Gehirn & Nerven
Wie funktioniert die Tiefe Hirnstimulation und wem kann sie helfen?
Veröffentlicht am:22.05.2025
10 Minuten Lesedauer
Die Tiefe Hirnstimulation stellt für Menschen mit schweren neurologischen Erkrankungen eine Chance auf ein besseres Leben dar. Wie diese faszinierende Technik funktioniert und für wen sie geeignet ist, erklärt eine Expertin im Interview.

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Inhalte im Überblick
- Tiefe Hirnstimulation: Hoffnung für Menschen mit Parkinson und anderen Nervenleiden
- Wie wird entschieden, wer für die Tiefe Hirnstimulation geeignet ist?
- Wie läuft der Eingriff zur Implantation der Elektroden und des „Schrittmachers“ ab?
- Risiken und Nebenwirkungen bei einer Tiefen Hirnstimulation
- Was müssen Menschen mit einem THS-System im Alltag beachten?
- Welche technischen Neuerungen hat es in letzter Zeit gegeben?
Tiefe Hirnstimulation: Hoffnung für Menschen mit Parkinson und anderen Nervenleiden

© Michael Wodak
Die Tiefe Hirnstimulation (THS), englisch Deep Brain Stimulation (DBS), umgangssprachlich auch als „Hirnschrittmacher“ bezeichnet, ist eine Behandlungsmethode, die bei verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt wird, am häufigsten bei neurodegenerativen Erkrankungen: Krankheiten des Nervensystems mit einem fortschreitenden Verlust von Nervenzellen.
Für die THS werden winzige Elektroden operativ im Gehirn platziert. Die Elektroden sind über feine Kabel unter der Haut mit dem eigentlichen „Schrittmacher“ verbunden, der unter der Brust- oder Bauchhaut implantiert wird. Die Elektroden stimulieren dann gezielt bestimmte Hirnregionen. Was genau passiert bei diesem Eingriff? Wie funktioniert die Technik und für wen ist sie geeignet?
Diese und weitere Fragen beantwortet Frau Prof. Dr. Veerle Visser-Vandewalle. Sie ist Direktorin der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie an der Uniklinik Köln.
Frau Prof. Dr. Veerle Visser-Vandewalle,was ist die prinzipielle Wirkungsweise der Tiefen Hirnstimulation?
Es geht um bestimmte Erkrankungen, deren Symptome die Folge einer verminderten Aktivität oder Überaktivität tief im Gehirn sind. Diese Symptome können gelindert werden, indem die Funktion der Nervenzellen in diesen Arealen durch elektrischen Strom beeinflusst wird. Hierzu werden feine Elektroden zielgenau im Gehirn platziert. „Tief“ nennt man die Stimulation, weil die Zielstrukturen nicht auf der Oberfläche des Gehirns liegen, sondern oft auch sechs bis acht Zentimeter in der Tiefe.
Bei welchen Erkrankungen kommt eine Tiefe Hirnstimulation (THS) in Betracht?
Die meisten Anwendungsfälle kommen aus dem Bereich der Bewegungsstörungen, an erster Stelle die Parkinson-Krankheit.
Daneben sind häufige Indikationen für die THS:
- Der Essenzielle Tremor, gekennzeichnet durch rhythmisches Zittern beider Hände oder gegebenenfalls anderer Körperteile und
- Dystonien – das sind Bewegungsstörungen, bei denen eine unwillkürliche und nicht unterdrückbare, anhaltende oder immer wieder auftretende Muskelkontraktion zu abnormalen, sich häufig wiederholenden Bewegungen oder abnormalen Haltungen führt.
Neben Bewegungsstörungen kommen unter anderem auch bestimmte psychiatrische Erkrankungen für eine THS in Frage. Mehrere Studien haben die Möglichkeiten der THS zur Behandlung von streng selektierten Patienten und Patientinnen mit Zwangserkrankung oder Tourette-Syndrom belegt. Daneben kann auch eine austherapierte Depression mit der THS behandelt werden. Zu guter Letzt werden auch die Möglichkeiten der THS zur Behandlung der Alzheimer-Demenz erforscht.
Wann kommt die Tiefe Hirnstimulation in Frage?
Die THS ist immer die Therapie der letzten Wahl: Ausschließlich Patienten und Patientinnen, die nicht mehr konservativ behandelt werden können, kommen für eine THS in Frage. Bei Patienten und Patientinnen mit Bewegungsstörungen geht es beispielsweise darum, dass sie nicht mehr auf Medikamente reagieren, dass die Auswirkungen der Medikamente unvorhersehbar werden oder dass die Patienten und Patientinnen zu sehr unter den Nebenwirkungen der Medikamente leiden. Für die psychiatrischen Erkrankungen geht es dabei nicht nur um medikamentöse Behandlungen, sondern auch um Psychotherapie.
