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    BSG 26.03.2025 - B 4 AS 102/23 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Bindung des Gerichts an die erhobenen Ansprüche - Auslegung und Begrenzung des Klagebegehrens - anwaltliche Vertretung

    Normen

    § 160a, § 160, § 123, § 133

    Vorinstanz

    vorgehend SG Dortmund, 2. Juni 2022, Az: S 69 AS 3909/20, Urteil
    vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 23. Oktober 2023, Az: L 7 AS 1274/22, Beschluss

    Tenor

    Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Oktober 2023 aufgehoben.

    Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

    Gründe

    1

    I. In dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten noch über die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Monate August bis Dezember 2020 als Zuschuss anstelle eines Darlehens.

    2

    Der Kläger ist Alleineigentümer eines von ihm selbst bewohnten Hausgrundstücks von 861 qm Größe mit einem geschätzten Verkehrswert von 60 000 Euro. Dieses berücksichtigte der Beklagte als verwertbares Vermögen und bewilligte - wie bereits für den vorangegangenen Bewilligungszeitraum - Leistungen für die Zeit vom 1.7.2020 bis zum 31.12.2020 lediglich als Darlehen (Bescheid vom 1.7.2020). Der ua auf eine zuschussweise Leistungsgewährung gerichtete Widerspruch des Klägers blieb insoweit ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 12.8.2020).

    3

    Der anwaltlich vertretene Kläger hat hiergegen mit Schriftsatz vom 8.9.2020 Klage erhoben und den Antrag angekündigt, den Beklagten unter teilweiser Abänderung seiner Bescheide zu verpflichten, Grundsicherungsleistungen "zuschussweise für die Zeit vom 01.07.2020 bis zum 31.07.2020 zu gewähren". In der mündlichen Verhandlung hat das SG darauf hingewiesen, dass nach § 67 SGB II für ab März 2020 beginnende Bewilligungszeiträume eine zuschussweise Leistungsgewährung in Betracht komme. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die parallel verhandelte Klage auf zuschussweise Leistungsgewährung für den vorhergehenden Bewilligungszeitraum zurückgenommen und folgendes zu Protokoll erklärt:



     "Ich sehe gerade, dass es sich bei dem hier gestellten Antrag um einen Tippfehler handelt. Die Leistungen sollten zuschussweise für den Zeitraum Juni 2020 bis 31.12.2020 gewährt werden. Das müsste auch ersichtlich sein, da Bezug auf den entsprechenden Bescheid und Widerspruchsbescheid genommen wird."

    4

    Nachdem der Beklagte den Anspruch auf zuschussweise Leistungen für Juli 2020 anerkannt hatte, hat das SG die bezogen auf die Monate August bis Dezember 2020 weiterverfolgte Klage abgewiesen, weil insoweit zwar eine zulässige Klageänderung vorgelegen habe, die geänderte Klage aber aufgrund Verfristung unzulässig sei (Urteil vom 2.6.2022). Die Berufung des Klägers hat das LSG unter Bezugnahme auf die Gründe der angegriffenen Entscheidung und seines zuvor ergangenen Beschlusses über die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren zurückgewiesen (Beschluss vom 23.10.2023).

    5

    Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Er rügt einen Verfahrensmangel, weil die Vorinstanzen sein ursprüngliches Klagebegehren unzutreffend ausgelegt hätten.

    6

    II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG). Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Urteil des LSG beruht auf einem vom Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichneten Verfahrensmangel (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das LSG hat das Begehren des Klägers nicht zutreffend erfasst und hierdurch § 123 SGG verletzt. Das LSG hätte die Berufung des Klägers nicht unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Urteils zurückweisen dürfen, wonach mit der ursprünglichen Klage die Umwandlung der als Darlehen gewährten Leistungen in einen Zuschuss lediglich für den Monat Juli 2020 begehrt worden sei und der in der mündlichen Verhandlung formulierte weitergehende Antrag eine zwar zulässige Klageänderung darstelle, die geänderte Klage aber wegen Verfristung unzulässig sei.

    7

    Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Hieraus ergibt sich, dass sich die Bindung des Gerichts auf den erhobenen Anspruch, auf das sog Klagebegehren bezieht. Unter dem Klagebegehren ist der prozessuale Streitgegenstand zu verstehen, also der Lebenssachverhalt und dasjenige, was der Kläger auf dieser Grundlage als gerichtliche Entscheidung anstrebt (vgl BSG vom 13.6.2013 - B 13 R 454/12 B - juris RdNr 13; vgl zum Begriff des Streitgegenstands zB BSG vom 17.12.2023 - B 1 KR 70/12 R - BSGE 115, 95 = SozR 4-2500 § 2 Nr 4, RdNr 32). Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem - aber nicht nur - bei nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage bzw der Berufung verfolgte Prozessziel, im Wege der Auslegung festzustellen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass nach Maßgabe des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (stRspr; zB BSG vom 23.3.2021 - B 8 SO 16/19 R - BSGE 132, 41 = SozR 4-3500 § 27b Nr 2, RdNr 10 mwN). Ein Wille des Klägers zur Begrenzung des Streitgegenstands muss klar und eindeutig zum Ausdruck gekommen sein (BSG vom 23.2.2005 - B 6 KA 77/03 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 2 RdNr 8 - juris RdNr 15 mwN; BSG vom 19.3.2020 - B 4 AS 54/20 B - juris RdNr 6; vgl zur Möglichkeit der konkludenten Erklärung aber auch BSG vom 26.2.2019 - B 12 R 8/18 R - juris RdNr 14).

