#Betroffenengeschichte am 16.06.2022

Anorexie: Wie sich die Magersucht in Nathalie Webers Leben schlich

Rote Tomate auf einem weißen Essteller.
iStock / a_crotty

Wer an Magersucht, auch Anorexie genannt, leidet, verliert das Verlangen nach Nahrung. Betroffene fürchten sich davor, die Kontrolle über das Essen oder ihr Gewicht zu verlieren. Wir sprechen mit der Betroffenen Nathalie Weber, die ein „Mutmachbuch“ über ihre Essstörung geschrieben hat.

Während nur zwei von 1.000 Jungen im Laufe ihres Lebens an Anorexie erkranken, sind es laut einer internationalen Studie 14 von 1.000 Mädchen. Nathalie Weber (28) aus Gundelfingen ist eine von ihnen. Als Jugendliche erkrankte sie an Anorexie. Der Alltag der damals 13-Jährigen war nicht wie der der meisten Jugendlichen – stattdessen war er vollkommen bestimmt von Gedanken zu Essen und Nicht-Essen. Inzwischen hat sie ein Buch über ihre Geschichte veröffentlicht. Mit „Folge dem Kompass deines Herzens: Mein Weg aus der Essstörung“ möchte sie Betroffenen Mut machen. Im Interview erzählt die junge Autorin, inwiefern Anorexie viel mehr als eine körperliche Erkrankung ist, was ihr die Therapie gebracht hat und welche Ratschläge sie Betroffenen gibt.

Nathalie Weber hat ein Buch über ihre Anorexie-Erkrankung geschrieben, das Betroffenen helfen soll.
Nathalie Weber

Sie sind als Jugendliche an Magersucht erkrankt. Was war der Auslöser für die Erkrankung?

Ich wollte in eine Röhrenjeans passen. Zwar war ich normalgewichtig, aber ein bisschen pummeliger als andere. Auch hat mir ein Klassenkamerad gesagt, dass ich dick sei. Diese zwei Punkte waren der Auslöser für eine Diät, durch die ich mit 13 unbemerkt in die Anorexie rutschte. Zuerst verzichtete ich auf Süßigkeiten, dann aß ich nur noch eine warme Mahlzeit am Tag, meistens Kartoffeln und Gemüse. Das Frühstück fiel stets aus, mittags gab es eine Scheibe Knäckebrot mit ein bisschen Frischkäse, abends dann Joghurt und etwas Obst. Wenn eine Feier anstand, plante ich schon Tage zuvor, wie ich eine erhöhte Kalorienzufuhr wieder ausgleichen könnte. Die innere Stimme meiner Essstörung verbot mir viele Lebensmittel, darunter Nudeln und Reis. Insgesamt nahm ich in dieser Zeit 20 Kilo ab – und war sehr untergewichtig.

Anorexie ist leider noch viel mehr als eine körperliche Erkrankung. Betroffene haben unter anderem große Selbstzweifel und Kontrollzwänge. Wie war das bei Ihnen?

Mein Alltag war bestimmt von Gedanken rund um Essen und Gewicht. Im Laufe der Essstörung entwickelten sich viele Zwänge: Ich musste mich mehrmals täglich wiegen, zu festgelegten Uhrzeiten essen, fünf Mal täglich zu bestimmten Uhrzeiten Dehnübungen machen, täglich Seilspringen und jeden Tag die gleiche Fahrradrunde machen – egal bei welchem Wetter. Dazu kam, dass ich mit großen Selbstzweifeln und einem geringen Selbstbewusstsein zu kämpfen hatte.

Wie ist Ihr Umfeld mit Ihnen umgegangen?

Zu Beginn sprachen Familie, Freunde und Lehrer mich darauf an, dass ich stark abgenommen hatte und nicht mehr so fröhlich war wie früher. Meine Mama begleitete mich zum Arzt. Doch ich blockte alles ab, weil mir nicht klar war, dass ich krank bin. Von meinen Freunden habe ich mich entfernt – durch meine Kontrollzwänge blieb keine Zeit mehr für soziale Kontakte. Mein Leben war bestimmt von meiner Krankheit, den Rest nahm die Schule ein.

Gab es einen Moment, in dem Sie sich Ihrer Krankheit bewusst geworden sind?

Ungefähr zweieinhalb Jahre nachdem ich mit meiner Diät angefangen hatte, wurde mir klar, dass ich krank bin. Ich wollte wieder gesund werden, war allerdings in einem Teufelskreis, aus dem ich nur schwer wieder herauskam. Mit 17 entschied ich, in eine Klinik zu gehen. Das war ein sehr wichtiger Schritt auf meinem Heilungsweg.