Kann ein THS-System Parkinson oder andere Krankheiten heilen oder nur die Symptome lindern?
Die THS ist per Definition eine symptomatische Behandlung. Das bedeutet, dass nur den Symptomen entgegengewirkt werden kann und dass im Falle einer neurodegenerativen Erkrankung (wie die Parkinson-Erkrankung) die Krankheit selbst weiter fortschreitet. Durch die THS erfahren die Patienten jedoch für viele Jahre einen deutlichen Gewinn an Lebensqualität.
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Wie wird entschieden, wer für die Tiefe Hirnstimulation geeignet ist?
Die Entscheidung, ob ein Patient für die THS geeignet ist, wird immer multidisziplinär getroffen, also in einem Team, an dem Experten und Expertinnen aus unterschiedlichen Fachbereichen teilnehmen.
In der Uniklinik Köln findet jede Woche eine multidisziplinäre THS-Konferenz statt, in der alle Patienten und Patientinnen, die zur Eignung einer THS getestet worden sind, von einem Team aus den Bereichen Neurologie, Neurochirurgie, Neuropsychologie und Psychiatrie ausführlich besprochen werden. Nur, wenn alle den Patienten oder die Patientin für die Operation geeignet halten, bieten wir eine solche Operation an. Auf die gleiche Weise gelangen wir auch zur Entscheidung für eine THS bei psychiatrischen Erkrankungen – immer zusammen mit einem Kollegen oder einer Kollegin aus der Psychiatrie, der oder die viel Erfahrung mit der THS hat.
Für die Bewegungsstörungen Parkinson-Krankheit, Essenzieller Tremor und Dystonie gibt es grundsätzlich eine Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenkassen. Für die psychiatrischen Erkrankungen wird erst die Krankenkasse mit der Bitte um Kostenübernahme kontaktiert.
Wie läuft der Eingriff zur Implantation der Elektroden und des „Schrittmachers“ ab?
Die Elektroden müssen sehr präzise in ein bestimmtes Areal im Gehirn implantiert werden. Für jede Erkrankung gibt es ein bestimmtes Areal der Wahl. Die Kunst dabei ist es, bei jedem Patienten oder jeder Patientin den optimalen Zielpunkt innerhalb dieses Areals festzulegen und dort die Elektrode zu implantieren. Das bedeutet, dass die Implantation der Elektroden millimetergenau durchgeführt werden muss. Dafür fixieren wir zuerst einen sogenannten stereotaktischen Rahmen am Kopf des Patienten. Dieser Rahmen ist ein Referenzsystem, anhand dessen wir die 3D-Koordinaten des Zielareals und des Bohrlochs mit einer bestimmten Software festgelegen können. Durch diese Planung erreichen wir das Zielareal, ohne Gefäße zu berühren. Dafür wird vor der Operation auch ein MRT angefertigt sowie nach der Rahmenfixierung ein CT.
„Die Elektroden müssen sehr präzise in ein bestimmtes Areal im Gehirn implantiert werden. Für jede Erkrankung gibt es ein bestimmtes Areal der Wahl. Die Kunst dabei ist es, bei jedem Patienten oder jeder Patientin den optimalen Zielpunkt innerhalb dieses Areals festzulegen und dort die Elektrode zu implantieren.“
Prof. Dr. Veerle Visser-Vandewalle
Direktorin der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie an der Uniklinik Köln
Teststimulation: millimeterweise zum optimalen Zielpunkt
Sobald die 3D-Koordinaten festliegen, beginnt die eigentliche Operation. Durch ein kleines Bohrloch werden eine oder gegebenenfalls zwei sehr feine Messelektroden implantiert, mit der die elektrische Aktivität im Gehirn Millimeter für Millimeter gemessen wird. Dort, wo die typische elektrische Störung gesehen wird, erfolgt eine Teststimulation, um die Schwelle für eine gute Wirkung sowie auch die Schwelle für Nebenwirkungen festzulegen. Der Punkt, bei dem es eine niedrige Schwelle für eine gute Wirkung und eine hohe Schwelle für Nebenwirkungen gibt, ist der optimale Zielpunkt. Hier implantieren wir nach der Entfernung der Messelektroden dann die finale Elektrode. Dieses Verfahren mit Messungen und Teststimulation ist der Goldstandard.
