtseinheit eine Abschwächung des Grundsatzes führen konnte. Jedes der neun deutschen Länder könnte verschiedene privatrechtliche Gesetze erlassen z.B. über den Trödelvertrag, den Elektrizitätslieferungsvertrag, über positive Vertragsverletzung, vorbeugende Unterlassungsklage, über Ausgestaltung der Fürsorgepflicht nach § 618 BGB, über Auskunftspflichten der Arbeitgeber über ihre Arbeitnehmer, über Treuepflichten und Wettbewerbsverbote, über Urlaub, über Kündigungsschutz ausserhalb des Bundeskündigungsschutzgesetzes, über den sog. obligatorischen Teil des Tarifvertrages (Friedenspflicht) usw., alles mit der Begründung, diese Dinge seien im BGB und anderen Reichsgesetzen entweder überhaupt nicht oder jedenfalls nicht erschöpfend geregelt. Eine Rechtszersplitterung stärksten Ausmasses könnte eintreten. Die Rechtseinheit auf dem Gebiete der privatrechtlichen Beziehungen, für die unsere Väter und Grossväter als ein hohes nationales Gut gekämpft haben, wäre schwer gefährdet. Wie verhängnisvoll und schädlich sich gerade auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, vor allen des Arbeitsvertragsrechts eine Rechtszersplitterung auswirkt, hat A. Hueck in Die Rechtseinheit im deutschen Arbeitsrecht, 1951 (Kölner Universitätsverlag) S. 9 ff so eindrucksvoll dargelegt, dass hier Wiederholungen sind. Der Senat verweist in vollem Umfang auf diese Ausführungen. Auch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, die neuerdings - nicht sehr konsequent - ein Urlaubsgesetz bei dem Landtag eingebracht hat, betont: "Eine Zersplitterung durch voneinander abweichende landesrechtliche Bestimmungen wirkt sich gerade auf dem Gebiet des sozialen Rechts besonders unheilvoll aus. Rechtszersplitterung bedeutet Rechtsunsicherheit und manchmal sogar Beschränkung der Freizügigkeit im Arbeitsleben." Sie spricht auch von der "unbeschränkten Gesetzesautonomie der Länder in den ersten Jahren nach 1945" (vgl. Landtag NRW Sten.Ber. 3. W. P. 28. Sitzung S. 820 D).
13
14
1.
So führt Nikisch, Arbeitsrecht, 2. Aufl. 1955 S. 50 ff. aus, es scheine ihm zu weit zu gehen, wenn man jede Neuschöpfung von Landesprivatrecht außer auf den in Art. 55 ff. EGBGB vorbehaltenen Gebieten schlechthin ausschliessen wolle. Vielmehr werde man das Kodifikationsprinzip auf die im BGB geregelten Sachgebiete beschränken müssen. Zu diesen gehöre zwar nicht das Arbeitsrecht im ganzen, wohl aber der als "Dienstvertrag" geregelte Arbeitsvertrag und damit die Gesamtheit der rechtlichen Beziehungen des einzelnen Arbeitnehmers zu seinem Arbeitgeber. Die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassenen Gesetze der Länder auf dem Gebiete des Arbeitsvertragsrechts seien hiernach, weil sie vom Kodifikationsprinzip des BGB abwichen und damit früheres Reichsrecht abgeändert hätten (Art. 125 Nr. 2 GG), Bundesrecht geworden, die später erlassenen müßten als ungültig angesehen werden. Hierzu gehöre der Urlaub, der Hausarbeitstag der Frauen und der Kündigungsschutz. Es sei verständlich, daß in den ersten Jahren nach 1945, als an eine Reichs- oder Bundesgesetzgebung noch nicht wieder zu denken war, die meisten Länder geglaubt hätten, sich dieser Fragen annehmen zu müssen. Aber das sei doch nur ein Notbehelf gewesen. Jetzt müsse die Regelung dieser fragen dem Bundesgesetzgeberüberlassen bleiben.