Wie war der Alltag in der Klinik für Anorexie?

Elf Wochen lang war ich in der Klinik, in der es einen festen Stundenplan gab. Drei Mal am Tag gab es feste Mahlzeiten im Speisesaal. Zusätzlich bot die Klinik verschiedene Therapieformen an:  Einzel- und Gruppengespräche, Kunsttherapie, Bewegungstherapie, Ergotherapie. Es wurde zum Beispiel Boxen, Klettern und Bogenschießen angeboten. Das Selbstbewusstsein der Jugendlichen sollte dadurch gestärkt werden.

Was hat Ihnen die Therapie gegen die Anorexie gebracht?

Ich kam aus meinem gewohnten Umfeld, das von Zwängen und Einschränkungen geprägt war, raus. Das legte einen Schalter in meinem Kopf um. Was nicht heißt, dass es von da an einfach war – es war schwer, sich den ganzen Veränderungen zu stellen. Doch ich lernte in dieser Zeit, was die Ursachen für meine Anorexie sind und wie ich mich davon lösen kann. Mir wurde außerdem klar, wie schön das Leben sein kann und dass es so viel mehr zu bieten hat als die Essstörung.

Essstörung: Hier findest du Hilfe

Wer an einer Essstörung leidet oder jemanden kennt, der betroffen ist, ist nicht auf sich allein gestellt. Es gibt viele Anlaufstellen, die Hilfe leisten:

  • Um eine Essstörung zu bewältigen, kann der Besuch einer Selbsthilfegruppe insbesondere durch den Austausch mit anderen Betroffenen hilfreich sein. Es gibt spezielle Gruppen für Bulimie, Magersucht und die Binge-Eating-Störung.
  • Es kann helfen, über seine Gedanken rund um Essen und Nicht-Essen mit jemandem zu sprechen, der die Situation von außen betrachtet. Die „Nummer gegen Kummer“ ist anonym und kostenlos. Speziell ausgebildete Beratende nehmen sich Zeit und hören zu.
  • Wer an Anorexie leidet, sollte sich in Therapie begeben. Hierzulande gibt es zahlreiche spezialisierte Kliniken, die Betroffene auf ihrem Heilungsweg begleiten.

Jedes Jahr erkranken viele Jugendliche an Magersucht. Was muss sich Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft ändern?

Die Gesellschaft muss sich gegenüber verschiedenen Themen mehr öffnen. Dazu gehört unter anderem, Menschen nicht für ihre Probleme zu verurteilen, sondern zu akzeptieren: Jedes Problem hat seine Berechtigung. Auch Essstörungen entstehen häufig aufgrund von persönlichen Schwierigkeiten, für die sich Menschen schämen und über die sie sich nicht zu sprechen trauen. Wenn die Gesellschaft aber sagt: „Du darfst so sein, wie du bist“ und „Hier ist Platz für deine Probleme“, dann können diese auch besser verarbeitet werden, anstatt in einer Essstörung zu enden.

Gerade über die Sozialen Medien wird ein bestimmtes Schönheitsbild verbreitet. Wie stehen Sie dazu?

Ich halte gar nichts von diesen Schönheitsbildern und finde es schlimm, dass es solche Ideale gibt. Von Natur aus hat jeder andere Gene und jeder Körper sieht anders aus. Es wäre langweilig, wenn wir alle die gleichen Gene hätten. Definitiv sehe ich eine Gefahr durch diese Schönheitsbilder, denke aber, dass diese in den seltensten Fällen die Ursache für die Essstörung sind. Allerdings können sie ein Auslöser dahingehend sein, dass man alles dafür tut, um abzunehmen.

Was sind dann die häufigsten Ursachen für eine Essstörung?

Ich glaube, dass Frauen sich mehr Gedanken als Männer machen und könnte mir vorstellen, dass es dadurch eher zu Selbstzweifeln und zu einem geringen Selbstbewusstsein kommt. Außerdem nehme ich Mädchen und Frauen oft als emotionaler und sensibler wahr.

Wie ist Ihre Beziehung zu Essen und Sport heute?

Essen hat keine besondere Bedeutung mehr, es gehört einfach zum Leben dazu. Ich esse gerne und das komplett ohne Verbote. Seit acht Jahren nehme ich nur noch das zu mir, worauf ich Lust habe, und höre auf meinen Körper. Ich mache gerne Sport, gehe ab und zu laufen. Im Moment habe ich wenig Zeit für Sport, aber kein schlechtes Gewissen dabei.

