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Muskel-Skelett-System

Leben mit Oberschenkelprothese

Veröffentlicht am:10.11.2022

6 Minuten Lesedauer

Heinz Gräwe ist 34 Jahre alt und wohnt in Kerpen in Nordrhein-Westfalen. Der gelernte Orthopädietechnikermeister hilft Menschen nach einer Amputation, wieder laufen zu lernen. Seit seiner Jugend trägt er selbst eine Prothese.

Ein Mann mit Beinprothese geht eine Treppe hoch.

© iStock / 0802290022

Heinz Gräwe hebt bei einem Strongman Wettbewerb einen schweren Stein an.
Mit seiner Prothese aus Carbon und Titan kann Heinz Gräwe sogar an sogenannten Strongman-Wettbewerben teilnehmen.

© privat

Heinz Gräwe ist 34 Jahre alt und lebt in Kerpen in Nordrhein-Westfalen. Im Kindes- und Jugendalter war er schwer krebskrank. In der Folge wurde sein Oberschenkel amputiert. Um sich selbst zu helfen, entschied sich der Diplom-Mikrobiologe nach dem Studium für eine Ausbildung zum Orthopädietechniker und legte später noch die Meisterprüfung ab. Nachdem er jahrelang Prothesen für andere Menschen baute, wechselte er Anfang 2021 zur AOK Rheinland/Hamburg. Dort arbeitet er nun als Fachexperte und Gutachter.

Mit seiner eigenen Prothese aus Carbon und Titan startet er bei Strongman Wettbewerben, einer Extremsportart, bei der die Teilnehmer und Teilnehmerinnen LKWs ziehen oder 200-Kilo-Steine hochheben. Im Umgang mit seiner Behinderung wünscht er sich weniger Berührungsängste – deshalb trägt er Sommer wie Winter kurze Hosen, die seine Prothese sichtbar machen.

Weniger Berührungsängste mit dem Thema Behinderungen

An einem Morgen erscheint Heinz Gräwe wie gewöhnlich zur Arbeit bei der AOK Rheinland/Hamburg, wo er als Fachexperte und Gutachter tätig ist. Als er das Bürogebäude betritt, fällt ihm auf, dass der Aufzug ausgefallen ist. Er muss Treppen steigen. Er ist fit – für ihn stellt das kein Problem dar – aber er beschließt sich einen Spaß mit seinen Kollegen und Kolleginnen zu erlauben. „Jetzt muss ich hier auch noch Treppen laufen, das ist aber nicht behindertengerecht“, beschwert er sich scheinbar beim Betreten des Büros. Einige Köpfe drehen sich nach ihm um, Unverständnis im Blick. „Wieso?“ Erst einen Moment später verstehen die anderen die Anspielung auf seine Oberschenkelprothese. Sie ist immer sichtbar, weil Heinz Gräwe seit der Amputation das ganze Jahr hindurch nur noch kurze Hosen trägt. Aber für seine Kollegen und Kolleginnen ist das längst schon zur Normalität geworden, sie achten nicht mehr darauf. „Das ist toll“, findet Heinz. So wünscht er sich dem Umgang mit seiner Behinderung – mehr Normalität, weniger Berührungsängste.

Die haben aber leider viele. „Am schlimmsten finde ich es, wenn ich zum Beispiel in der Innenstadt unterwegs bin und Eltern mit Kindern begegne. Oft zeigen die Kinder dann auf meine Prothese und fragen aufgeregt ihre Eltern, was das ist. Die schämen sich aber oft so sehr, dass sie die Kinder sofort zum Schweigen bringen oder weiterziehen. Ich würde mir wünschen, dass Menschen sich mir gegenüber entspannter verhalten würden und ihren Kindern vielleicht einfach erlauben würden, mit mir zu reden und mir ihre Fragen zu stellen. Indem ich mit kurzer Hose herumlaufe, zeige ich ja bereits, dass ich kein Problem mit meiner Behinderung habe. Sonst hätte ich eine lange Hose an und niemand könnte sehen, dass ich eine Prothese trage“, erzählt Heinz. Das Thema liegt ihm am Herzen.

Strongman Wettkämpfe mit Oberschenkelprothese

Die Idee mit der kurzen Hose kam ihm direkt nach seiner Amputation: „Ich wollte meine Amputation nicht verstecken, sondern sie anderen Menschen zeigen – und wenn gewollt, auch etwas darüber erzählen.“ Seit er acht Jahre alt ist, hat Heinz Gräwe drei verschiedene Krebserkrankungen durchgemacht. Er ist im Kindes- und Jugendalter hunderte Male operiert worden – lange Zeit hat er sogar im Rollstuhl gesessen und konnte sich gar nicht bewegen. „Wenn man mit solch schlimmen Sachen aufwächst, ist das nun mal die eigene Normalität. Die Prothese ist für mich ein Gewinn, ich habe seitdem viel mehr Freiheiten. Das ist etwas Positives und nichts Negatives für mich“, stellt er fest.

Diese wiedergewonnenen Freiheiten nutzt Heinz: Mit seiner Prothese aus Carbon und Titan – das „Modell Ferrari“, wie er es selbst nennt, für 75.000 bis 80.000 Euro – nimmt er an Strongman Wettbewerben teil. Das ist eine Extremsportart, bei der Teilnehmer und Teilnehmerinnen LKWs ziehen oder Steine mit einem Gewicht von 200 Kilo hochheben. Um diese Hightech-Prothese zu bekommen, musste er zeigen, dass er sie für die Ausübung seines Sports unbedingt braucht. Dann übernimmt die Krankenkasse auch die Kosten für ein hochpreisiges Modell. Seine vorherige Standard-Prothese schränkte ihn ein und verhinderte, dass er im Training weiterkommen konnte.