15
Da die Pflicht, bezahlten Urlaub zu gewähren, eine Pflicht aus dem Arbeitsvertrag ist, der seinerseits durch das BGB und andere Reichs- und Bundesgesetze einheitlich für das Bundesgebiet geregelt ist, konnten die Länder keine Urlaubsgesetze erlassen, da ihnen die Kompetenz gemäß Art. 72 Abs. 1 Halbs. 2 fehlte. Die Auffassung, die Länder könnten trotz der erschöpfend gewollten und erklärten Regelung des Arbeitsvertragsrechts alle denkbaren Lücken durch Landesgesetze ausfüllen, würde nicht nur gegen Art. 72 Abs. 1 Halbsatz 2 GG, sondern auch gegen Art. 31 GG verstoßen (s. unten IV) und zu einem Rechtswirrwarr führen. Daher scheidet auch die Möglichkeit, das HUG etwa teilweise als gültig anzusehen, aus, zumal da sich dieses Gesetz wie auch andere Urlaubsgesetze der Länder mehr oder weniger darauf beschränkt hat, allgemeine Grundsätze zu geben und von der Regelung von Einzelheiten fast durchweg abzusehen, vgl. Dersch, Die Urlaubsgesetze, 1954 S. 46.
16
2.
Aber auch bei der denkbar engsten (nach der Ansicht des Senats unrichtigen) Auffassung des Kodifikationsprinzips, daß nämlich die Länder Urlaubsgesetze deshalb erlassen könnten, weil das bundesrechtliche Arbeitsvertragsrecht kein Recht auf Urlaub kenne, kann das Ergebnis kein anderes sein.
17
Mag in der nationalsozialistischen Zeit mangels ausdrücklicher gesetzlicher Gewährung die Frage eines Urlaubsanspruchs noch zweifelhaft gewesen sein, so hat sich seit 1945 die Auslegung durchgesetzt, daß ein Recht auf Urlaub besteht. Es wurzelt bundesrechtlich in den §§ 242, 618 BGB, in der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers in Verbindung mit den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates der Art. 20, 28 GG (vgl. BVerfGE 4, 102 [BVerfG 18.11.1954 - 1 BvR 629/52]). Der Arbeitgeber, der die Dienstleistung so zu regeln hat, daß der Arbeitnehmer gegen Gefahr für Leben und Gesundheit geschützt ist (§ 618 BGB), muß jeden Arbeitnehmer wenigstens einmal im Jahr eine bestimmte Zeit von der Arbeit unter Fortzahlung der Vergütung ausspannen lassen. Das entspricht der durchaus herrschenden Lehre und Praxis. - Vgl. Nipperdey bei Staudinger, Anm. 277 zu § 611 BGB; Hueck, Grundriss S. 124 und Festschrift für J.W. Hedemann (1938) S. 325; Siebert, Anm. 3 zu § 21 JugSchG; Dietz bei Hueck-Nipperdey-Dietz, Anm. 17 e zu § 2 AOG; Nikisch, ZAkDR 1938 S. 42; Arbeitsrecht 2. Aufl. Bd. 1 S. 444; Dersch, ARS 31 RAG 186 und 276; RdA 1949, S. 325; Urlaubsgesetze S. 53, S. 65; Herschel-Müller, Arbeitsrecht (1952) S. 97; LAG Hamburg, RdA 1949 S. 422 und AP 52 Nr. 168; LAG Hamm, AP 52 Nr. 14 und vom 20.1.1955 3 Sa 578/54; LAG Berlin, AP 52 Nr. 15 u.a. Auf dem gleichen Standpunkt steht die Bundesregierung (vgl. BR Drucks. Nr. 17/56 und BT Drucks. Nr. 2024) in ihrer Begründung zu der Empfehlung Nr. 98 der JLO betr. den bezahlten Urlaub.