Welche Anästhesieform bei einer Tiefen Hirnstimulation am besten ist
Dieses Vorgehen erklärt auch, warum der Patient oder die Patientin nicht die ganze Zeit tief schlafen sollte. Für jeweils zwei Mal 15 Minuten (15 Minuten rechts und 15 Minuten links) ist der Patient oder die Patientin wacher, so dass wir testen können. Der Eingriff erfolgt deshalb in der Regel in Analgosedierung (Anmerkung der Redaktion: Bei der Analgosedierung ist der Patient oder die Patientin nur sediert, also beruhigt, die Schmerzen werden jedoch ausgeschaltet). Es ist aber auch möglich, die komplette Operation in Vollnarkose durchzuführen. Wir können zwar auch dann die elektrische Aktivität messen, es ist jedoch logisch, dass die Teststimulation in Vollnarkose etwas eingeschränkter ist. Die Sprache zum Beispiel kann so natürlich nicht getestet werden.
Implantation des „Schrittmachers“ ist ein separater Eingriff
Diese erste Operation zur Implantation von Elektroden ist eine minimalinvasive Operation (es werden nur zwei kleine Bohrlöcher gemacht). Sie ist allerdings durch die Berechnungen für die 3D-Koordinaten, die Messungen und die Teststimulation sehr zeitaufwendig. Danach folgt eine zweite Operation zur Implantation eines Impulsgenerators. Abhängig vom Wunsch des Patienten oder der Patientin erfolgt die zweite Operation oft zwei Tage später. Hierbei handelt es sich dann um eine kurze Operation unter Vollnarkose, die weniger als eine Stunde dauert. Die Elektroden werden über feine Verlängerungsdrähte, die unter der Haut hinter dem Ohr durchgezogen werden, mit einem Impulsgenerator („Schrittmacher“) verbunden, der unter der Haut, meistens unter dem Schlüsselbein, implantiert wird.
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Welche Risiken sind mit der Operation verbunden?
Bei jeder Operation besteht ein Risiko auf eine Blutung. Im Falle einer THS ist dieses Risiko sehr gering und beträgt deutlich weniger als ein Prozent. Das Risiko kann deshalb so niedrig gehalten werden, weil auf den MRT- und CT-Scans, die für die Operation gemacht werden, auch kleinste Gefäße sichtbar werden, und wir den Verlauf der Elektrode so simulieren und planen können, dass keine Gefäße berührt werden. Neben dem Risiko einer Blutung besteht auch immer ein Risiko auf Infektion. Bei der THS-Implantation liegt es bei etwa 3,5 Prozent. Wenn eine Infektion auftritt, tritt diese in 99 Prozent der Fälle im Bereich des Generators auf. Bei der Hälfte der 3,5 Prozent können diese Infektionen mit Antibiotika behandelt werden, bei der anderen Hälfte muss das Gerät vorübergehend entfernt werden, um es drei Monate später wieder zu implantieren.
Welche Nebenwirkungen sind bei einer Tiefen Hirnstimulation möglich?
Die Nebenwirkungen durch die Stimulation sind abhängig vom stimulierten Hirnareal. Bei der Parkinson-Erkrankung ist dies der Nucleus subthalamicus. Dadurch besteht das Risiko von Persönlichkeitsveränderungen, die bei etwa 10 bis 15 Prozent der Fälle beobachtet werden. Im Fall des Essenziellen Tremors sind Sprach- und Gangstörungen möglich: Der Patient oder die Patientin hat zum Beispiel das Gefühl, wie mit einer dicken Zunge zu sprechen oder fühlt sich beim Gehen weniger stabil. Durch eine THS bei Zwangserkrankung kann es zu einer erhöhten Impulsivität kommen. Diese hängt meist mit dem tiefsten Kontakt der Elektrode zusammen und kann leicht behoben werden.
Wann treten diese Nebenwirkungen typischerweise auf und wie können sie beseitigt werden?
Unerwünschte Nebenwirkungen der Stimulation treten in der Regel innerhalb der ersten Monate auf. Es kommt normalerweise nicht vor, dass dies erst nach längerer Zeit geschieht. Die Nebenwirkungen sind aber reversibel: Wenn die Stimulation reduziert oder ausgeschaltet wird, verschwinden diese Nebenwirkungen wieder. So können sie meist schnell behoben werden oder es lässt sich ein Kompromiss dafür finden. Die Kunst besteht darin, durch die Anpassung der Stimulationsparameter die gute Wirkung ohne Nebenwirkungen zu behalten.
