Präsentismus: weit verbreitet
Gesundheitliche Beschwerden halten viele Beschäftigte nicht davon ab, weiter ihrer Arbeit nachzugehen. Somit kann auch der Verzicht auf Krankmeldungen trotz gesundheitlicher Probleme zu einem Teil zu sinkenden Krankenständen beitragen. Der Fehlzeiten-Report 2021 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hat gezeigt, dass fast jedes Siebte (13,2 Prozent) der befragten AOK-Mitglieder entgegen dem Rat des Arztes krank zur Arbeit gegangen ist. Besonders betroffen ist die Pflegebranche: Unter den Führungskräften in der Pflege sind in den vergangenen zwölf Monaten 36 Prozent krank arbeiten gegangen.
„Präsentismus“ ist somit weit verbreitet und sollte bei der Auswertung des Krankheitsgeschehens im Betrieb mitberücksichtigt werden: Wer die krankheitsbedingte Beeinträchtigung der Arbeit und den damit einhergehenden Produktivitätsverlust erfassen will, darf den Krankenstand nicht als alleinigen Maßstab nehmen. Krankheitsbedingte Abwesenheiten und Präsentismus sind gleichermaßen zu betrachten.
In Zeiten wie der Corona-Krise zeigt sich ein negativer Aspekt des Präsentismus ganz deutlich: Wer krank zur Arbeit geht, bringt immer auch das Risiko der Ansteckung mit an den Arbeitsplatz.
Gerade unter COVID-19 ist daher der Arbeitsschutz anzupassen. Das ist nun in einem neuen Standard erfolgt, den das Bundesministerium für Arbeit im April 2020 veröffentlich hat. Darin sind die geltenden Bestimmungen um strengere Hygiene- und Abstandsregeln ergänzt.
Generell sind sich Experten weitgehend darüber einig, dass ein niedriger beziehungsweise sinkender Krankenstand nicht zwangsläufig bedeutet, dass sich die Gesundheit der Beschäftigten verbessert hat. Ein sinkender Krankenstand kann auch mit einem steigenden Leistungsdruck im Unternehmen einhergehen und ist dann kein gutes Signal.
Ein vielschichtiges Phänomen
Die iga.Fakten 6 haben das vielschichtige Phänomen des Präsentismus unter die Lupe genommen. Die Ursachen sind demzufolge vielfältig:
- Arbeitsbezogen: Dazu zählen hohe Anforderungen an die Arbeitsmenge und -zeit, persönliche Konflikte oder die Übernahme von Führungsaufgaben.
- Personenbezogen: Hohe Arbeitszufriedenheit, die emotionale Bindung an die Organisation und hohes Arbeitsengagement sind Faktoren, die den Präsentismus befördern können.
- Organisationsbezogen: Vorerfahrungen mit Diskriminierung, Angst um den Arbeitsplatz oder eine strikte Anwesenheitspolitik leisten ebenfalls dem Präsentismus Vorschub.
Laut iga.Fakten ist die Forschung aktuell dabei, die Ursache-Wirkungszusammenhänge genauer zu untersuchen. Einige Ergebnisse liegen bereits vor. So besteht nach derzeitigem Forschungstand die beste Prävention von Präsentismus in einer wertschätzenden, sicheren und gesunden Unternehmenskultur. In einer solchen hat die Gesundheit der Mitarbeiter einen hohen Stellenwert und gilt als Voraussetzung dafür, alle weiteren Unternehmensziele zu erreichen. Unternehmen, die das erkannt haben, überprüfen zum Beispiel die Arbeitszeitregelungen, das Gratifikationssystem und auch die Führungsgrundsätze auf ihre langfristigen Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten.
Folgen von Präsentismus
Gesundheitsexperten und die Forschung sind sich darin einig, dass es für die Unternehmen teuer wird, wenn Beschäftigte trotz Krankheit zur Arbeit gehen. Dieses Verhalten kann Folgen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben.
- Denn es führt zu Produktivitätsverlusten, da die betroffenen Mitarbeiter in ihrer Arbeits- und Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind.
- Zudem können sich erkrankungsbedingt auch die Häufigkeit von Fehlern und das Risiko von Arbeitsunfällen erhöhen.
- Präsentismus kann eine spätere, dann unter Umständen umso längere Krankschreibung oder Chronifizierung und Langzeitarbeitsunfähigkeit mit den entsprechenden Kosten zur Folge haben.
- Bei Infektionen wiederum kann es zu einer Ansteckung anderer Mitarbeiter kommen, die dann ihrerseits ausfallen.
Auch wenn noch weitere Forschungsarbeit geleistet werden muss: Alles deutet darauf hin, dass die Kosten für Präsentismus deutlich höher ausfallen als die Kosten für krankheitsbedingte Fehlzeiten. Zu diesem Ergebnis kommt auch ein Beitrag in der Zeitschrift ASU-Zeitschrift für medizinische Prävention. Unter dem Titel „Präsentismus – ein unterschätzter Kostenfaktor“ werden dort deutsche und europäische Studien ausgewertet.
Kulturwandel in den Unternehmen nötig
Der renommierte Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Professor Bernhard Badura, Mitautor des jährlichen Fehlzeiten-Reports des WIdO und der BAuA-Studie, bringt es auf den Punkt: Er fordert eine Abkehr von der Kultur der Unachtsamkeit für Gesundheit. Diese Kultur sei in vielen Unternehmen anzutreffen und beinhalte insbesondere die Auffassungen, dass
- seelische Gesundheit ein Tabu sei,
- wer zur Arbeit erscheint, gesund sei,
- wer fehlt, krank sei,
- Gesundheit im Übrigen Privatsache sei und
- das Topmanagement wenig oder gar nichts über die Gesundheit der Belegschaft wissen müsse.
Vielmehr gelte es, gemeinsam mit den Beschäftigten an betrieblichen Rahmenbedingungen zu arbeiten, um die physische und psychische Gesundheit der Beschäftigten zu stärken und ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten.
Umgang mit Präsentismus
Viele Unternehmen in Deutschland investieren in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Dieses Betriebliche Gesundheitsmanagement zahlt sich unmittelbar für sie aus: Untersuchungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) liefern eindeutige Hinweise darauf, dass Unternehmen, die Betriebliche Gesundheitsförderung betreiben, weniger krankheitsbedingte Personalausfälle haben und deutlich weniger von Präsentismus betroffen sind als Unternehmen, die keine Präventionsmaßnahmen anbieten.
Die WIdO-Experten legen es den Arbeitgebern vor diesem Hintergrund nahe, die Ausrichtung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements zu überdenken: Eine niedrige Arbeitsunfähigkeitsquote ist für sich betrachtet kein positives Ergebnis, da Präsentismus kein gewünschter Effekt ist.