18
Besteht aber bundesrechtlich ein Urlaubsanspruch, dessen Regelung sich im einzelnen nach Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung, Arbeitsvertrag und den von Wissentschaft und der Gerichtspraxis herausgearbeiteten Grundsätzen bestimmt (vgl. die obigen Angaben), so besteht selbst bei einem so denaturierten Kodifikationsprinsip nach Art. 72 Abs. 1 Halbsatz 2 GG keine Kompetenz zu landesrechtlichen Urlaubsgesetzen. Denn die bundesrechtliche Regelung ist als Kodifikation (wenn auch nur in dem engeren Sinne zu II 2) als solche erschöpfend (Art. 3, 55 EGBGB).
19
Der Ausspruch der Verfassungswidrigkeit der nachkonstitutionellen landesrechtlichen Urlaubsgesetze braucht nach dem Gesagten auch nicht im geringsten zu einer Lücke oder zu einer Verschlechterung der Rechtstellung der Arbeitnehmer zu führen.
20
III.
Die Einwendungen gegen die Rechtsauffassung des Senats über das Kodifikationsprinzip und die Verfassungswidrigkeit des HUG schlagen nicht durch.
21
1.
Das gilt für die Ansicht, das Urlaubsrecht werde von der Sperrklausel der Art. 55, 3 EGBGB tatbestandsmässig nicht erfaßt. Diese Sperrklausel beziehe sich nur auf diejenigen Rechtsgebiete, die vom BGB als der umfassenden, dem Begriff nach lückenlosen Kodifikation des Privatrechts geregelt oder wenigstens im Grundsatz angesprochen worden seien. Die Urlaubsdauer, insbesondere die Festlegung eines gesetzlichen Mindesturlaubs, seien aber im BGB nicht geregelt. Bei Erlaß des BGB habe für derartige Regelungen der Sache nach offenbar ein Bedürfnis nicht bestanden. Ein solches Bedürfnis habe sich erst in jüngerer Zeit gezeigt, nachdem das Arbeitsrecht infolge der fortschreitenden Industriealiesierung vervollkommnet und zu einer weitgehend eigenständigen Rechtsmaterie entwickelt worden sei.
22
Dieser Gedankengang ist vorstehend bereits widerlegte. Er widerspricht dem Wortlaut und Sinn der Art. 55 und 3 EGBGB, also dem Kodifikationsprinzip. Das Rechtsgebiet ist nicht das Urlaubsrecht, sondern das Arbeitsvertragsrecht, das bundesrechtlich geregelt ist. Es ist widersinnig, den Begriff des Rechtsgebietes, der Rechtsmaterie zu eng und den anerkannten systematischen Ordnungsgrundsätzen zuwider aufzufassen. Urlaubsrecht ist ebensowenig ein Rechtsgebiet (Rechtsmaterie), wie das Recht der Treuepflichten, der Fürsorgepflicht, der Zeugnispflicht, der Lohnzahlungspflicht. Vielmehr handelt es sich um das Gebiet des Arbeitsvertragsrechts. Aber sogar der Urlaub ist durchaus im Grundsatz und in der entscheidenden Gestaltung in den §§ 618 und 242 angesprochen. Es ist auch irrtümlich, daß dem Gesetzgeber des BGB nicht die maßgebenden Gesichtspunkte der arbeitsvertraglichen Regelung des Rechts der Industriearbeitnehmer vor Augen gestanden hätten. (Vgl. z.B. die Reichstagsverhandlungen bei Mugdan Materialien Bd. 1 S. 898 ff., 907 ff., 930 ff., 946 ff. usw.). Vor allem ist es unrichtig und angesichts der allgemein bekannten Rechtsgeschichte seit 1900 unverständlich, das BGB statisch und nicht dynamisch, es nicht im Hinblick auf seine übrigens vorausgesehenen Entwicklungsmöglichkeiten und tatsächlichen Entwicklungen zu betrachten, die zur Bejahung des Urlaubsanspruchs, seiner Dauer und Ausgestaltung nach den §§ 242, 618, 612, 305 und namentlich nach den Tarifverträgen führen konnten und geführt haben.
