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Psychologie

Neid: Ein Gefühl, das ausbremsen oder antreiben kann

Veröffentlicht am:30.04.2021

5 Minuten Lesedauer

Glück in der Liebe und Erfolg im Beruf: Wenn andere zufriedener und erfolgreicher scheinen als wir selbst, kann Neid in uns hochkochen. Das Vergleichen mit anderen steigert die eigene Unzufriedenheit – dabei können Freundschaften und Beziehungen vergiftet werden. Neid-Forscher Eckehard Pioch erklärt, warum Neid ein zutiefst menschliches Gefühl ist und wie wir von konstruktivem Neid sogar profitieren können.

Ein Mann blickt neidisch zur Seite.

© iStock / fizkes

Eckehard Pioch ist Diplom-Psychologe, niedergelassener Psychoanalytiker, Lehranalytiker und Vorsitzender des Psychoanalytischen Instituts Berlin (PalB). Er forscht zum Thema Neid und hat zusammen mit Ingo Focke und Sylvia Schulze das Buch „Neid. Zwischen Sehnsucht und Zerstörung“ (Klett-Cotta, 2017) herausgegeben.

Kann man Neid definieren?

Herr Pioch: Neid lässt sich nicht den Basisaffekten in der Emotionsforschung zuordnen. Das wären etwa Freude, Wut, Ekel oder Trauer. Für Neid gibt es keine präzise wissenschaftliche Definition, es handelt sich um ein Mischgefühl aus Angst, Wut und Traurigkeit.

Neid lebt vom Vergleich. Wir nehmen wahr, dass der andere etwas besitzt, kann oder ist, was wir auch haben, können oder sein wollen. Neid ist ein wahrgenommener Mangel.

Wer beneidet, ist also unzufrieden?

Ja, da gibt es eine direkte Korrelation zwischen Neid und Unzufriedenheit. Wenn wir einen Mangel erleben, macht uns das unzufrieden. Wobei dieses Mangelerleben rein subjektiv ist. Jemand, der große materielle Güter besitzt, kann trotzdem neidisch sein auf Menschen, die noch mehr Besitz angehäuft haben als er selbst.

Eine Frau blickt neidisch in die Kamera.

© iStock / izusek

Auf was sind Menschen neidisch?

Je nach Person können es die unterschiedlichsten Dinge sein, auf die wir neidisch sind. Etwa Status, Fähigkeiten oder Beziehungen. Wir sind dann neidisch, wenn wir etwas als besonders begehrenswert erfahren. Das, was die andere Person hat, muss für uns ein relevantes, bedeutsames Gut sein. Wenn ich persönlich zum Beispiel nur wenig leistungsorientiert bin, werde ich die berufliche oder sportliche Karriere eines Freundes eher mit Gleichmut hinnehmen – sie wird bei mir keinen Neid auslösen.

In einer Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung gaben die Teilnehmenden an, vor allem auf finanzielle Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit neidisch zu sein

Das sind natürlich hohe Güter in unserer Gesellschaft. Es gibt Menschen, die sehr materiell eingestellt sind. Mit dem Reichtum sind ja auch Handlungsfähigkeiten verbunden, ich kann zum Beispiel verreisen. Hinter dem Neid auf Reichtum kann aber auch der Wunsch nach Anerkennung stehen, den Menschen von ihrem Umfeld erfahren, wenn sie einen gewissen Status erreicht haben. Auf was wir neidisch sind, hängt immer auch von unserem sozialen Kontext ab: Ist etwa Reichtum unter den Menschen, mit denen wir uns umgeben, anerkannt oder verpönt?

Kann es auch sein, dass Menschen sich schämen, offen zuzugeben, auf was sie wirklich neidisch sind, wie etwa auf glückliche Liebesbeziehungen?

Das ist durchaus möglich, denn Neid ist ganz eng mit Scham verbunden. Niemand zeigt sich gerne mangelbehaftet. Deswegen gesteht man seinen Neid, etwa auf eine Liebesbeziehung, ungerne in der Öffentlichkeit ein, und womöglich auch nicht sich selbst gegenüber.

Beneiden Männer anders als Frauen?

Aus meiner Erfahrung in meiner psychoanalytischen Praxis kann ich sagen, dass Männer eher neidisch sind auf materielle Güter und Leistungsfähigkeit, bei Frauen sind es eher Beziehungsaspekte. Aber natürlich lässt sich das nicht pauschalisieren.

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Hat sich der Neid durch die sozialen Medien verstärkt?