    8

    Bei Prozesserklärungen wie der Klageerhebung (§ 90, § 92 Abs 1 SGG) hat das Revisionsgericht die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, also das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln. Dabei ist nach dem in § 133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (vgl zum Ganzen nur BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 6; BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 651/15 B - juris RdNr 7 mwN).

    9

    Vorliegend wurde mit der Klageschrift zwar der Antrag angekündigt, den Beklagten unter teilweiser Abänderung seiner Bescheide zu verpflichten, Grundsicherungsleistungen "zuschussweise für die Zeit vom 01.07.2020 bis zum 31.07.2020 zu gewähren", jedoch ist erkennbar, dass diese scheinbare Beschränkung des Begehrens auf einen einzelnen Monat des Bewilligungszeitraums bereits bei Klageerhebung nicht dem tatsächlichen Klagebegehren entsprach. Denn die angegriffenen Bescheide weisen einen Bewilligungszeitraum vom 1.7. bis 31.12.2020 aus und weder der Klageschrift noch dem Sachzusammenhang ist ein Grund für eine solche Beschränkung zu entnehmen. Vielmehr wurde bereits in den ersten beiden Sätzen der Klagebegründung ausgeführt, die Beklagte habe dem Kläger "in dem streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum" Leistungen darlehensweise gewährt, der Kläger begehre "demgegenüber eine zuschussweise Leistungsgewährung". Eine Beschränkung des Begehrens auf einen Teil des Bewilligungszeitraums erfolgte hier nicht. Die vom LSG angenommene Reduktion des "streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum[s]" auf einen durch den angekündigten Antrag bestimmten "streitgegenständlichen Zeitraum" von nur einem Monat entspricht nicht der Definition des "Bewilligungszeitraums", der nach § 41 Abs 3 Satz 1 SGB II in der Regel ein Jahr, in den Fällen des § 41 Abs 3 Satz 2 SGB II regelmäßig noch sechs Monate umfasst. Dementsprechend hat auch der Beklagte mit den angegriffenen Bescheiden Leistungen für sechs Monate gewährt. Schon wegen des Widerspruchs zwischen der im angekündigten Antrag enthaltenen Beschränkung auf Juli 2020 und der den Bewilligungszeitraum insgesamt in Bezug nehmenden Begründung ist das Begehren des Klägers nicht eindeutig und daher der Auslegung zugänglich.

    10

    Unter Einbeziehung auch der weiteren Umstände des Einzelfalls ist der mit der Klageschrift angekündigte Antrag dahingehend auszulegen, dass gerade keine Beschränkung des Klagebegehrens auf das genannte Enddatum "31.07.2020" gewollt war. Hierfür spricht neben der ausdrücklichen Bezugnahme auf den "Bewilligungszeitraum" auch der vorausgegangene Widerspruch vom 9.7.2020, der keine zeitliche Beschränkung enthielt. Ebenso wenig kann eine Beschränkung des Begehrens auf den Monat Juli 2020 zwingend der vom Beklagten hervorgehobenen Formulierung im angekündigten Antrag entnommen werden, wonach die angefochtenen Bescheide lediglich "teilweise" abgeändert werden sollten. Eine solche Formulierung enthielt schon der zeitlich nicht beschränkte Antrag im Parallelverfahren S 69 AS 2158/20. Zudem lässt sich diese Formulierung mit dem mit der (Teil-)Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (vgl BSG vom 27.1.2009 - B 14 AS 42/07 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 12 RdNr 16) verfolgten Ziel erklären, lediglich den Verfügungssatz über die Leistungsbewilligung in Form eines Darlehens aufzuheben und den Beklagten zur zuschussweisen Leistungserbringung zu verpflichten, nicht aber die Leistungsbewilligung dem Grunde und der Höhe nach aufzuheben.

    11

    Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des BSG, wonach bei der Auslegung von Anträgen, die ein Rechtsanwalt oder ein vergleichbar qualifizierter Prozessbevollmächtigter gestellt hat, in der Regel davon auszugehen ist, dass dieser das Gewollte richtig wiedergibt (vgl BSG vom 5.6.2014 - B 10 ÜG 29/13 B - juris RdNr 12; BSG vom 12.12.2019 - B 10 EG 3/19 B - juris RdNr 9). Allein der Umstand einer anwaltlichen Vertretung schließt eine an § 133 BGB orientierte, nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks haftende Auslegung des Begehrens nicht aus, jedenfalls wenn die gewählte Formulierung nicht eindeutig ist (BSG vom 14.12.2006 - B 4 R 19/06 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 3 RdNr 24; BSG vom 23.2.2021 - B 14 AS 261/20 B - juris RdNr 4; Giesbert in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 123 RdNr 20; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 123 RdNr 3), wie es hier bei Einbeziehung des weiteren Inhalts der Klageschrift der Fall ist. Auch in solchen Fällen ist nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung auszulegen (BSG vom 14.6.2018 - B 9 SB 2/16 R - SozR 4-1500 § 92 Nr 4 RdNr 11). Ein Irrtum in Form des geltend gemachten "Tippfehlers" lag hier - wie bereits dargelegt - nahe, zumal sich die Angaben "vom 01.07.2020 bis zum 31.07.2020" und "vom 01.07.2020 bis zum 31.12.2020" bereits optisch nicht stark unterscheiden.

    12

    Auf diesem Verfahrensmangel konnte der Beschluss des LSG auch beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das LSG bei Zugrundelegung der Auffassung des Senats (vgl § 170 Abs 5 SGG) in der Sache zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis kommt.

    13

    Liegen - wie dargestellt - die Voraussetzungen eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

    14

    Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.


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