23
2.
Weiter ist geltend gemacht worden, das Grundgesetz habe der Entwicklung - wie schon die Weimarer Reichsverfassung in Art. 7 - Rechnung getragen, als es im Kompetenzkatalog des Art. 74 in Nr. 12 das Gebiet des Arbeitsrechts, und zwar des privaten wie des öffentlichen Arbeitsrechts, gesondert von dem in Nr. 1 genannten Gebiet des bürgerlichen Rechts aufgeführt und damit als aus dem Bereich des bürgerlichen Rechts im engeren Sinne herausgelöstes, besonderes Rechtsgebiet anerkannt habe. Diese Erweiterung des Bereiches staatlicher Gesetzgebung und seine Absonderung vom hergebrachten Bereich des bürgerlichen Rechts hätte bei Erlaß des Einführungsgesetzes zum BGB nicht vorhergesehen werden können; sie werde daher von den Sperrklauseln des Einführungsgesetzes auch nicht erfaßt. Die "Materie des Urlaubsrechts" gehöre daher zum Bereich der vom Bund bisher nicht in Anspruch genommenen konkurrierenden Gesetzgebung.
24
Es trifft zu, daß das Arbeitsrecht ein eigenes vom bürgerlichen Recht (im engeren Sinne) zu trennendes Rechtsgebiet ist. Das gilt in der Tat schon für die Zeit der Weimarer Verfassung wie auch jetzt für das Grundgesetz. Damit ist aber nichts für die Gültigkeit der nachkonstitutionellen Länderurlaubsgesetze gewonnen. Das Arbeitsrecht hat unbestritten privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Bestandteile. Ein geschlossener Block des Arbeitsrechts ist das privatrechtliche Arbeitsvertragsrecht, das im BGB und anderen Reichs(Bundes)gesetzen geregelt ist. Eine auf Art. 74 Nr. 12 gestützte Landeskompetenz zum Erlaß privatrechtlicher Normen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts scheidet aus, weil der Bund (das Reich) die privatrechtlichen Beziehungen kodifikatorisch geregelt hat, und zwar auch, soweit sie das Arbeitsrecht betreffen. Jedenfalls aber ist das Arbeitsvertragsrecht einschließlich des Urlaubs durch die §§ 611 ff, 618, 242 geregelt. Die Gegenansicht verkennt auch, daß das Kodifikationsprinzip des BGB sich nicht auf das bürgerliche Recht im engeren Sinne des Wortes, sondern auf alle privatrechtlichen Normen erstreckt. (Vgl. Gebhard, Handkommentar zur Verfassung v. 11.8.1919, 1932 S. 97 Bem. 2 a). Genau so wenig wie es möglich ist, daß die Länder, gestützt auf Art. 74 Ziff. 11, auf dem Gebiet des nicht den Ländern vorgehaltenen Rechts der Wirtschaft (Industrie, Energiewirtschaft, Handwerk, Gewerbe, Handel, Bank und Börsenwesen, privatrechtliches Versicherungswesen) privatrechtliche Bestimmungen treffen, obwohl Ziff. 11 auch das privatrechtliche Wirtschaftsrecht umfaßt und im Kompetenzkatalog vom bürgerlichen Recht im engeren Sinne scheidet (vgl. Jahrb. d.öff. Rechts N.F. Bd. 1 S. 516 ff.), so ist dies auf dem Gebiet des Arbeitsrechts zulässig.
25
3.