Durch die sozialen Medien sind die Vergleichsmöglichkeiten ins Unendliche gestiegen. Wenn wir viel Zeit auf den Plattformen verbringen, haben wir mehr Gelegenheit zu Neid als das offline der Fall ist. Wir sind permanent mit Urlaubsreisen in exotische Länder, spannenden Jobs, aufregenden Freizeitbeschäftigungen, perfekten Körpern oder mit Menschen konfrontiert, die unzählige virtuelle Freunde und Likes sammeln. Dadurch kann natürlich Neid und Unzufriedenheit entstehen.

Auch Neidäußerungen anderer sind deutlich wahrnehmbarer als früher, weil jeder in sozialen Netzwerken die Möglichkeit hat, sich zu äußern. Neid hat es aber schon immer gegeben und wird es immer geben, es ist ein urmenschliches Gefühl.

Wann empfindet der Mensch das erste Mal Neid?

Wir haben ab der Geburt Neidgefühle. Das beginnt mit der Beziehung zu unserer wichtigsten Bezugsperson, meist ist das unsere Mutter. Als neugeborenes Baby erfahren wir Spannungs- und Affektzustände, die wir nur mit ihrer Hilfe auflösen können. Egal ob Hunger oder Wut, unsere Mutter entwickelt die Fähigkeit, unseren Zustand zu erahnen und uns beizustehen. Im Laufe des ersten Lebensjahrs beginnt der Säugling zu realisieren, wer er selbst ist, wer andere sind und wie abhängig er von seiner Bezugsperson ist. Er stellt fest, dass seine Bezugsperson etwas hat, dass er ganz dringend braucht, aber selbst noch nicht hat. In die Liebe zur Mutter mischt sich Neid. Am Anfang ist Neid immer eine Liebesgeschichte, eine Bewunderungsgeschichte.

Neid ist also genetisch in jedem angelegt. Bringt er dem Menschen einen Überlebensvorteil?

Absolut, Neid ist, wenn er konstruktiv ist, eine unglaubliche Kraftquelle. Er hat die Menschheit in ihrer Entwicklung vorangebracht. Wenn wir sehen, dass jemand anderes etwas hat, das uns fehlt, kann uns das inspirieren, motivieren, unsere Energien mobilisieren. Wir können durch Neid eine Veränderung bei uns selbst, aber auch eine gesellschaftliche Veränderung bewirken. Deswegen sollte Neid auf keinen Fall tabuisiert oder dämonisiert werden.

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Es gibt aber auch destruktiven Neid?

Genau, man unterscheidet zwischen destruktivem und konstruktivem oder auch schwarzem und weißem Neid. Der weiße Neid mobilisiert Kräfte, der schwarze zielt darauf ab, den anderen zu vernichten. Im schlechtesten Fall kann Neid Freundschaften und Beziehungen vergiften. Der Neid kippt ins Destruktive, wenn wir ihn nicht anerkennen und beginnen, die beneidete Person klein zu machen oder sogar versuchen, ihr Steine in den Weg zu legen. An dieser Stelle sollten wir achtsam sein und unseren Neid in konstruktive Bahnen leiten.

Wie schafft man es, Neid konstruktiv zu nutzen?

Indem wir bewusst mit Neid umgehen, ihn anerkennen. Wenn ich etwa eine Freundin oder einen Freund beneide, kann ich das offen aussprechen. Damit vertiefe ich sogar die Beziehung zu der beneideten Person. Und ich nutze meinen Neid als Mittel zur Selbsterkenntnis. Er zeigt mir, was mir wichtig ist. Ich kann also hinterfragen: Warum bin ich auf diese Person neidisch, was ist es, das ich auch haben will? Wenn ich mir das bewusst mache, steckt in meinem Neid das Potenzial mich weiterzuentwickeln.

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Natürlich kommt es auch darauf an, auf was ich neidisch bin – nicht immer lässt sich Neid konstruktiv nutzen. Manchmal geht es einfach nur darum, anzuerkennen, dass Neid ein zutiefst menschliches Gefühl ist, für das ich mich nicht schämen muss. Das betrifft etwa in der Corona-Pandemie-Situation den Neid auf Personen, die bereits geimpft wurden. Durch die Bedrohung der eigenen Gesundheit ist das beneidete Gut besonders kostbar. Es ist völlig verständlich, dass die 45-Jährige chronisch Kranke den 80-jährigen vitalen Rentner um die erhaltene Impfung beneidet. Für dieses Gefühl sollte man sich auf keinen Fall verurteilen. Es hilft anzuerkennen, dass der eigene Neid berechtigt und menschlich ist.


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