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Menschen mit Prothesen versorgen

Inzwischen plant Heinz Gräwe zusammen mit Sanitätshäusern die Versorgung von anderen Amputierten. Nach der Operation, bei der die Gliedmaße entfernt wird, bekommen Menschen nach etwa fünf bis sechs Wochen eine prothetische Versorgung. Als Orthopädietechnikermeister hat Gräwe selbst komplette Prothesen gebaut. Dafür wird zunächst ein Gipsabdruck von der noch vorhandenen Gliedmaße angefertigt. Auf dieser Basis wird dann die fertige Prothese geschaffen. Das geschieht in großen Werkstätten mit Schleifmaschinen und Hochöfen.

Nachdem er jahrelang Prothesen für sich und andere Menschen gebaut hat, ist Gräwe nun angetreten, bei der AOK die bestmögliche Versorgung für amputierter Menschen zu ermöglichen. Bei komplizierten Fällen bespricht er sich immer mit seinen Meister-Kollegen und ‑Kolleginnen.

Prothesen in hunderten Varianten

Als Orthopädietechnikermeister kennt er sich aus und nutzt gerne ein Auto-Beispiel, um zu erklären, wie groß die Vielfalt an Prothesen ist. „Es gibt sie in den verschiedensten Geschwindigkeiten und Preisklassen. Das heißt: Die 75-jährige Oma kann mit ihrem „Kleinwagen“ noch einkaufen gehen und die Treppe rauf und runter steigen. Sie wird damit aber eher nicht joggen gehen oder sich im Garten ins Beet knien. Ein anderes Modell hat hingegen mehr Funktionen. Damit kann man sich hinknien und es ist spritzwassergeschützt, sodass man in den Regen gehen kann. Und dann gibt es echte Hightech-Prothesen, die so teuer sind wie ein Porsche und mit denen man aufs Laufband gehen oder Kraftsport machen kann. So eine trage ich zum Beispiel. Die ist sogar wasserdicht, ich könnte also theoretisch damit tauchen“, erklärt Heinz Gräwe. Es gibt auch noch eine weitere Funktion: Manche Prothesen sind über eine App einstellbar. Man gibt zum Beispiel an, dass man Tischtennis spielen möchte, dann lässt sich das Gelenk nicht mehr komplett einbeugen, sodass man von dem einen auf das andere Bein springen kann.

Inzwischen gibt es, glaube ich, 600 Füße und 400 Kniegelenke, das ist eine enorme Vielfalt an Möglichkeiten. Für Therapeuten und Therapeutinnen und auch für medizinisches Fachpersonal ist es daher schwer, den Überblick zu behalten“, weiß Heinz Gräwe aus eigener Erfahrung.

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Menschen wieder das Laufen lehren

Umso wichtiger ist seine Arbeit. Heinz Gräwe begleitet auch Menschen nach einer Amputation dabei, die ersten Schritte mit der Prothese zu machen. Er zeigt ihnen, was noch alles möglich ist, und bringt sie im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine. „Ich weiß genau, wie sich das anfühlt. Dadurch habe ich ein gutes Gespür dafür, wie ich Dinge erklären muss, damit Patienten und Patientinnen es verstehen“, sagt er. Das Alter der Menschen, die er unterstützt, ist sehr unterschiedlich. Manche sind erst acht oder neun Jahre alt, aber das ist eher selten. In solchen Momenten fühlt er sich an seine eigene Kindheit erinnert. „Ich bin ein sehr positiver Mensch und habe eigentlich nie Phasen, in denen ich mich niedergeschlagen fühle. Aber so etwas nehme ich dann schon mit nach Hause, das geht mir sehr nahe“, weiß er über sich selbst. Umso mehr beeindrucken ihn die schnellen Fortschritte seiner jüngsten Patienten und Patientinnen: „Die meisten Kinder lernen eigentlich wie von allein das Laufen mit der Prothese. Irgendwann stellen sie sich hin und können es einfach wieder.“ Ganz andere Erfahrungen macht er mit älteren Menschen, die wegen Diabetes oder Verschlusskrankheiten eine Amputation bekommen. Die meisten von ihnen haben am Anfang große Angst, der Prothese zu vertrauen. Aber Heinz Gräwe hat auch für sie wertvolle Tipps, die ein normales Leben im häuslichen Umfeld wieder möglich machen.

Die Mobilität und Fitness wieder herzustellen, ist das Wichtigste. Besonders bei Patienten und Patientinnen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. „Die jungen Männer und Frauen müssen wir wieder richtig ins Laufen bringen, damit keine Fehl- und Überbelastungen entstehen, die Folgeerkrankungen nach sich ziehen könnten. Sie müssen lernen, der Prothese zu vertrauen, das kostet Überwindung und ist oftmals eine reine Kopfsache“, weiß er. Die Sorgen und Nöte, mit denen sich junge Menschen an ihn wenden, liegen aber teilweise in ganz anderen Bereichen. Die häufigste Frage: „Wie soll ich mit nur einem Bein noch Sex haben? Kann ich noch einen Partner oder eine Partnerin finden?“, lacht er und antwortet: „Wenn du offen und selbstbewusst mit deiner Behinderung umgehst, kannst du dein Leben so gestalten, wie du es magst.“

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