Der Einwand, daß bei der herrschenden Auffassung des Kodifikationsprinzips die Verweisung des bürgerlichen Rechts, Wirtschaftsrechts und Arbeitsrechts unter die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nicht verständlich sei, verkennt die Bedeutung des Art. 74 GG für die nach dem EGBGB noch dem Landesrecht vorbehaltenen Gebiete sowie die Tatsache, daß die landesrechtliche Gesetzgebungskompetenz nach der Verfassung kein Dauerzustand ist, sondern nach Art. 72 Abs. 1 ihr Ende erreicht, wenn der Bund (oder das Reich im Hinblick auf Art. 125 GG) eine gesetzgeberische kodifikatorische Regelung getroffen hat.
26
4.
Schließlich hat man geltend gemacht (so Galperin in Rechtseinheit auf dem Gebiet des Arbeitsrechts S. 30, namentlich Anm. 6), die Art. 3 und 55 EGBGB seien Kompetenznormen, die mit den neuen Kompetenznormen des GGüber die konkurrierende Zuständigkeit in Widerspruch stünden und daher rechtsungültig seien, und zwar im Hinblick auf Art. 123 Abs. 1 GG.
27
Der Widerspruch zum GG würde bestehen und damit die Fortgeltung des Kodifikationsprinzips zu verneinen sein, wenn es sich bei den Bestimmungen der Art. 3 und 55 EGBGB wirklich um Kompetenznormen handeln würde. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr ist das Kodifikationsprinzip eine materiellrechtliche Vorschrift. Sie bestimmt den Geltungsbereich des BGB und besagt, daß die gesamten privatrechtlichen Beziehungen der Bürger zueinander durch das BGB bestimmt werden, soweit nicht ausdrückliche Vorschriften den Geltungsbereich einschränken. Ist somit das Kodifikationsprinzip keine Kompetenzregelung, so kann es den Artikeln 72, 74 GG nicht widersprechen. Seiner Fortgeltung steht nichts im Wege. Den zutreffenden Ausführungen von Nipperdey, NJW 1951 S. 899; Nikisch, Arbeitsrecht 2. Aufl. 1955 S. 51; Dahs, RdA 1949 S. 324 tritt der Senat bei. Keines der Lehrbücher und keiner der Kommentare, die nach 1949 neu erschienen sind und das EGBGB behandeln, hat an der Weitergeltung der Art. 55 und 3 im bisher anerkannten Umfang auch unter der Herrschaft des Grundgesetzes gezweifelt. Art. 74 GG enthält als reine Kompetenznorm nur eine Aussage darüber, auf welchen Rechtsgebieten der Landesgesetzgeber und der Bundesgesetzgeber potentiell Gesetze erlassen können. Davon ist aber die ganz andere Frage zu unterscheiden, in welchem Umfang der Bundesgesetzgeber aktuell die in Art. 74 GG genannten Materien geregelt hat, in welchem Umfange also aktuell, die Landesgesetzgebung gesperrt ist. Das ist keine Frage des Art. 74, sondern eine solche der Art. 72, 31 GG, Art. 55 und 3 EGBGB.
28
Daran ändert sich - wie dargelegt - nichts dadurch, daß in Art. 74 GG das Arbeitsrecht und das Recht der Wirtschaft neben dem bürgerlichen Recht (Ziff. 12, 11 einerseits, Ziff. 1 andererseits) genannt ist. Es ist dem Bundesgesetzgeber ebensowenig wie früher dem Reichsgesetzgeber verboten, mehrere der in Art. 74 GG genannten Materien in einem Gesetz zu regeln; denn Art. 74 ist keine Vorschrift in dem Sinne, daß für jeden der dort genannten Rechtsgegenstände ein spezielles Gesetz oder mehrere Gesetze ergehen müßten. Eine solche einheitliche Regelung für das bürgerliche Recht im engeren Sinne und das Arbeitsprivatrecht als Teil des Arbeitsrechts ist im BGB erfolgt, wie die §§ 611 ff zeigen. Infolgedessen umfaßt das Kodifikationsprinzip des BGB so, wie es das EGBGB bestimmt, auch das Arbeitsprivatrecht.