Haben Sie Angst, wieder rückfällig zu werden?

Nein, gar nicht. Seit 2014 bin ich komplett geheilt und habe gelernt, mit schwierigen Situationen umzugehen, ohne in die Essstörung zu fliehen.

In Ihrem Fall wurde aus einer Diät eine Essstörung. Wie stehen Sie heute zum Thema Diät?

Ich finde, dass Diäten großer Schwachsinn sind. Ich werde nie wieder eine Diät machen. Nicht umsonst haben wir ein Hunger- und Sättigungsgefühl. Ich höre auf meinen Körper: Mal habe ich Lust auf Obst und Vollkornbrot, mal auf Süßigkeiten oder Pizza – und das ist völlig okay. Niemandem würde ich empfehlen, eine Diät zu machen, weil das mit Verboten zusammenhängt. Und Verbote machen den Reiz viel größer.

Jetzt haben Sie ein Buch über Ihre Geschichte veröffentlicht. Was hoffen Sie, was Betroffene aus Ihrer Geschichte lernen können?

Es gibt einen Weg heraus aus der Krankheit und es ist möglich, wieder komplett gesund zu werden, so wie ich seit acht Jahren ohne jegliche Gedanken an die Krankheit lebe.

Außerdem ist es wichtig, sich auf die Therapie einzulassen, denn nur so kann es besser werden. Auch wenn der Weg durch die Therapie schwierig ist, lohnt es sich, weil das Leben viele großartige Dinge zu bieten hat, wenn man sich nicht den ganzen Tag mit seiner Essstörung beschäftigt. Man sollte nicht aufgeben, auch wenn man nicht nur Schritte vor-, sondern auch zurückgeht, denn leider wird man nicht von heute auf morgen gesund.

So findest du einen Therapeuten

Wenn du therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen möchtest, ist die erste Anlaufstelle ein Haus- oder Facharzt. Dieser kann nach Feststellung einer psychischen Erkrankung zu einem psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten überweisen. Anschließend führt folgender Weg zu einer ambulanten Psychotherapie:

  • Über beispielsweise die Webseiten der Kassenärztlichen Vereinigung oder die Bundestherapeutenkammer kannst du dir einen Psychotherapeuten suchen.
  • Bei diesem Psychotherapeuten kannst du bis zu vier Probesitzungen in Anspruch nehmen, bevor die tatsächliche Therapie startet. In diesen Sitzungen kannst du Fragen klären und mit dem Therapeuten eine Diagnose oder einen Behandlungsplan besprechen. Außerdem findest du so heraus, ob du dich in der Atmosphäre wohlfühlst.
  • Sobald der Weg der Behandlung und die voraussichtliche Dauer der Therapie besprochen sind, beantragen du und der Psychotherapeut die Kostenübernahme bei der Krankenkasse.

Wenn akute Gesundheitsgefahr besteht, kann ein stationärer Klinikaufenthalt nötig sein. Weitere Informationen dazu findest du bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

 

Wie sollte man Menschen im Familien- und Freundeskreis begegnen, die an einer Essstörung leiden?

Ein ehrliches „Wie geht’s dir?“ unter vier Augen in einer ruhigen Umgebung kann helfen. Wichtig ist, das Thema sensibel anzusprechen. Wenn jemand mir damals gesagt hat, dass ich abgenommen habe und traurig aussehe, hat das eine Blockade in mir errichtet.

Wie geht es Ihnen generell heute? Wie sieht Ihr Lebensalltag aus?

Ich bin seit fünf Jahren verheiratet, habe ein Kind, das zweite kommt im September. Nach meiner Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin studierte ich Management und Gesundheitswesen. Eine Zeit lang arbeitete ich in der Leitung des ambulanten Kinderpflegeintensivdiensts. Mein Alltag ist durch meine Familie und Treffen mit Freunden geprägt – wie ein ganz normaler Alltag.

Was würden Sie Ihrem jüngeren Ich jetzt sagen?

Drei Dinge würde ich meinem jüngeren Ich auf den Weg geben: Erstens hat nicht alles, was andere tun, etwas mit einem selbst zu tun. Zweitens darf man Gefühle zulassen und sollte sie nicht unterdrücken. Drittens ist es okay, nicht immer über alles die Kontrolle zu haben.

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