„Die Nebenwirkungen sind reversibel: Wenn die Stimulation reduziert oder ausgeschaltet wird, verschwinden diese Nebenwirkungen wieder.“
Prof. Dr. Veerle Visser-Vandewalle
Direktorin der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie an der Uniklinik Köln
Was müssen Menschen mit einem THS-System im Alltag beachten?
Nach der Implantation eines THS-Systems können Patienten und Patientinnen für gewöhnlich alles tun wie zuvor, mit Ausnahme von ein paar Dingen, die berücksichtigt werden müssen. In Deutschland gibt es zum Beispiel ein Gesetz, wonach Menschen nach einer Hirnoperation (also auch nach einer THS-Implantation) über einen Zeitraum von drei Monaten kein Auto fahren dürfen. Im Flughafen darf der Patient oder die Patientin nicht durch die Sicherheitsschleuse gehen und generell darf der Körper keinem Strom ausgesetzt sein wie zum Beispiel im Rahmen manch einer physiotherapeutischen Behandlung. Ein MRT des Kopfes oder andere Körperteile ist weiterhin möglich, allerdings müssen dann bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Und im Falle einer späteren Operation muss der Operateur oder die Operateurin auf einige elektrisch unterstütze Techniken verzichten. Dies sind alles Dinge, die auch für Menschen mit einem Herzschrittmacher gelten.
Welche technischen Neuerungen hat es in letzter Zeit gegeben?
In den letzten zehn Jahren gab es signifikante technische Fortschritte. 2015 sind die sogenannten direktionalen Elektroden auf den Markt gekommen. Davor gab es nur Elektroden mit vier (oder acht) ringförmig angeordneten Kontakten. Das heißt, wenn ein Kontakt eingeschaltet ist, erfolgt die Stimulation immer im 360-Grad-Radius um diesen Kontakt herum. Die direktionalen Elektroden geben uns hingegen die Möglichkeit, nur in eine bestimmte Richtung zu stimulieren, also zum Beispiel weg von einer Struktur, die zu bestimmten Nebenwirkungen wie Sprachstörungen führen würde. Mit diesen direktionalen Elektroden werden die oben genannten Nebenwirkungen der THS weniger häufig beobachtet. Auch was die MRT-Tauglichkeit betrifft, gibt es weitere Fortschritte.
Brain-Sensing-Technologie für bedarfsgerechte Stimulation
Zuletzt ist mit der Brain-Sensing-Technologie wieder ein weiterer wichtiger Schritt in der Entwicklung der THS-Systeme hinzugekommen. Mit den neuesten Implantaten kann nicht nur Strom abgegeben, sondern auch die elektrische Aktivität tief im Gehirn abgeleitet werden. Anhand der gemessenen Hirnsignale kann dann die Stimulationseinstellung weiter optimiert werden. Eine sehr wichtige Eigenschaft ist, dass der „Hirnschrittmacher“ mit diesem System so programmiert werden kann, dass die Stromstärke automatisch an die Symptome angepasst wird. Dies wird als sogenannte adaptive oder Closed-Loop-Stimulation bezeichnet. In der Uniklinik Köln haben wir gerade mit einer Studie zu dieser adaptiven Stimulation begonnen.
„Eine sehr wichtige Eigenschaft der der Brain-Sensing-Technologie ist, dass der ‚Hirnschrittmacher‘ mit diesem System so programmiert werden kann, dass die Stromstärke automatisch an die Symptome angepasst wird.“
Prof. Dr. Veerle Visser-Vandewalle
Direktorin der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie an der Uniklinik Köln
Was bedeutet es, wenn ein „Schrittmacher“ wiederaufladbar ist?
Ein wesentlicher Vorteil des wiederaufladbaren „Schrittmachers“ ist, dass er nicht nach ein paar Jahren ausgetauscht werden muss. Die Zeit, nach der ein nicht wiederaufladbares Gerät ersetzt werden muss, hängt vom individuellen Stromverbrauch ab und liegt bei Patienten und Patientinnen mit Bewegungsstörungen zwischen drei und sieben Jahren. Dieser Austausch geht immer mit einer kleinen Operation einher. Die wiederaufladbaren Systeme bleiben zwischen 15 bis 25 Jahre aktiv, so lange ist also keine Operation nötig. Ein weiterer Vorteil ist ihre geringere Größe. Das Wiederaufladen ist einfach und erfolgt in der Regel ein Mal pro Woche. Mit einem kabellosen Gerät, das in einer Art Weste über den „Schrittmacher“ gelegt wird, kann das System aufgeladen werden. Währenddessen kann der Patient oder die Patientin anderen Tätigkeiten nachgehen.