29
An dieser Rechtslage ändert die sogenannte föderalistische Grundstruktur des Grundgesetzes (Art. 70, 72 u.a.,) nichts. Die Verfassung erkennt die Erfordernisse der Rechtseinheit für die Gesetzgebung ausdrücklich an (Art. 72 Abs. 2), damit aber auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer erschöpfenden, die Landesgesetzgebung ausschließenden Regelung (vergl. auch BVGE 1, 293).
30
IV.
Liegt eine kodifikatorische Reichs-(Bundes)regelung vor, so muß im übrigen der Verfassungssatz: Bundesrecht bricht Landesrecht (Art. 31 GG) gleichfalls zur Unwirksamkeit des HUG führen. In dieser Richtung ist die historische Entwicklung und die maßgebende Literatur von besonderer Bedeutung.
31
Zur Zeit der Reichs Verfassung von 1871 geht die h.M. dahin, daß die Frage, in welchem Umfange eine reichsgesetzliche Regelung Landesrecht "bricht", d.h. für die Vergangenheit derogiert, für die Zukunft "sperrt" durch Auslegung der reichsgesetzlichen Regelung selbst zu ermitteln sei. Diese Auslegung kann nur von den Gerichten, nicht aber im Wege "interpretativer" Landesgesetze vorgenommen werden, da ja die Landesgesetzgebung für den betreffenden Gegenstand schlechthin gesperrt sei. Für diese Auslegung ist nach herrschender Meinung maßgebend, ob das Reichsgesetz eine Materie vollständig regeln wollte, nicht ob es sie auch tatsächlich vollständig geregelt hat. Vgl. Laband, Staatsrecht des deutschen Reichs, 4. Aufl. 1901 Bd. 2 S. 108:
"Landesgesetze zur Ergänzung der Reichsgesetze sind unzulässig, wenn das Reichsgesetz eine Materie vollständig regeln wollte gleichviel ob es dieses Ziel tatsächlich in befriedigender Weise erreicht hat oder nicht ... Ist eine Ergänzung der reichsgesetzlichen Bestimmungen erforderlich, so ist dieselbe den höheren allgemeinen Rechtsprinzipien zu entnehmen, denen die in dem Reichsgesetz sanktionierten Sätze sich logisch unterordnen ... die authentische und allgemein maßgebende Entscheidung eines solchen Zweifels kann nur durch ein Reichsgesetz erfolgen, welches den Sinn und die Tragweite des früheren Reichsgesetzes deklariert."
32
Ebenso Heinze, Das Verhältnis des Reichsstrafrechts zu dem Landesstrafrecht, Leipzig 1871, S. 23 und 31 ff.; Binding, Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 289 ff; Seydel, Annlen 1881 S. 597; v. Rönne-Zorn. Preuß. Staatsrecht, Bd. 2 Halbbd. 1 S. 7; RG in RGZ 64, 201 (197 ff.).
33
Die von Laband begründete Ansicht wird von Anschütz für die Zeit der WeimRV geteilt. In seinem Kommentar (14. Aufl. 1932) schreibt er in Bem. 3 b, c und d zu Art. 13:
"Die Aufhebung erstreckt sich auf alle den Gegenstand (den sachlichen Geltungsbereich) des Reichsgesetzes betreffenden Normen des Landesrechts ohne Unterschied der Form und des Inhalts. Landesgesetze, welche mit dem Reichsgesetz inhaltlich übereinstimmen, verfallen der Aufhebung nicht minder als solche, welche dem Reichsgesetz widersprechen. Der sachliche Umfang der Aufhebung des bestehenden Landesrechts entscheidet sich allein nach dem Reichsgesetz. Letzteres bricht die Herrschaft des Landesrechts, soweit es sie brechen will. Dasein und Tragweite dieses Willens sind durch Auflegung zu erforschen. Für die zur Anwendung der Reichs- und Landesgesetze berufenen Gerichte gilt hier kraft Reichsrechts volle Freiheit der Auslegung, oder anders ausgedruckt: Das Recht der Gerichte, die Landesgesetze auf ihre Reichsgesetzmäßigkeit zu prüfen und Landesgesetzen, die sie für "gebrochen" erachten, die Anwendung zu versagen, kann durch Landesgesetz nicht beschränkt werden, insbesondere nicht durch ein Landesgesetz, welches das Reichsgesetz in Bezug auf den Umfang seiner derogatorischen Wirkung interpretieren will. Denn: die "sperrende" Kraft des Reichsgesetzes besteht nicht nur darin, daß kein Landesgesetz erlassen werden darf, welches dem Reichsgesetz widerspricht, sondern darin, daß überhaupt keine den Gegenstand betreffenden Landesgesetze mehr ergehen können, auch nicht solche, die das Reichsgesetz wiederholen, bestätigen oder interpretieren."
34
Vgl. auch Gebhard, Verfassung S. 123.
35
Was das GG betrifft, so ist die Entstehungsgeschichte des dem Art. 13 WeimRV wörtlich entsprechenden Art. 31 GG zwar nicht ganz frei von Widersprüchen, steht aber der vom Senat vertretenen Ansicht nicht entgegen. In der 1. Lesung zu Art. 31 (6. Sitzung des Hauptausschusses des Parl. Rates vom 19.11.1948) beantragte Abg. Dr. Laforet, unterstützt vom Vorsitzenden Dr. Schmidt, dem Art. 31 eine Fassung zu geben, aus der hervorgehe, daß durch Bundesrecht nur widersprechendes, nicht aber gleichlautendes Landesrecht aufgehoben sein solle. Dazu wurden die Formulierungen "Bundesrecht geht vor Landesrecht" und "Bundesrecht bricht entgegenstehendes Landesrecht" vorgeschlagen. Es ist jedoch zu beachten, daß in der diesbezüglichen Diskussion (vgl. stenogr. Prot. S. 75 ff.) niemals die ganze Tragweite des Problems erörtert wurde, sondern daß man die erwähnte vorsichtigere Formulierung des Art. 31 nur zu dem Zweck ins Auge faßte, um zu verhindern, daß die weitergehenden Grundrechte, in einzelnen Länderverfassungen, namentlich die sozialen Grundrechte, mit dem Augenblick des Inkrafttreten des Grundgesetzes aufgehoben wären. Abg. Dr. Laforet zog seinen Antrag zurück, nachdem protokollarisch festgelegt worden war, daß es sich bei der Klausel "Bundesrecht bricht Landesrecht" nur um "entgegengesetztes" Landesrecht handle (vgl. stenogr. Prot. S. 76). Ein gleichlautender Antrag des Abg. Renner wurde abgelehnte.
36
In der 3. Lesung zu Art. 31 (48. Sitzung vom 9.2.1949) wiederholte der Abg. Dr. Laforet seinen in der 6. Sitzung gestellten Antrag, und zwar ebenfalls wieder mit dem Ziel auszuschliessen, daß weitergehende Landesgrundrechte durch engere Bundesgrundrechte aufgehoben würden. Es bestand jedoch Einigkeit darüber, daß mit der von Dr. Laforet vorgeschlagenen Formulierung keine Entscheidung über die Frage des Kodifikationsprinzips als solchen getroffen sei. Dr. Laforet erklärte ausdrücklich:
"Dagegen ist bei allen anderen Regelungen des Bundes (seil. außerhalb der ausschließlichen Kompetenz des Bundes), sei es im Grundgesetz, sei es in einem Gesetz, das der Bund im Vorrang erlassen hat, zu fragen, ob das Bundesrecht den Gegenstand abschliessend geregelt hat. In den Grundrechten zum Beispiel trifft der Bund eine Regelung, die eine weitere Einschränkung der Rechte des Staatsbürgers oder sonstiger Rechtspersönlichkeiten, zum Beispiel der Gemeinden, ausschließt. Dagegen kann die Landesverfassung zugunsten des Staatsbürgers oder anderer Rechtspersönlichkeiten weitergehen. Auch das gleichlautende Landesrecht wird durch das Grundgesetz nicht gehindert; denn es ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Es sind deshalb alle Bestimmungen in den Verfassungen der Länder rechtswirksam, die eine weitergehende oder sachlich gleiche Gewährleistung geben, wie sie im Grundgesetz oder einem sonstigen Bundesgesetz erfolgt ist."
37
Der Antrag Dr. Laforet wurde dem Fünferausschuß überwiesen (vgl. stenogr. Prot. S. 626 f.). Auf der 51. Sitzung vom 10.2.1949 teilte dann Abg. Dr. Brentano die Ergebnisse der Beratungen im Fünferausschuß dem hauptausschuß mit und sagte:
"Über den Grundsatz, daß Bundesrecht Landesrecht bricht, besteht weder in Hauptausschuß noch im Fünferausschuß Meinungsverschiedenheit, Wir wollten von diesem Wortlaut, der uns von der Weimarer Verfassung überkommen ist und einen fest umrissenen Inhalt hat, weder abgehen noch ihn einschränken."
38
Die von Dr. Laforet vorgeschlagene Fassung wurde daraufhin vom Hauptausschuß abgelehnt. Dafür wurde aber in das Grundgesetz die auf die Grundrechte der Länderverfassungen bezogene lex specialis des Art. 142 aufgenommen (vgl. stenogr. Ber. S. 673).
39
Es ist sonach festzustellen, daß die Frage des Umfanges des Vorranges von Bundesrecht vor Landesrecht, sowie sie während der Verfassung von 1871 und der WeimRV gesehen wurde, vom Parl. Rat zwar nicht erschöpfend erörtert wurde. Die oben zitierte Äußerung des Abg. Dr. von Brentano und die Tatsache, daß in Art. 142 GG eine von Art. 31 GG abweichende Spezialvorschrift für das Verhältnis von Landesgrundrechten zu Bundesgrundrechten geschaffen wurde, lassen aber darauf schliessen, daß im übrigen Art. 31 genau so auszulegen ist, wie das bei Art. 13 der WeimRV und nach der Reichsverfassung von 1871 geschah.
40
Der Auffassung von Dennewitz (Bonner Komm. Art. 31 Anm. II 2 b), Bundesrecht breche Landesrecht nur insoweit, als dieses mit jenem "im Widerspruch" stehe, dagegen nicht, wenn Landesrecht mit Bundesrecht vereinbar sei, ist abzulehnen. Dennewitz stützt sich zur Begründung seiner Ansicht unter Ablehnung der Auffassung von Anschütz auf eine Analogie zu Art. 142 GG. Die obigen Ausführungen über die Entstehungsgeschichte der Art. 31 und 142 GG haben aber gerade gezeigt, daß eine Analogie nicht möglich ist, weil Art. 142 GG gegenüber Art. 31 GG lex specialis ist und daher auf den allgemeinen Tatbestand (Art. 31) weder wortnoch sinngemäß übertragen werden kann.
41
Aber selbst wenn man annimmt, Bundesrecht breche Landesrecht nur insoweit, als es mit diesem "im Widerspruch" stehe, so muß in jedem einzelnen Falle gefragt werden, wann ein solcher Widerspruch anzunehmen ist. Er liegt auch dann vor, wenn ein Land gesetzliche Regeln erläßt, obwohl die Materie bereits vom Reich (Bund) gewollt kodifikatorisch also erschöpfend, wenn auch z.T. durch Generalklauseln geregelt ist. Denn dann widerspricht auch eine wiederholende, ergänzende, Lücken ausfüllende landesrechtliche Regelung dem übergeordneten Bundesrecht.
Nipperdey
Dr. Meier-Scherling
Dr. Poelmann
A. Wörner
Wieland
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